Kupfer - das rote Gold der Digitalisierung

Lange schwankte der Kupferpreis an den Märkten nur unwesentlich und spielte für Investoren keine große Rolle. Das scheint sich gerade zu ändern. Seit April kratzt das rote Metall hartnäckig an der Marke von 10.000 US-Dollar pro Tonne. Bis dahin hatte es eine verlässliche Korrelation von globalem Wirtschaftswachstum und Kupfernachfrage gegeben. Doch jetzt steigt die Nachfrage trotz weltweit schwächelnder Wachstumsdaten ganz erheblich.

Der Preis für den wichtigen Rohstoff an der London Metal Exchange stieg zum 1. Mai um bis zu 1,7 Prozent auf 10.033,50 Dollar pro Tonne. Damit war er so teuer wie seit April 2022 nicht mehr. "Indexfonds und börsengehandelte Fonds schieben das Geld von Privatkunden in den Metallmarkt", erläuterte Sandeep Daga vom Analysehauses Metal Intelligence Centre der Nachrichtenagentur Reuters.

Wofür Kupfer gebraucht wird

Wenn man die Energieerzeugung vom Verbrauch fossiler Brennstoffe entkoppeln will, geht das nur über eine Elektrifizierung der Wirtschaft - und für die ist das rote Metall unverzichtbar: "Kupfer ist aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften - vor allem seiner elektrischen Leitfähigkeit - der wichtigste Rohstoff für die Energiewende", so Joachim Berlebach von Earth Resource Investments in Zürich der DW. "Wollen wir wirklich raus aus den fossilen Brennstoffen, bräuchten wir in den nächsten drei Jahrzehnten etwa die gleiche Kupfermenge wie in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte."

Michael Widmer, Rohstoffstratege bei der Bank of America (BofA), wies in der Zeitung Handelsblatt ebenfalls auf die Dekarbonisierung der Wirtschaft als Hauptgrund für den Preisanstieg hin: "Kupfer wird in nahezu jeder Branche verwendet und gilt deshalb als Konjunkturindikator."

Drohnenaufnahme: Besichtigung einer Windkraftanlage |
Besichtigung einer Windkraftanlage: Ohne Kupferspulen dreht sich kein Windrad ...null Jens Büttner/dpa/picture alliance

Es gibt nicht genügend Kupferminen

Doch nicht nur die Nachfrage steigt, das Angebot stagniert oder sinkt sogar, was die Preise ebenfalls in die Höhe treibt. Rohstoffexperte Berlebach wundert das nicht: "Aufgrund der fehlenden Investitionen in neue Minen über die letzten zehn Jahre, gibt es nicht genug Kupferminen."

Fehlende Investitionen beklagt auch der BofA-Analyst. Anhand der Daten, die die Internationale Energieagentur (IEA) erhoben hat, so Widmer, "können wir schätzen, wie hoch die jährliche Kupfernachfrage bis 2050 sein wird. Dann können wir berechnen, wie viel wir in neue Minen investieren müssen: mindestens 127 Milliarden Dollar pro Jahr. Im vergangenen Jahr waren es aber nur 104 Milliarden Dollar. Seit 2012 sind die Investitionen immer weiter gesunken."

E-Auto an Ladesäule
... und fährt kein Elektroautonull Christian Charisius/dpa/picture alliance

Neue Minen stoßen oft auf Widerstand

Doch damit nicht genug, ist das Problem auch nicht schnell zu lösen, sagt Berlebach: "Selbst wenn der Kupferpreis weiter steigen würde, könnte die Produktion nicht schnell hochgefahren werden, da es vom ersten Bohrloch bis zur Produktion bis zu 15 Jahre dauert. Aufgrund der fallenden Erzgehalte müssen die neuen Minen auch grösser konzipiert werden."

Neue Minen aber, so Michael Widmer, stießen oft auf Widerstand, denn "der Abbau von Kupfer belastet die Umwelt." Dem Handelsblatt gegenüber weist er auf ein Beispiel aus Zentralamerika hin: Im vergangenen Jahr habe das Bergbauunternehmen First Quantum die größte Kupfermine des Landes schließen müssen: "Zunächst gab es nur einen Konflikt zwischen der Regierung und First Quantum. Dann kamen die Proteste der lokalen Bevölkerung dazu. Letztlich hat die Regierung die Mine geschlossen und gesagt, dass sie auch nicht mehr an den Markt kommen wird."

Proteste gegen Berbauvertrag in Panama-Stadt, November 2023
So kann's kommen: In Panama wurde wegen vielfältiger Proteste eine Kupfermine geschlossennull Aris Martinez/REUTERS

Kupfergewinnung in Deutschland lohnt sich nicht 

Wenn es um Erze oder Metalle geht, ist immer wieder der Hinweis zu hören, diesen oder jenen Rohstoff gäbe es ja auch hier, man müsse ihn nur ans Tageslicht holen. Joachim Berlebach sieht das nicht so. Kupfergewinnung in Deutschland sei unwirtschaftlich, vergleichsweise unergiebig und "nur theoretisch" möglich.

"Bergbau in großem Maße ist in Deutschland wegen fehlender großer Lagerstätten und lange dauernden bürokratischen Prozessen meines Erachtens nicht möglich. Wir sind von den Lagerstätten in Südamerika oder im Kongo abhängig." Seine Antwort auf unsere Frage, ob Deutschland seine Importabhängigkeit beim Kupfer lösen könnte, beantwortet er daher knapp und eindeutig: "Nein!"

Und auf Kupfer, wo auch immer es herkommt, könne man nicht verzichten: "Sie können zwar Aluminium für Überlandleitungen benutzen, aber sobald sie eine Spule benötigen, wie in einer Windturbine oder einem E-Auto, kommen sie an Kupfer nicht vorbei. Aluminium hat nur etwa 65 Prozent der Leitfähigkeit von Kupfer, die Kabel werden zu dick."

Das hohen Kupferpreise bleibt erstmal

Bank-of-America-Analyst Michael Widmer hält das hohe Preisniveau für dauerhaft. "Natürlich kann es zu kurzfristigen Korrekturen kommen, aber langfristig sehe ich steigende Preise", so Widmer im Handelsblatt. Das Metall stehe vor einem wohl lang anhaltendem  sogenannten "Superzyklus".

Auch Joachim Berlebach rechnet nicht mit sinkenden Preisen: "Aktuell weisen die Future Markets auf steigende Preise hin. Die Engpässe bei den Minenbetreibern sind auf Rekordhoch." Gleichzeitig steckten die Kosten die Aufbereitung und Weiterverarbeitung des Metalls "auf einem Rekordtiefpunkt".

Gleichzeitig gibt es aber auch Meldungen wie diese: Die norwegische Regierung bereitet den Beginn des Tiefseebergbaus vor der Küste des Landes vor. Schon Anfang 2023 hatte die zuständige Offshore-Behörde berichtet, in norwegischen Gewässern befänden sich "beachtliche Mengen an Bodenschätzen". Nicht nur Zink und Kobalt, sondern auch Kupfer. Doch dass dies den aktuellen Hunger nach dem roten Gold stillen kann, scheint ausgeschlossen. 

Öl, Kupfer und Gold immer teurer: Was ist da los?

Das 159-Liter Fass sorgt mal wieder für Aufsehen. Gemeint ist das Barrel Öl, das auf dem Weltmarkt für Rohöl gemeinhin als Maßeinheit dient. Lag der Preis für ein Barrel Rohöl der Nordseesorte Brent zum Jahresbeginn noch bei etwas über 70 US-Dollar, kratzt er mittlerweile an der 90 Dollar-Marke - ein Plus von über 20 Prozent. Den Preisanstieg spüren auch Millionen von Autofahrerinnen und Autofahrern an der Tankstelle. Benzin verteuerte sich seit Jahresbeginn um rund 10 Cent pro Liter - Tendenz steigend.

Aktuell komme einiges zusammen, erklärt Carsten Frisch, Rohstoffanalyst bei der Commerzbank: "Der Preisanstieg bei Rohöl wird durch eine Mischung aus Konjunkturoptimismus, einem knapperen Ölangebot und den anhaltenden Spannungen im Mittleren Osten getrieben."

Zwei Kriege treiben Ölpreis

Insbesondere die Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten haben dazu beigetragen, dass die Ölpreise gestiegen sind. Zuletzt wurden beispielsweise bei einem mutmaßlich israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Syrien sieben Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden getötet. Vorfälle wie diese zeigen auf, wie schnell es zu einer Eskalation des Konflikts in der Region kommen könnte - und schüren damit Sorgen über die Ölversorgung. Das verunsichert die Marktteilnehmer. "Dazu kam es zuletzt vermehrt zu ukrainischen Drohnenangriffen auf Ölraffinerien in Russland", ergänzt Carsten Fritsch.

Brennende Anlagen in einer russischen Öl-Raffinerie in Ryazan nach einem ukrainischen Drohnenangriff
Brennende Anlagen in einer russischen Öl-Raffinerie in Ryazan nach einem ukrainischen Drohnenangriffnull Video Obtained By Reuters/via REUTERS

Linda Yu von der DZ-Bank sieht ebenfalls die geopolitischen Spannungen als einen der Haupttreiber für die Preisentwicklung beim Rohöl: "Zudem sollten sich die aktuell nach wie vor gedämpfte Nachfrage und die schwächelnde Konjunktur in China und Europa erholen", so die Rohstoffanalystin im Gespräch mit der DW. Die Aussicht auf einen weltweiten konjunkturellen Aufschwung und eine damit verbundene steigende Nachfrage nach Öl treibt also den Preis für das schwarze Gold nach oben.

Kupfer und Gold glänzen

Generell haben Rohstoffpreise, darunter auch Kupfer und Gold, in jüngster Zeit auf breiter Front zugelegt. So stieg der Preis für die Feinunze Gold zuletzt beispielsweise auf über 2300 US-Dollar - ein absoluter Höchststand. Laut Carsten Fritsch von der Commerzbank kann man aktuell gar von einer "Rohstoff-Rallye" sprechen. Die Gründe für den Preisanstieg - von Öl bis zum Gold - würden sich allesamt ähneln: "Zumeist sind es Anzeichen für eine anziehende Nachfrage - gepaart mit Nachrichten eines eingeschränkten Angebots."

Der Preis für das wichtige Industriemetall Kupfer wird im Moment auch durch Spekulationen rund um eine Zinssenkung der US-Notenbank getrieben. Das schwächt wiederum den US-Dollar - und das macht in Dollar gehandelte Rohstoffe wie eben Kupfer für Anleger in anderen Währungsräumen billiger, das erhöht die Nachfrage und somit den Preis. 

Kupferkonzern Aurubis AG in Hamburg
Kupfer ist ein wichtiger Rohstoff für die Industrie - hier beim Kupferkonzern Aurubis in Hamburgnull Bodo Marks/dpa/picture alliance

Beim Gold - in der Regel der sichere Hafen für Anleger in Krisensituationen - hingegen rätseln Anleger wie Marktbeobachter allerdings über die Gründe des Preisanstiegs. Mancher vermutet auch hier einen Zusammenhang mit der erhofften Zinssenkung. Allerdings verweist das World Gold Council auch auf das derzeit große Interesse von verschiedenen Notenbanken. Diese hätten zuletzt ihre Käufe von Gold "auf höchstem Niveau fortgesetzt". Erwähnt werden die Zentralbanken von China, aber auch Polen, Tschechien, Indien, Singapur und Libyen. Also auch hier: Höhere Nachfrage treibt den Preis.

OPEC: Keine Förderbeschränkungen geplant

Im Falle des Erdöls kommt ein besonderer angebotseinschränkender Faktor hinzu: Die OPEC. Die Organisation erdölexportierender Länder hat bereits vor einigen Monaten die Produktion eingeschränkt. Mitte dieser Woche verkündete sie, keine Änderungen an dieser Förderpolitik vorzunehmen. Auch das dürfte dazu beitragen, die globalen Märkte in den nächsten Monaten angespannt zu halten - und den Preis für Rohöl womöglich weiter in die Höhe zu treiben. Zudem hat der Irak nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg im März mehr Öl als vereinbart gefördert und auch die russischen Rohölexporte sind gestiegen. Linda Yu von der DZ-Bank rechnet auf Jahressicht mit einer weiter steigenden Tendenz beim Ölpreis von bis zu 95 US-Dollar je Barrel.

Logo der OPEC am Hauptquartier der Organisation in Wien
Die OPEC will an den derzeit geltenden Fördermengen vorerst nichts ändern. null Lisa Leutner/AP/picture alliance

Für Autofahrerinnen und Autofahrer sind diese Nachrichten rund um das 159-Liter Fass keine guten - zumindest nicht für diejenigen, die einen Verbrenner-PKW nutzen. Die Ölpreisentwicklung hat nämlich direkt spürbare Auswirkungen an der Tankstelle. Da die Preise für Benzin und Diesel eng mit den Rohölpreisen korrelieren, führen steigende Ölpreise zu höheren Kraftstoffpreisen. Verbraucher müssen somit tiefer in die Tasche greifen, wenn sie ihr Verbrenner-Auto auftanken wollen. Darauf verweist auch eine aktuelle Auswertung des Automobilclubs ADAC zur Entwicklung der Kraftstoffpreise im März. Demnach ist der Liter Super E10 drei Wochen in Folge im Preis gestiegen und lag im Monatsmittel bei 1,787 Euro.

Der Dieselpreis veränderte sich dagegen kaum. Dass Diesel von den Preissteigerungen weniger stark betroffen ist, dürfte dem ADAC zufolge am bevorstehenden Ende der Heizperiode liegen - dann sinkt nämlich die Nachfrage nach dem Diesel sehr ähnlichen Heizöl.

Deutschlands Problem mit den Seltenen Erden

Zu den wichtigen nach Deutschland eingeführten Rohstoffen zählen Kupfer, Lithium und Seltene Erden. Zu diesen, auch als Seltene Erdelemente (SEE) bezeichneten Metallen, gehören Scandium, Cer, Promethium, Terbium und Thulium sowie zwölf weitere Elemente. Sie kommen gar nicht so selten vor (das seltenste, Thulium, gibt es häufiger als etwa Gold), sie sind nur selten in Mengen zu finden, dass sich ihr Abbau wirtschaftlich lohnt.

Eine in der vergangenen Woche erschienene Studie des Beratungsunternehmens IW Consult und des Forschungsinstituts Fraunhofer ISI im Auftrag von KfW Research (eine Tochter der bundeseigenen KfW Bank) beleuchtet den Import und untersucht seine Bedeutung für Wertschöpfung und Beschäftigung. Sie nimmt die mineralischen Rohstoffe Kupfer, Lithium und die SEE-Gruppe unter die Lupe, weil sie entscheidend sind für Schlüssel- und Zukunftstechnologien.

Rundbarren aus Kupfer im Lager der Aurubis AG,  Hamburg
Das Kupfer, das hier (bei der Firma Aurubis in Hamburg) verarbeitet wird, muss importiert werdennull Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

Anbieter mit großer Marktmacht

Laut Studie hängt fast ein Drittel der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe von der Produktion kupferhaltiger Waren ab. Ein Zehntel der Wertschöpfung entfällt auf die Herstellung lithiumhaltiger Güter und 22 Prozent auf Waren mit Anteilen von SEE. Besonders abhängig: Autobauer und ihre Zulieferer sowie die Hersteller von elektrischen, elektronischen und optischen Waren.

Zur Abhängigkeit von Importen kommt die Tatsache, dass der Rohstoffmarkt von nur wenigen Anbietern beherrscht wird, die eine große Marktmacht haben. Die größten Vorkommen Seltener Erden gibt es in China. Lagerstätten in Grönland, Kanada und Schweden sind noch nicht ausreichend untersucht und daher nicht quantifizierbar.

Fast ein Drittel der lithiumhaltigen Importe Deutschlands und 19 Prozent bei Kupfer und Seltenen Erden gelten als risikobehaftet. Bei Lithium und den Seltenen Erden hätten die größten drei Anbieter einen Marktanteil von über 80 Prozent. Besonders wichtig für den deutschen Markt: Russland bei Kupfermetallen und Chile bei Lithiumkarbonat, das zu 72 Prozent  von dort kommt. Bei den Importen Seltener Erden bestehe noch für längere Zeit eine hohe Abhängigkeit von China, das 84 Prozent der SEE-Importe liefert.

Schlimmer als bei russischem Gas               

Diese Abhängigkeit beobachtet auch Matthias Wachter, Abteilungsleiter beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Der DW sagte er: "Die Abhängigkeit bei vielen nichtenergetischen Rohstoffen aus China ist bereits heute größer als sie bei Gas aus Russland war." Der Import etwa von Bergwerks-, Raffinade- und Handelsprodukten sei mit "der höchsten Risikostufe" behaftet. Riskant sei dabei "weniger die physische Verfügbarkeit der Rohstoffe, sondern deren Konzentration bei der Exploration und insbesondere Weiterverarbeitung in China. Das macht anfällig und erpressbar. Mit den Exportkontrollen für einige SEE hat China bereits gezeigt, dass es an den entsprechenden Stellschrauben drehen kann."

Cornelius Bähr, Senoir Consultant beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (dessen Tochter IW Consult gehört zu den Verfassern der Studie), wies gegenüber DW auf jene Rohstoffe hin, die absehbar immer mehr nachgefragt werden: "Etwa Lithium für die Produktion von Batterien." Dabei bestätigt er auch die Befürchtung von Matthias Wachter: "Ein weiterer Risikofaktor ist eine hohe Konzentration auf einzelne Länder, wenn diese gleichzeitig mit strategischen Handelsbeschränkungen drohen - zum Beispiel Gallium, Germanium oder Graphit, die vor allem aus China importiert werden."

Noch, so Wachter, lägen die Ausfälle von Lieferungen "nicht auf einem kritischen Niveau". Doch von zuverlässigen Lieferketten könne "keine Rede sein". Im Moment zeigten die Huthi-Rebellen auf der arabischen Halbinsel "der Welt die Fragilität des globalen Handels auf". Auf politische Risiken verweist auch Cornelius Bähr. Etwa die "Handelsstreitigkeiten zwischen China und den USA, aber auch zwischen China und der EU. Sie führen zu wechselseitigen Beschränkungen von Exporten oder zumindest Androhungen solcher Beschränkungen."

Was zu tun ist          

"Rohstoffsicherheit erfordert die Berücksichtigung der gesamten Wertschöpfungskette vom Abbau bis zum importierten Vorprodukt." Zu diesem Schluss kommt Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW - die bundeseigene Bank hatte die Studie in Auftrag gegeben. "Eine resiliente Rohstoffversorgung verursacht jetzt erst einmal Kosten, letztendlich ist sie aber Voraussetzung, um die grüne und digitale Transformation zu gestalten."

"Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Abhängigkeiten zu verringern und mehr Resilienz aufzubauen geht nicht über Nacht", weiß auch Matthias Wachter vom BDI. Entscheidend sei die "Diversifizierung und der Aufbau neuer Kapazitäten. Eine Stärkung der heimischen Förderung ist Teil der Lösung. Deutschland ist entgegen der weit verbreiteten Meinung sehr reich an vielen Rohstoffen."

Cornelius Bahr mahnt, dass Deutschland aktiv werden müsse, durch "Diversifizierung der Lieferländer, Substitution kritischer Rohstoffe, Ausbau eigener Ressourcen und eine Stärkung des Recyclings. Voraussetzung dafür sind passende Standortbedingungen (z.B. Energiekosten) und die Akzeptanz in der Bevölkerung."

Lithium-Abbau in der chilenischen Atacama-Wüste
Lithium-Abbau in Chiles Atacama-Wüste - von dort bezieht Deutschland 72 Prozent seiner Importenull Rodrigo Abd/AP Photo/picture alliance

Ja, und wenn nicht?

Matthias Wachter mahnt eine breitere Aufstellung der deutschen Wirtschaft an: "Mangelnde Diversifizierung von Lieferketten gefährdet die deutsche Versorgungssicherheit. Auch wenn mögliche wirtschaftliche Folgen eines solchen Worst-Case-Szenarios nicht seriös zu bemessen sind, kann man sagen, dass der Industriestandort Deutschland und damit unser Wohlstand massiv gefährdet wären. Denn: Ohne Rohstoffe können Industrieunternehmen nicht arbeiten und wir werden auch die Klimaziele nicht erreichen."

"Ohne Zugang zu Rohstoffen besteht das Risiko, dass keine entsprechende industrielle Produktion hier stattfinden kann", sagt auch Cornelius Bähr und nennt ein konkretes Beispiel: "Ohne Zugang zu Lithium kann keine Batterieproduktion stattfinden. Dann müssten die Batterien importiert werden. Wenn die nicht importiert werden können, können keine E-Autos gebaut werden. Entsprechend würden industrielle Wertschöpfung und Arbeitsplätze verloren gehen."

Ukraine-Krieg: Warum kauft die EU weiter russisches Gas?

Mehr als zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine strömt noch immer russisches Gas nach Europa. Damit finanzieren Unternehmen aus der EU den Kreml indirekt weiter - wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als noch vor dem Ukraine-Krieg. Rund 34 Prozent der europäischen Gasimporte stammten damals aus Russland. Länder in Mittel- und Osteuropa waren besonders abhängig.

Als die EU zu Beginn des Ukraine-Krieges ein Import-Verbot vorschlug, sprach sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sofort dagegen aus. Ohne Russland sei "die Versorgung Europas mit Energie für Wärmeerzeugung, Mobilität, Strom und Industrie derzeit nicht zu sichern", argumentierte Scholz.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin war diese Sorge durchaus bewusst. Er drosselte die Gaseinfuhren nach Europa. Vor dem Winter 2022 befürchteten die europäischen Staats- und Regierungschefs einen Energieschock. Zwar sind diese Befürchtungen nie eingetreten - doch die Angst saß und sitzt noch immer tief. Auch deshalb hat die EU nie wirklich Sanktionen gegen russisches Gas verhängt.

 "Es gab keine Sanktion", sagt Benjamin Hilgenstock, Ökonom von der Kyiv School of Economics. "Es war eine freiwillige und kluge Entscheidung der Länder, die Versorgung zu diversifizieren und nicht länger von Russland erpressbar zu sein", sagte er der DW.

Wie russisches LNG-Gas Pipelinegas ersetzen?

Nach EU-Angaben ist der Anteil des von den Mitgliedstaaten importierten russischen Pipelinegases von 40 Prozent im Jahr 2021 auf etwa acht Prozent im Jahr 2023 gesunken.

Bezieht man jedoch verflüssigtes Erdgas (LNG) mit ein, dann lag der Anteil des russischen Gases an den Gesamteinfuhren der EU im vergangenen Jahr bei 15 Prozent. Flüssiggas; Erdgas, das in abgekühlter und verflüssigter Form mit dem Schiff transportiert werden kann.

Ein Schiff liegt am LNG-Terminal in Wilhelmshafen vor Anker
Deutschland hat schnell seine Abhängigkeit von Russland reduziert durch den Bau von LNG-Terminals - wie hier in Wilhelmshaven. null Michael Sohn/REUTERS

Die EU konnte ihre Russland-Abhängigkeit nach Beginn des Ukraine-Krieges vor allem dadurch verringern, dass sie ihre LNG-Importe aus Ländern wie den Vereinigten Staaten und Katar erhöhte.

Doch damit kam auch vermehrt verbilligtes russisches LNG in die EU. Nach Angaben des Datenanbieters Kpler ist Russland jetzt der zweitgrößte Flüssiggas-Lieferant der EU.

2023 machten die Importe aus Russland 16 Prozent der gesamten LNG-Versorgung der EU aus. Das ist ein Anstieg von über 40 Prozent im Vergleich zu 2021 - also vor Kriegsbeginn. Daten aus dem ersten Quartal 2024 zeigen, dass die russischen Flüssiggas-Exporte nach Europa im Vergleich zum Vorjahr erneut um fünf Prozent gestiegen sind. Frankreich, Spanien und Belgien haben besonders viel LNG importiert. Auf diese drei Länder entfielen 87 Prozent des gesamten Flüssiggases, das im Jahr 2023 in die EU kam.

Länder wollen Verladung von LNG stoppen

Ein großer Teil des russischen Flüssiggases wird jedoch gar nicht für den europäischen Markt benötigt, sondern nur in europäischen Häfen umgeschlagen, sagt der Ökonom Hilgenstock. Das heißt, es kommt an - wird auf andere Schiffe verladen und dann in andere Länder exportiert. "Das hat also nichts mit der europäischen Erdgasversorgung zu tun. Es geht nur darum, dass europäische Unternehmen Geld damit verdienen, russische LNG-Exporte zu ermöglichen."

Einem aktuellen Bericht des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) zufolge wurde knapp ein Viertel der europäischen Flüssiggasimporte aus Russland (22 Prozent) 2023 wieder auf die globalen Märkte verschifft. Der Großteil ginge an Länder in Asien, sagte Petras Katinas, Energieexperte beim CREA, der DW.

Mehrere EU-Mitglieder wie Schweden, Finnland und die baltischen Staaten üben daher Druck auf die EU aus. Sie wollen ein vollständiges Verbot für russisches LNG. Das aber benötigt die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.

Innerhalb der EU konzentriert sich die Diskussion vor allem auf ein Verbot der Umschlagung von russischem Flüssiggas in den Häfen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg wird auch über die Sanktionierung wichtiger russischer LNG-Projekte nachgedacht, wie Arctic LNG 2, das Ust Luga LNG-Terminal und eine Anlage in Murmansk.

"Wir sollten russisches LNG im Grunde verbieten", sagte Hilgenstock on der Kyiv School of Economics. "Wir glauben nicht, dass es eine bedeutende Rolle für die europäische Gasversorgung spielt und relativ leicht durch Flüssiggas aus anderen Quellen ersetzt werden kann." Auch eine Studie der Denkfabrik Bruegel aus dem Jahr 2023 untermauert diese Aussage.

Dennoch warnte die Europäische Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden - kurz Acer - kürzlich: Eine Reduzierung der russischen LNG-Importe sollte nur "schrittweise" erfolgen, um einen Energieschock zu vermeiden.

Auch Pipeline-Gas kommt noch nach Europa

Die Nord-Stream-Pipelines durch die Ostsee sind derzeit nicht in Betrieb. Auch über die Festlandpipeline Jamal-Europa fließt kein russisches Gas mehr nach Europa. Dennoch erreicht russisches Gas weiter über Pipelines durch die Ukraine die österreichische Erdgasdrehscheibe Baumgarten. Der Grund liegt auf der Hand: Das teilstaatliche österreichische Energieunternehmen OMV hat mit dem russischen Gasriesen Gazprom einen Liefervertrag bis 2040 abgeschlossen.

Österreich bestätigte im Februar dieses Jahres, dass 98 Prozent seiner Gasimporte im Dezember 2023 aus Russland stammten. Laut der Regierung in Wien soll der Vertrag so schnell wie möglich gekündigt werden. Dafür seien aber EU-Sanktionen nötig, um diesen Schritt auch juristisch zu rechtfertigen.

Tatort Ostsee - Wer sprengte die Nord Stream-Pipelines?

Auch Ungarn hat weiterhin russisches Gas in großen Mengen über Pipelines importiert. Vor kurzem hat das Land einen Gasvertrag mit der Türkeiabgeschlossen - viele Experten gehen aber davon aus, dass es sich auch dabei um russisches Gas handelt, das über die Pipeline Turkstream die Türkei erreicht.

Der Ökonom Hilgenstock nimmt an, dass einige Länder weiterhin russisches Gas kaufen, weil sie von günstigen Verträgen profitieren. "Solange es also kein Embargo gegen russisches Erdgas gibt, können diese Länder das auch tun."

Für Österreich und Ungarn könnte ein mögliches Ende ihrer Pipeline-Importe aus Russland letztlich durch die Ukraine erfolgen. Kiew beharrt nämlich darauf, dass es den bestehenden Vertrag mit Gazprom über die Durchleitung von Gas durch sein Territorium nicht verlängern wird. Dieses Abkommen läuft Ende 2024 aus.

Zeit für ein Embargo?

Obwohl immer noch russisches Gas nach Europa importiert wird, ist der Anteil an den europäischen Gasimporten insgesamt seit 2021 drastisch gesunken. Die EU strebt an, dass die Union bis 2027 völlig frei von russischem Gas ist.

Ein Ziel, das Hilgenstock für zunehmend realistisch hält. "Ich denke, wenn uns dieses ganze Kapitel eines gezeigt hat, dann dass wir unsere Gasversorgung und andere Energiequellen relativ schnell von Russland weg diversifizieren können."

Dennoch seien die politischen Bedingungen für ein totales Gasembargo - insbesondere für ein Pipelinegas derzeit "nicht besonders günstig". Hilgenstock verweist auch auf die ungarisches EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 als mögliches Hindernis. Budapest hat engere Beziehungen zu Moskau als die meisten EU-Mitgliedstaaten.

In Bezug auf LNG ist er optimistischer. Neben Maßnahmen der EU müssten aber auch die großen Flüssiggas-Importeure wie Spanien und Belgien selbst die Initiative ergreifen. "Die Einfuhr von russischem Gas durch die Hintertür ist ein großes Problem". Zum einen wegen der Botschaft, die dadurch ausgesendet werde und man helfe Russland bei seinen LNG-Lieferketten. "Das sollten wir nicht tun."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

Faktencheck: Weicht Biden Sanktionen gegen Iran auf?

Seit der Revolution 1979 wird der Iran, das Land mit den weltweit größten Rohöl- und Gasreserven, immer wieder mit Sanktionen belegt. Angesichts der Drohnenangriffe auf Israel haben sowohl die USA als auch die EU ihre Sanktionen gegenüber Teheran erneut verschärft. Wie wurden die zahlreichen Sanktionen umgesetzt?

UN-Waffenembargo und die USA

Behauptung: "Biden hat dem Auslaufen der UN-Sanktionen gegen iranische Drohnen und ballistische Raketen zugestimmt", schreibt die US-amerikanische Fernsehkommentatorin Morgan Ortagus auf Twitter. Ortagus war von 2019 bis 2021 Sprecherin des US-Außenministeriums unter US-Präsident Trump. 

DW Faktencheck: Falsch.

Das UN-Waffenembargo gegen den Iran ist bereits am 18. Oktober 2020 ausgelaufen. Dies war vor dem Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden am 20. Januar 2021.

Das Embargo endete genau fünf Jahre nach dem Tag der Annahme des internationalen Abkommens über das iranische Atomprogramm, genannt Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA). 

Im Rahmen des Abkommens beschloss der UN-Sicherheitsrat am 20. Juli 2015 (Resolution 2231), das bis dahin geltende strikte UN-Waffenembargo gegen den Iran zu lockern.

Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor, Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO)
Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation, hat den Iran mehrfach aufgefordert, die Überwachung von Anlagen durch IAEA-Inspektoren wieder zu erlaubennull Roland Schlager/APA/dpa/picture alliance

Die Lockerungen sollten allerdings erst gewährt werden, wenn die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) gegenüber dem UN-Sicherheitsrat bestätigt, dass der Iran die im JCPOA festgelegten Maßnahmen im Zusammenhang mit seinem Atomprogramm ergriffen hat.

Unter Trump zogen sich die USA am 8. Mai 2018 aus dem internationalen Atomabkommen mit dem Iran zurück. Am 6. August 2018 verhängten die USA erneut Sanktionen

Der damalige US-Außenminister Michael Pompeo erklärteim September 2020, dass auch die UN-Lockerungen rückgängig gemacht und die in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates verfügten Sanktionen gegen den Iran wieder eingesetzt würden. 

Dies war jedoch nicht der Fall. Der UN-Sicherheitsrat hatte bereits am 26. August 2020 eine entsprechende Initiative der USA mit der Begründung blockiert, dass die USA einseitig aus dem JCPOA ausgestiegen und deshalb nicht befugt seien, Änderungen vorzuschlagen. 

Seitdem haben die USA mehrfach ihre eigenen Sanktionen gegenüber dem Iran verschärft. Eine komplette Liste aller seit 2001 verhängten US-Sanktionen gegen den Iran hat das United States Institute for Peace zusammengestellt. 

Iran | Straßenszene vor Banner mit Raketen in Teheran
Mit einem riesigen Banner macht das Regime in Teheran Werbung für seine ballistischen Raketennull AFP

Israel-Angriff und Urananreicherung dank Sanktionspausen?

Behauptung: "Seit seinem Amtsantritt hat Biden Direktzahlungen an Teheran und Sanktionserleichterungen vorgenommen. Dieses Geld hat der Iran genutzt, um Israel anzugreifen," empört sich eine Twitter Userin . Der republikanische US-Kongressabgeordnete Bryan Steil pflichtet ihr bei und schreibt: "Präsident Biden hat eine Ausnahmeregelung für Sanktionen verlängert, die dem Iran Zugang zu zehn Milliarden Dollar gewährt. In der Zwischenzeit reichert der Iran Uran fast auf nuklearen Niveau an und seine Stellvertreter schießen Raketen auf unsere Soldaten ab, drei wurden getötet". 

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Richtig ist, dass US-Präsident Joe Biden während seiner Amtszeit mehrfach Sanktionsaussetzungen angeordnet hat. Es folgen einige Beispiele.

So versuchte Biden im Februar 2022 mit "sanction waivers" für russische, chinesische und europäische Unternehmen eine Wiederbelebung der indirekten amerikanisch-iranischen Gespräche über das Atomabkommen von 2015 zu ermöglichen.

Iran-Atomabkommen: Kommt mit Biden ein neuer Deal?

Im Juli 2023 gab US-Außenminister Antony Blinken nach einem Treffen mit seinem irakischen Amtskollegen Fuad Hussein in Riad die Freigabe von iranischen Guthaben im Irak bekannt. Damit konnte der Irak einen Teil seiner Erdgasschulden in Milliardenhöhe gegenüber dem Iran begleichen. Dieser hatte seine Lieferungen für den Irak eingestellt. 

Im August 2023 gewährte Präsident Biden Teheran Zugang zu rund sechs Milliarden US-Dollar an Erdöldevisen. Das Geld befand sich auf einem gesperrten Bankkonto in Südkorea. Im Gegenzug wurden fünf amerikanische Geiseln aus dem Iran freigelassen.

Im März dieses Jahres erlaubte die US-Regierung dem Iran erneut Zugang zu zehn Milliarden US-Dollar. Auf einer Pressekonferenz am 15. April verteidigte Sprecher John Kirby die Maßnahme: "Von diesen Geldern - die übrigens von der Regierung Trump auf einem Konto eingerichtet wurden - geht nichts direkt an den Obersten Führer der Revolutionsbrigaden IRGC. Sie können nur für humanitäre Zwecke verwendet werden."

Iran I Männer feiern des Raketen- und Drohnenangriff des IRGC auf Israel vor Moschee in Teheran
In Teheran feiern Männer auf der Straße den Angriff der islamistischen Revolutionsbrigaden auf Israel am 15. Aprilnull Morteza Nikoubazl/NurPhoto/picture alliance

Claude Rakisits vom Centre for Security, Diplomacy and Strategy (CSDS) in Brüssel widerspricht. Er ist davon überzeugt, dass "die Sanktionsaussetzungen es Teheran leichter gemacht haben, Waffen zu produzieren und zu kaufen". 

Belegbar ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu Kritiker Rakisits verteidigt US-Präsident Biden in einem Statement vom 18. April seine Sanktionspolitik.

"Während meiner Regierung haben die USA über 600 Individuen und Organisationen mit Sanktionen belegt, darunter den Iran und seine Verbündeten Hamas, Hizbollah, und Huthis. Dies werden wir fortsetzen und weitere Sanktionen verhängen, die Irans Rüstungsindustrie schwächen." 

Waffenexporte und Wachstum trotz Sanktionen 

Behauptung: "Die Sanktionen gegen den Iran sind nicht sinnvoll, wenn sie nicht auch China mit einbeziehen", schreibt die deutsch-iranische Fernsehjournalistin Natalie Amiri auf Twitter. Andere User bezeichnen die Sanktionen sogar als "komplett sinnlos", da ihre Einhaltung nicht durchgesetzt werde

DW-Faktencheck: Richtig.

Die Sanktionen schwächen Wirtschaft und Entwicklung, reduzieren Investitionen und führen zu wachsender Arbeitslosigkeit und Armut. Die Entwicklung des iranischen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf seit 1979 (siehe Grafik) verdeutlicht die Rückschläge, die der Iran durch die Strafmaßnahmen hinnehmen musste, etwa den rapiden BIP-Rückgang nach dem Ölembargo 2012.

Dennoch liegt die Wirtschaft des Landes trotz der internationalen Strafmaßnahmen nicht am Boden.

"Das Wirtschaftswachstum hat sich in den vergangenen vier Jahren trotz der anhaltenden Sanktionen und erhöhter geopolitischer Unsicherheit als resilient erwiesen", heißt es in der Analyse der Weltbank

Andere Sanktionsexperten bestätigen diese Einschätzung: "Westliche Sanktionen gegen Drohnen und Waffen aus dem Iran haben nicht funktioniert, weil Teheran die Waffen oder Komponenten dafür woanders herbekommt", erklärt Sanktionsexperte Claude Rakisits auf Anfrage der DW. Die Lieferungen kämen hauptsächlich aus China, Nordkorea und Russland. Rakisits: "Es besteht eine effektive Allianz zwischen diesen vier Diktaturen."

Decoding China: Innovationsbedarf umschifft die Politik

Als die weltgrößte Industrieschau ist die Hannover Messe der Trendsetter. Hier erfährt die ganze Welt, wie die industrielle Zukunft aussieht und was die wegweisenden Themen sind. Dass China dabei ein unentbehrlicher Akteur ist, lässt sich direkt an der Zahl der Aussteller ablesen. Fast jeder Dritte der circa 4.000 Teilnehmenden kommt dieses Jahr aus Fernost. Dass die Bundesregierung in ihrer Chinastrategie vom Sommer 2023 das Reich der Mitte als "Partner, Wettbewerber", aber auch "systemischen Rivalen" definiert, schreckt die Aussteller nicht ab.

"Mir ist die Position Deutschlands nicht bekannt", sagt der chinesische Unternehmer Jiang, der auf seinem Standardmessestand von neun Quadratmetern in der Halle 4 Kugellager unterschiedlicher Größen ausstellt. "Das macht aber nichts. Wir wollen Geschäfte machen. Und meine Produkte sind gut, preiswert und für die Industrie unverzichtbar."

Eine kleine Zahl von Ständen bleibt in der Halle 4 leer. Die an der Außenwand angeklebten Firmennamen deuten darauf hin, dass auch diese für Unternehmen aus China vorgesehen waren. Vermutlich haben die Geschäftsleute kein Visum für Deutschland erhalten, murmelten die Nachbarn. Ansonsten spürt man auf dem Gemeinschaftsstand für den chinesischen Mittelstand deutliche Aufbruchsstimmung. Der Messeauftritt in Hannover gibt den Unternehmen die Möglichkeit für mehr Exportgeschäfte, um die nachlassende Nachfrage im chinesischen Inland auszugleichen. "Wir hoffen auf große Bestellungen aus dem Ausland", sagt Jiang. Er räumt aber ein, dass es "überall schwierig" sei.

Zukunft mit KI-getriebener Industrie "Made in China"

Das Logo des Chinastands Make Things Better (Mach die Dinge besser) liest sich dabei wie ein selbstbewusster Slogan. In einigen Bereichen haben sich chinesische Unternehmen schon heute weltweit an die Spitze gesetzt. Themen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) wären ohne chinesisches Engagement nicht denkbar. Die Zukunft liegt in der so genannten "Industrie 4.0" - der vernetzten Produktion mit automatisierter Zuteilung der Ressourcen durch KI.

Die Zukunftsfabriken, auch Smart Factories genannt, brauchen dafür schnelle Funknetze und Cloud-Services. Über diese "Daten-Wolken" werden sämtliche Industriedaten in Echtzeit von der Produktion an den Server übermittelt. Nach vorgegebenen Rechenmodellen, den Algorithmen, ermittelt die künstliche Intelligenz über Cloud-Computing die bestmöglichen Lösungen und erteilt den Maschinen die Anweisungen für die nächsten Schritte.

China | Smart Factory in Huzhou
"Smart Factory" in Huzhou, Chinanull Costfoto/NurPhoto/picture alliance

Beim Messerundgang am Montag (22.04.24.) betonte Bundeskanzler Olaf Scholz noch die Stärke Deutschlands, "um die Zukunft für unsere Volkswirtschaft und für gute, sichere Arbeitsplätze auch in 10, 20, 30 Jahren und für die weitere Zukunft zu gewährleisten." Das gehe nur mit technologischen Innovationen, für die Unternehmen aus Deutschland und viele andere, die in Hannover dabei sind, besonders geeignet seien, so Scholz weiter.

Symbiose durch Globalisierung

Wichtige Innovationen kommen dabei aus China. "Wir sind von den Fortschritten durch die Globalisierung überzeugt", sagt Zhiqiang Tao, Vize-Präsident von Huawei Cloud. Der chinesische Telekommunikationsausrüster baut in Europa den Cloud-Service kräftig aus und betreibt Server für europäische Kunden in Irland und der Türkei. "In Deutschland bieten wir unseren Industriekunden zum Beispiel über die Deutsche Telekom zuverlässigen Cloud-Service an. Nur durch Zusammenarbeit werden wir künftig vom Erfolg gekrönt bleiben."

China - der mächtige Konkurrent

Allein in China nutzten laut Tao schon mehr als 8.000 Industrieunternehmen mit globalem Footprint den Cloud-Service von Huawei. Diese dann mit den internationalen Partnern zu vernetzen, würde dann die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette beschleunigen. "Wir schaffen für alle einen Mehrwert. Und es entsteht eine Symbiose."

Aber genau mit dieser Symbiose hat Deutschland ein Problem. Zwar fordert die deutsche Chinastrategie keine komplette Entkopplung, aber eine Diversifizierung und ein "De-Risking".

"Wir halten es für nachvollziehbar, wenn Deutschland bei wichtigen Vorprodukten und Rohstoffen versucht, zu große Abhängigkeiten zu reduzieren", sagt Volker Treier, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Hannover. "Das ist ein normales kaufmännisches Gebot. Das füllt den Begriff des De-Riskings etwas mit Inhalten. In China sind weiterhin die Themen wie der Schutz geistigen Eigentums und der erzwungene Technologietransfer noch nicht ganz von der Tagesordnung verschwunden."

Investitionsrekord trotz De-Risking-Strategie

Die Statistiken sprechen aber eine andere Sprache. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank investierte die deutsche Wirtschaft 2023 trotz De-Risking mit knapp zwölf Milliarden Euro in China - inklusive der Sonderverwaltungszone Hongkong - so viel wie nie zuvor. Laut der Geschäftsklimaumfrage der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) wollen 54 Prozent der deutschen Firmen ihre Investitionen in China erhöhen, um dort wettbewerbsfähig zu bleiben.

Abkoppeln von China? - Lieber nicht ganz

"Das zeigt, dass trotz der bestehenden Herausforderung eben doch ein Vertrauen in die Stabilität und in das Potenzial des chinesischen Marktes besteht," sagt Thomas Scheler, Geschäftsführer der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftsvereinigung (DCW) in Düsseldorf. Die Komplementarität der beiden Volkswirtschaften sei "ein wesentlicher Treiber" in dem gegensätzlichen Phänomen von politischer Lenkung und wirtschaftlichem Handeln.

Die Chance liege nun darin, dass die Globalisierung weg vom Warenhandel in Richtung Dienstleistungshandel, Dienstleistungsexporte und vor allem auch in Richtung Direktinvestitionen voranschreite, sagt Wirtschaftsjournalist Dieter Beste. "Direktinvestitionen bedeuten, dass man marktnah produziert, und zwar im Markt für den jeweiligen Markt. Das sind Tendenzen, die sich weltweit abzeichnen, insbesondere auch im Verhältnis zwischen Deutschland und China."

Berichte über Wirtschaftsspionage

Die Debatten, ob eine Innovationspartnerschaft mit chinesischen Firmen sinnvoll ist, werden während der Messewoche von Berichten über chinesische Wirtschaftsspionage überschattet.

Eine deutsche Firma soll im Auftrag des chinesischen Sicherheitsministeriums bei deutschen Universitätseinrichtungen Technologien abgefasst haben, die in China militärisch genutzt werden könnten. Zwei Deutsche sitzen seit Dienstag in Untersuchungshaft. Seit der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste 1989 auf dem Tiananmen-Platz darf aufgrund des EU-Waffenembargos grundsätzlich keine Ausfuhrgenehmigung für Waffen an China ausgestellt werden.

"Ganz offen gesagt: Die Beziehungen waren schon mal besser", sagt Volker Treier von der Industrie- und Handelskammer. "Die volatile Weltlage hat sich auch auf die wirtschaftspolitische Beziehung zu China ausgewirkt. Trotz starken Gegenwinds: Wir müssen Kooperationsfelder ausbauen und systematisch weiterentwickeln", fordert Treier.

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

 

Was bringen Sanktionen gegen Iran und Russland?

Der Iran weiß es, China weiß es und die US-Regierung weiß es offenbar auch: Trotz bestehender Sanktionen gegen die Ölwirtschaft der Islamischen Republik wird Öl aus dem Iran in Rekordhöhe ins Reich der Mitte verschifft.

"Wenn man der chinesischen Regierung glaubt, importiert das Land kein Öl aus dem Iran. Null. Kein einziges Barrel. Stattdessen importiert es viel malaysisches Rohöl. So viel, dass das Land nach offiziellen chinesischen Zolldaten mehr als doppelt so viel malaysisches Öl kauft, wie Malaysia tatsächlich produziert", beschreibt der Rohstoff-Spezialist Javier Blas den Etikettenschwindel im Nachrichtenportal Bloomberg.

Mit einem einfachen Trick, so Blas, wird aus iranischem Rohöl malaysisches. Laut Ölhändlern sei das "der einfachste und billigste Weg, die US-Sanktionen zu umgehen". Und so wurde aus Malaysia im vergangenen Jahr Chinas viertgrößter ausländischer Öllieferant, hinter Saudi-Arabien, Russland und dem Irak.

Als Dreh- und Angelpunkt für die Umgehung von Sanktionen nutzt der Iran seit vielen Jahren die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Über Dubai kommen häufig die Waren in die Islamische Republik, die auf langen Verbotslisten der USA oder der Europäischen Union stehen. Dazu werden verbotene Öllieferungen über die Emirate eingefädelt und abgewickelt.

VAE Dubai Skyline
Finanzplatz Dubai: Auf der grauen Liste der Financial Action Task Force wegen Problemen bei Geldwäsche und Terrorfinanzierung null Imaginechina/Tuchong/imago images

Ganz gleich, ob es um Ersatzteile für Fahrzeuge oder Flugzeuge geht: Längst hat der Iran seine Lieferketten so modifiziert, dass man über Handels- und Finanzplätze wie Dubai alles beschaffen kann, wofür es im Iran eine Nachfrage gibt. Das ist zwar teurer als der direkte Import. Aber die westlichen Sanktionen, vor allem die der USA, werden so seit vielen Jahren umgangen.

Umschlagplatz Zentralasien

Auch Russland verfügt über solche Umschlagplätze für sanktionierte Güter. Auch hier gibt es kaum ein Produkt, das nicht über ein Drittland beschafft werden kann: Etwa Ersatzteile für deutsche Luxus-Autos oder elektronische Bauteile, die zur Steuerung von Waffen gebraucht werden. Eine Schlüsselrolle spielen dabei frühere Sowjetrepubliken in Zentralasien. Moskaus Vorteil dabei: Die Russische Föderation ist mit Ländern wie Kasachstan oder Kirgisistan in einer Zollunion verbunden, in der der grenzüberschreitende Warenverkehr ein Kinderspiel ist.

So gelangen sanktionierte Produkte aus dem Westen, die nach den Sanktionen tabu für Russland sind, nahezu ungehindert über internationale Grenzen. Kontrolle? Fast unmöglich. Allein die Grenze zwischen der Russischen Föderation und Kasachstan ist rund 7500 Kilometer lang. Auch Armenien ist so ein Beispiel: Um knapp 1000 Prozent legte der Verkauf deutscher Autos und Autoteile im vergangenen Jahr zu.

Seit der Verhängung des mittlerweile 13. Sanktionspakets der EU gegen Moskau am 22. Februar 2024 ist Russland weltweit das Land, das mit den meisten Sanktionen belegt ist. Das belegen Zahlen von Castellum.AI, einer privatwirtschaftlichen Compliance-Plattform aus den USA. Und trotzdem führt Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter und die russische Wirtschaft ist alles andere als zusammengebrochen.

Gerade erst hat die russische Regierung ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr von 2,3 auf 2,8 Prozent angehoben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht sogar von einem Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 3,2 Prozent aus. Die Begründung ist für westliche Sanktions-Befürworter ernüchternd: Hohe Staatsausgaben und Investitionen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine sowie - trotz westlicher Sanktionen - hohe Einnahmen aus dem Ölexport würden Russlands Wirtschaft antreiben, so der der IWF.

Kasachstan Almaty | Filiale der russischen Alfabank
Starke Präsenz in Zentralasien: Filiale der sanktionierten russischen Alfabank in Kasachstannull Anatoly Weisskopf/DW

Noch nie so viele Sanktionen verhängt

Der Iran war bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine das am stärksten sanktionierte Land der Welt - bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine. Danach wurden von den USA und der EU immer neue Sanktionsrunden beschlossen. Mittlerweile unterliegt Russland mehr als 5000 verschiedenen gezielten Sanktionen, mehr als der Iran, Venezuela, Myanmar und Kuba zusammen.

Die Sanktionen, die als Reaktion auf Putins Angriffskrieg verhängt wurden, richten sich gegen Politiker und Beamte (einschließlich Putin selbst), Oligarchen, Großunternehmen, Finanzinstitute und den militärisch-industriellen Komplex, listet Castellum.AI auf. Ergänzt werden sie durch weitreichende Sanktionen im Finanzbereich, die den Zugang russischer Banken zu den internationalen Finanzmärkten einschränken - etwa durch den Ausschluss vom System für den internationalen Zahlungsverkehr Swift. Außerdem verwehren die Zwangsmaßnahmen der russischen Zentralbank den Zugriff auf Währungsreserven und Goldbestände, die sich in den G7-Ländern befinden.

Der Haken daran ist, dass nur die Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt werden, auch völkerrechtlich bindend sind. Und dass es eben eine ganze Reihe von Staaten wie Indien, Brasilien oder China gibt, die sich diesen Sanktionen nicht anschließen.

Kaum eine Alternative

Warum also immer neue Sanktionen verhängen, wenn ihr Ziel, das Verhalten von Staaten zu ändern, nicht erreicht werden kann? "Wir leben im Zeitalter der Sanktionen. Wenn keine Sanktionen verhängt werden würden, wäre das schon fast wie eine unausgesprochene Unterstützung. Oder als ob man auf diesen völkerrechtswidrigen Angriff gar nicht antworten würde", sagt Christian von Soest, Sanktions-Experte vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) im Interview mit der DW.

Für den Autor des Buches Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?, das vor einem Jahr erschienen ist, haben zwar die Sanktionen nicht zu einer Änderung des Verhaltens Russlands oder des Iran geführt. Doch die USA und die EU sind dabei, ihre Maßnahmen nachzuschärfen. So bereiten die USA nach einem  Bericht des Wall Street Journal Sanktionen gegen eine Reihe von chinesischen Banken vor, um sie vom weltweiten Finanzsystem auszuschließen. Die Behörden wollen so Pekings Finanzhilfen für die russische Rüstungsproduktion unterbinden, berichtet die US-Finanzzeitung unter Berufung auf "mit der Angelegenheit vertraute Personen".

Auch die EU hat sich neu formiert, um ihre Sanktionen besser durchzusetzen. So gibt es seit Januar 2023 mit dem Top-Diplomaten David O'Sullivan einen EU-Sanktionsbeauftragten. "Seine Aufgabe ist es zum Beispiel auch, in die Post-Sowjetstaaten in der Nachbarschaft von Russland zu reisen und die Regierungen dort zu überzeugen, die Sanktionen stärker durchzusetzen", erklärt Christian von Soest.

"Es gibt jetzt auch eine sogenannte No Russia Clause, mit der man Exporteure dazu zwingen will, nachzuweisen, dass die gelieferten Güter, Maschinen, Fahrzeuge, Autoteile, eben nicht nach Russland weitergehen. Eine solche Endverbleibs-Klausel kennen wir aus dem Kriegswaffenkontrollgesetz", fügt der Sanktions-Experte hinzu.

Auch im Fall der Vereinigten Arabischen Emirate steigt der Druck: "Die VAE sind zu einem Zufluchtsort für die Umgehung iranischer und russischer Sanktionen geworden", konstatiert die US-Denkfabrik Atlantic Council. Deshalb hat die Financial Action Task Force (FATF), ein internationales Koordinierungsgremium, das von den G7, der EU und der Industriestaatenorganisation OECD zur Bekämpfung von Geldwäsche gegründet wurde, die VAE auf die so genannte graue Liste gesetzt. Auf dieser Liste landen Länder, in denen die FATF-Ermittler ein erhöhtes Risiko für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sehen.

"Man hat das generelle Problem erkannt, dass es Ausweichmöglichkeiten sowohl für Russland, aber auch für den Iran gibt, die Sanktionen zu umgehen", sagt Christian von Soest. Jetzt müsse man sehen, was die verschiedenen Maßnahmen bringen.

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

Gefälschte Euro-Münzen aus Spanien vermutlich in ganz Europa

Das Geld, mit dem wir bezahlen, ist nur bedrucktes Papier oder geprägtes Metall. Ist es elektronisch, wie zunehmend üblich, ist es nicht mehr als eine elektronische Datei. Der eigentliche Wert des Geldes besteht in dem Vertrauen, das ihm entgegen gebracht wird: Jeder Mensch soll sich darauf verlassen können, dass das Papier oder das Metall genau den Gegenwert hat, der ihm aufgedruckt oder eingeprägt ist.

Durch das Fälschen von Zahlungsmitteln entsteht ein gesamtwirtschaftlicher Schaden, der alle Menschen betrifft. Jene, die durch einen Zufall mit Falschgeld bezahlt werden oder es als Wechselgeld erhalten, kostet es auch: Denn Falschgeld wird eingezogen und man hat kein Recht auf einen finanziellen Ausgleich. Beim Geldfälschen versteht ein Staat keinen Spaß: Falschmünzerei ist kein Kavaliersdelikt.

Altstadt von Toledo mit königlichen Palast über der Flussschleife des Tejo
In Toledo, der alten Hauptstadt Spaniens, wurden über Jahre hinweg Euro-Münzen gefälschtnull Rudolf Ernst/Zoonar/picture alliance

Bedeutender Ermittlungserfolg in Spanien

Am Mittwoch meldet die Deutsche Presse-Agentur (dpa), die Policía Nacional in Spanien habe eine Geldfälscherbande zerschlagen, die in ganz Europa falsche Zwei-Euro-Münzen in Umlauf gebracht haben soll. Mit Hilfe der über Staatsgrenzen hinweg agierenden Polizeiorganisation EuropoI sei es gelungen, in der Provinzhauptstadt Toledo eine Fälscherwerkstatt auszuheben - "die wichtigste der vergangenen zehn Jahre in Europa", so die Polizei.

Die Bande habe fast 500.000 gefälschte Münzen "von hoher Qualität" auf den europäischen Markt gebracht. Zehn Menschen, die ausnahmslos chinesische Staatsbürger sein sollen, seien festgenommen worden. Die Policía Nacional teilte mit, sie ermittle bereits seit sechs Jahren in diesem Fall. Die Ermittlungen, zitierte die dpa die Beamten "waren äußerst schwierig und langwierig, nicht zuletzt wegen der Geheimhaltung innerhalb der Organisation sowie wegen der praktisch nicht vorhandenen Rückverfolgbarkeit, die für Falschmünzen charakteristisch ist".

Auch wenn der volkswirtschaftliche Schaden in diesem konkreten Fall nicht sehr groß gewesen sein dürfte (eine halbe Million falscher Zwei-Euro-Münzen hat lediglich einen "Gegenwert" von einer Million Euro), ist der Erfolg der Polizei nicht gering zu schätzen. Wer unbehelligt über einen langen Zeitraum hinweg gefälschte Münzen erfolgreich in Umlauf bringt, kann seine Energie und Expertise auch erweitern. Vor allem ist hier der psychologische Aspekt, den Bürgern versichern zu können, ihr Geld sei sicher und behalte seinen Wert, wichtig.

2-Euro-Gedenkmünze „1275. Geburtstag Karl der Große“
Die ist echt: Eine 2-Euro-Gedenkmünze zum 1275. Geburtstag von Karl der Große

Auch Münzen sind in Europa relativ sicher

Gefälschte Geldscheine kann man relativ einfach erkennen. Die Sicherheitsvorkehrungen, die die Notenbanken getroffen haben, sind ausgeklügelt und gut kommuniziert. Beinahe jeder weiß um ihre "Sicherheitsfeatures" - um den Sicherheitsfaden, die eingearbeiteten Hologramme, die nur schwer zu kopierenden Hintergründe, die Qualität des Papiers. Bei Münzen sieht das zwar anders aus, denn bei ihnen gibt es keine Hologramme oder Sicherheitsfäden. Aber es gibt auch beim "Kleingeld" Dinge, die ein Fälscher oft nicht hinbekommt und auf die es sich zu achten lohnt.

Wie erkenne ich falsche Münzen?

In Deutschland ist die Bundesbank für die deutschen Euro-Münzen verantwortlich. Sie gibt auf ihrer Internetseite "Leitfaden Münzen" Hinweise zur Sicherheit der Geldstücke. "Um Fälschungen von echten Münzen unterscheiden zu können, braucht man kein Münzfachmann zu sein", erfährt man dort. Die Bundesbanker geben konkrete Hinweise, wie man Geldstücke beurteilen kann. Für Profis ist das kein Problem, denn "für Münzprüfgeräte" gebe es einen europaweit einheitlichen Test. "Die erfolgreich getesteten Geräte sind auf der Internetseite der Europäischen Kommission zu finden."

Andrej Plenkovic, Ministerpräsident von Kroatien, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, begutachten kroatische Euro-Münzen.
Und die ist echt? Aber ja doch! EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kroatiens Premier Andrej Plenkovic. Kroatien ist jüngstes Mitglied der Euro-Zone. null Darko Bandic/AP/dpa/picture alliance

Dem Laien hilft das natürlich nicht, ihnen empfehlen die Währungshüter, "auf den ersten Eindruck" zu achten. So hebe sich normalerweise "das Münzbild deutlich von der übrigen Münzoberfläche ab." Alle Konturen seien "klar erkennbar". Vorsicht, wenn das nicht zutrifft: Bei Fälschungen "wirkt das Münzbild oft unscharf und weich ausgeprägt. Die Oberfläche ist narbig und weist Flecken, Sprenkeln, Linien oder Einkerbungen auf."

Auf einen anderen Umstand sollte man auf jeden Fall achten: Zur Sicherheit und auch um blinden Personen das Erkennen von Münzen zu erleichtern, ist der Münzrand charakteristisch eingekerbt. "Im Gegensatz zu Falschmünzen, bei denen die Randschrift oft nur undeutlich eingeprägt ist und von der Riffelung im Münzrand überdeckt wird, ist bei echten Zwei-Euro-Münzen die Randschrift deutlich zu erkennen. Auch die Abstände zwischen den einzelnen Symbolen und Wörtern weichen bei Falschmünzen häufig von denen echter Münzen ab."

Der Trick mit dem Magneten

In der Bundesbank-Zentrale scheint man davon auszugehen, dass jeder Mensch einen Magneten mit sich herumträgt: "Aufgrund eines speziellen Sicherheitsmaterials ist der Mittelteil der Ein- und Zwei-Euro-Münzen leicht magnetisch, das heißt: Die Münzen werden von einem Magneten leicht angezogen und fallen bei leichtem Schütteln wieder vom Magneten ab."

Aber: "Der äußere Münzring der echten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sowie der echten 10-, 20- und 50-Cent-Münzen ist nicht magnetisch", wissen die Fachleute und fügen hinzu: "Echte Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Münzen aus kupferbeschichtetem Stahl sind stark magnetisch."  Doch neben einem Magneten sollte man auch einen Zettel einstecken, auf dem man sich alle physikalischen Parameter notiert. Dann wird man auch nicht übertölpelt, denn "die gefälschten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sind entweder nicht magnetisch oder werden von einem Magneten stark angezogen. Häufig ist auch das Material des Münzrings magnetisch."

Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?

In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

VW-Chef Oliver Blume auf der Automesse 2024 in Peking
VW-Chef Oliver Blume: Entscheidet sich in China das Schicksal des Konzerns? null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Besucher betrachten einen Denza D9 am Stand des chinesischen Herstellers BYD auf der Automesse IAA 2023 in München
Wollen Europa und Deutschland erobern: Fahrzeuge von BYD, hier auf der Automesse in München im September 2023null Matthias Balk/dpa/picture alliance

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking.
Gut besucht: Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking. null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Der SU7 des chinesischen Handyherstellers Xiaomi steht auf der Automesse in China
Neuester Konkurrent: Xiaomi, eigentlich ein Smartphone-Hersteller, stellte unlängst sein E-Auto vor, den SU7. Er ist auch in Peking ein Blickfang. null Jörn Petring/dpa/picture alliance

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

Israels Wirtschaft auf dem Weg der Besserung

Obwohl Israels Regierung die statistischen Daten für das erste Quartal 2224 noch nicht veröffentlicht hat, gibt es Grund zur Erleichterung: Die jüngsten Daten vom Arbeitsmarkt, die die Zentrale Statistikbehörde gemeldet hat und die Informationen, die die Bank of Israel zu Kreditkartentransaktionen bekannt gegeben hat, legen die Annahme nahe, dass sich die Wirtschaft des Landes vom Schock des 7. Oktober und den darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen erholt.

Im vierten Quartal 2023 war die Wirtschaftsleistung nach den Terrorattacken der Hamas deutlich eingebrochen - sie sank um 5,2 Prozent im Vergleich zum dritten Quartal. Das war zum großen Teil der Belastung des Arbeitsmarktes geschuldet, als 300.000 Reservisten einberufen worden waren.

Benjamin Bental, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Haifa, sagt, der Arbeitsmarkt erhole sich gerade vom Schock, dass viele Arbeiter und Kleinunternehmer der Wirtschaft so plötzlich verloren gegangen waren. "Der Arbeitsmarkt stabilisiert sich tatsächlich recht schnell", sagte er der DW. "Er liegt noch nicht wieder auf dem Vorkriegsniveau, aber die Arbeitslosenquote liegt gegenwärtig einen Prozentpunkt unter der vom September 2023."

Die Rückkehr vieler Reservisten von der Truppe hätte die Arbeitsmarktlage entspannt, und gleichzeitig legten die Kreditkartendaten den Schluss nahe, dass der Optimismus der Verbraucher nach dem großen Einbruch im Herbst 2023 zurückkehre.

Arbeiter auf einer Baustelle des nationalen Trinkwasser-Transport-Programms
Infrastruktur-Programme laufen trotz des Krieges weiter - wie bei diesem Trinkwasser-Transport-Programmnull RONEN ZVULUN/REUTERS

Palästinenser fehlen auf israelischen Baustellen

Dennoch, so Bental, litten einige Sektoren noch immer schwer unter dem Mangel an Arbeitskräften, allen voran das Baugewerbe. Vor allem, weil diese Branche in starkem Maße von palästinensischen Arbeitern abhing. Diese waren aus der besetzten Westbank zur Arbeit nach Israel gekommen - das ist wegen der verschärften Sicherheitsmaßnahmen nun nicht mehr möglich.

Ungefähr 75.000 Palästinenser waren täglich zwischen der Westbank und den Baustellen in Israel gependelt. Ihr Fehlen hat die Bautätigkeit fast zum Erliegen gebracht: Der Wohnungsbau brach zum Ende 2023 um 95 Prozent ein. Die Branche hat sich etwas erholt, weil sie tausende Arbeiter aus Indien, Sri Lanka und Usbekistan verpflichtete, um ihre Bauvorhaben beenden zu können. Das ganze Bild werde aber erst sichtbar, wenn alle Daten zum ersten Quartal vorliegen.

Der Krieg und das israelische Haushaltsdefizit

Der Krieg hatte die Regierung gezwungen, die Staatsausgaben dramatisch zu steigern - hauptsächlich für Verteidigungszwecke, aber auch für Wiederaufbaumaßnahmen nach den Terroranschlägen und Neubauten für zehntausende Israelis, die aus dem Norden und dem Süden des Landes hatten fliehen müssen.

Im vergangenen Monat hat Israel einen berichtigten Haushalt für dieses Jahr bekannt gegeben, der 584 Milliarden Schekel, das entspricht rund 144 Milliarden Euro, umfasst. Dabei wurde ein Staatsdefizit von 6,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in 2024 vorhergesagt - ursprünglich hatte man 2,25 Prozent erwartet.

Benjamin Bental sagt indes, das sei deutlich untertrieben und ein Defizit von acht Prozent sei weit wahrscheinlicher. "Das erscheint mehr oder weniger realistisch. Vorausgesetzt", fügt er mit Blick auf die Spannungen mit dem Iran hinzu, "dass es keine weitere Belastung der Sicherheitssituation gibt."

Nachthimmel über Nordisrael - Israel schießt iranische Raketen ab
Israel schießt iranische Raketen ab - dieser Konflikt stellt eine weiter Bedrohung für Israels Wirtschaft darnull Ayal Margolin/JINI/XinHua/picture alliance

Der Staatshaushalt steht ganz offensichtlich unter Druck. Die Regierung plant, etwa 56 Milliarden Euro mehr an Schulden aufzunehmen und die Steuern zu erhöhen. Das, so die Regierenden, könnte das Land leisten: "Die ökonomischen Voraussetzungen sind gegeben, sagte Yali Rothenberg, Chef-Rechnungsprüfer im Finanzministerium, der Financial Times vor Veröffentlichung des Nachtragshaushalts. "Schauen Sie auf den High-Tech-Sektor, auf die Infrastrukturmaßnahmen und auf den privaten Konsum, dann sehen Sie: Das gibt die Wirtschaft her."

Wird Israels Verteidigung zu teuer?

Vor den Oktober-Attacken der Hamas war die israelische Wirtschaft in guter Verfassung. "Die Wirtschaft lief bemerkenswert gut", so Bental. "Die Inflation sank und die fiskalische Lage war völlig unter Kontrolle." Er weist darauf hin, dass Israel vor dem Überfall ein Wachstum von 3,5 Prozent anpeilte und dass das Land trotz der Erschütterungen im letzten Quartal 2023 ein Wachstum von zwei Prozent erreichen konnte.

Bental sagt, es gebe in den Straßen der großen Städte wie Tel Aviv und Haifa nur wenig Hinweise auf eine Kriegswirtschaft oder Anzeichen von Kürzungen oder Mangel. Hier zeige sich, dass die Erfahrungen aus vorherigen Kriegen und Krisen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft das Handeln der aktuellen Regierung beeinflusst.

Bental ist allerdings wegen der außergewöhnlichen Ausgaben für die Verteidigung besorgt. Während des Yom Kippur Krieges 1973 hatte der Staat die Verteidigungsausgaben dramatisch erhöht, bis zu einem "total untragbaren" Level von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gemeinsam mit der Ölkrise und einer allgemeinen Weltwirtschaftskrise habe der Konflikt zu einem "wirklichen ökonomischen Desaster" für Israel geführt. Das hatte zu einer sehr hohen Inflation und einer wirtschaftlichen Stagnation für beinahe zehn Jahre geführt.

Militärkolonne auf den Golan-Höhen - Szene aus dem Yom Kippur Krieg
Drei Wochen im Oktober 1973: Der Yom Kippur Krieg hatte die israelische Wirtschaft auf Jahre hinaus ruiniert null Keystone Press Agency/ZUMAPRESS/picture alliance

Wenn nur die Kämpfe endeten

Bental zufolge hatte die Zweite Intifada der Palästinenser in der Zeit zwischen 2000 und 2005 mehr Ähnlichkeiten mit dem gegenwärtigen Konflikt, weil damals wie heute mehr Zivilisten involviert waren. "Man kann daraus etwas lernen über die Schäden, die aus einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung und einem Verlust des persönlichen Sicherheitsgefühls während dieser Periode entstehen", sagt Bental. "Es gibt Schätzungen, dass während dieser Jahre des Konfliktes das israelische BIP deshalb etwa zehn Prozent verloren hat."

Als weiteres Beispiel nennt er den Konflikt mit der Hisbollah und dem Libanon 2006 - ein Konflikt der zeige, wie schnell sich die Wirtschaft erholen könne, wenn die Kämpfe aufhören. Bantal: "Wir reden von einer Situation, in der für etwa einen Monat im Norden Israels nichts mehr funktionierte. Aber wenn man sich die Daten anschaut und nach Spuren dieser Episode sucht, stellt man fest, dass da gar nichts zu sehen ist. Das ist wirklich erstaunlich. Die Wirtschaft hatte sich im Nullkommanichts wieder normalisiert."

Bental hofft, dass das auch diesmal der Fall sein wird, sobald der aktuelle Konflikt beendet ist. Im Moment wiesen einige Zeichen der Erholung in genau diese Richtung.

Dieser Beitrag ist aus dem Englischen adaptiert.

Studierende aus Indien gegen Fachkräftemangel in Deutschland

Deutschland kämpft mit einem kritischen Arbeitskräftemangel, der sich mit der alternden Bevölkerung immer weiter verschärft.  Prognosen gehen davon aus, dass 2035 bis zu sieben Millionen Fachkräfte fehlen würden.

Mit derzeit rund 700.000 unbesetzten Stellen ist das Wachstum in Deutschland von etwa zwei Prozent in den 1980er Jahren auf derzeit etwa 0,7 Prozent gesunken . Es würde weiter auf 0,5 Prozent fallen, wenn die deutsche Wirtschaft keine ausreichenden Fachkräfte finden würden, sagte der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Er betonte, dass die Zuwanderung von Fachkräften helfen könne, diese wachsende Kluft zu überbrücken.

Ein Teil der Lösung könnte dabei sein, den Studierenden aus Indien  die Erwerbstätigkeit in Deutschland zu ermöglichen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes studieren derzeit rund 43.000 junge Menschen aus Indien andeutschen Hochschulen.

"Internationaler Talentpool"

Indische Studierende in Deutschland sind dabei überdurchschnittlich häufig in IT- und Ingenieurstudiengängen eingeschrieben. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist neben Pflegeberufen der Bedarf an IT- und Ingenieurberufen besonders groß.

Deutschland stehe bei den Ingenieurwissenschaften traditionell international mit an der Spitze. Der hohe Anteil indischer Studierender der Fachrichtungen Informatik und Ingenieurwesen könne dem Land helfen, "diesen Vorsprung im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb zu halten", sagt Enzo Weber, Professor für Arbeitsmarktforschung an der Universität Regensburg.

"Der Staat kann den qualifizierten Einzelpersonen Perspektiven aufzeigen und gleichzeitig einen Pool an Talenten für den Arbeitsmarkt aufbauen", sagt Weber im Interview mit der DW. Dieser Schritt sei angesichts der alternden Bevölkerung und des Fachkräftemangels in Deutschland unerlässlich.

14 Prozent aller Studierenden in Deutschland kommen aus dem Ausland, sagt Michael Flacke vom Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Im DW-Interview sagt er, dass diese Gruppe von Studierenden die beste Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung habe, weil sie bereits in Deutschland leben und die Sprache gelernt hätten. "Wir wissen aber auch, dass das Erlernen der deutschen Sprache, das Zurechtfinden im deutschen Hochschulsystem, das sehr stark auf Selbstständigkeit ausgerichtet ist, und der Übergang in den Arbeitsmarkt für internationale Studierende besonders herausfordernd ist."

Bundestag beschließt neues Einwanderungsrecht

Das deutsche Fachrkräfteeinwanderungsgesetz trat im November 2023 in Kraft. Bis zum Juni 2024 wird die Zuwanderung aus den Drittstaaten stufenweise vereinfacht.  Aber diese Herausforderungen würden weiter bestehen, so Arbeitsmarktforscher Weber. "Die Wirksamkeit des Gesetzes hängt daher auch von der praktischen Unterstützung bei der Integration ab."

Studienbegleitend arbeiten

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz erlaubt es internationalen Studierenden nun, 20 Stunden pro Woche zu arbeiten – doppelt so lang wie bisher.

Suryansh promoviert in Computational Materials Science und theoretischer Nanophysik an der TU Dresden. Im Gespräch mit der DW sagt der 35-Jährige, dass die neuen Gesetze die Arbeit für Studierende erleichtern würden.

"Wer Kompetenzen und Qualifikationen hat, bekommt ein anständiges Gehalt. Das Leben wird auch einfacher. Außerdem gibt es dann die Option, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten", sagte er und fügte hinzu, dass sich Möglichkeiten in einer Reihe von Bereichen erschließen würden, darunter High-Tech-Sektoren wie Halbleiter- und Quantencomputer-Technik.

"Nach dem, was ich gesehen habe, ist die Vermittlungsquote recht gut", und viele Leute in seinem Labor würden innerhalb von zwei bis drei Monaten ein Jobangebot erhalten.

Deutschland TU Dresden Suryansh
Suryansh aus Indien promoviert an der TU Dresdennull Pooja Yadav/DW

IT- und Ingenieurstudenten könnten der Industrie zum Erfolg verhelfen

Mohammad Rahman Khan, ein 26-jähriger Student aus Indien, hat sich für die Universität Hannover entschieden, um dort Mechatronik und Robotik zu studieren.

In Deutschland "gibt es nach meinen Beobachtungen im Vergleich zu anderen Branchen eine erhebliche Nachfrage bei technischen Berufen und Angeboten im Zusammenhang mit Programmierung", sagte er.

Professor Weber von der Universität Regensburg sieht ebenfalls, dass der deutsche Maschinenbau einen hohen Bedarf an Fachkräften erlebe, insbesondere angesichts des Wandels, der durch die Digitalisierung in Bereichen wie Maschinenbau und Energie vorangetrieben werde.

Neue Heimat Berlin - Die indische Community in Deutschland

"Angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels wird der Zustrom internationaler Talente zu einem entscheidenden Faktor für die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit", erklärt Weber und betont, wie wichtig es sei, Fachkräfte im technischen Sektor zu gewinnen und zu halten, um den Arbeitskräftebedarf der deutschen Industrie zu decken.

Deutschland muss noch viele Hürden überwinden

Riya Joseph ist 2023 aus dem südindischen Bundesstaat Kerala nach Deutschland gezogen, um an der TU Dresden im Fachgebiet Krebsforschung zu promovieren. Der Weg von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin zur Postdoc-Stelle in Deutschland sei "vielversprechend", sagt die 24-Jährige im Gespräch mit der DW.

"Dazu gehört es, von Ländern wie Kanada zu lernen, klare Kommunikationswege zu etablieren, rechtliche Formalitäten effektiv zu erledigen und Klarheit über den Verbleib nach dem Studium zu schaffen", so Professor Weber.

Darüber hinaus müsse Deutschland angesichts globaler Trends wie der alternden Erwerbsbevölkerung in den USA "die Einwanderungsgesetze konkurrenzfähig machen, Prozesse rationalisieren, vielfältige Visaoptionen anbieten und eine nahtlose Integration für internationale Studierende und Arbeitnehmer fördern", fügt Weber hinzu.

Aus dem Englischem adaptiert von Florian Weigand

 

Wohin mit den ganzen E-Autos?

Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.

Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.

Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."

Das Problem liegt beim Landtransport

Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."

Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."

Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.

Neuwagen stehen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group vor der Verladung
Neuwagen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group - hier wird so viel importiert wie exportiertnull Ingo Wagner/dpa/picture alliance

Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?

Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.

Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.

Ein Autotransporter mit Neuwagen von Volkswagen fährt über die Bundesstraße B3
Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe führt zu Unregelmäßigkeiten im Autotransport auf der Straßenull Raphael Knipping/dpa/picture alliance

Veränderte Gewohnheiten

Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."

Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."

Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde  merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".

Fahrzeuge im Hafen von Emden vor der Verladung auf ein Autotransportschiff
Noch wird im Emder Hafen "per Hand" verladen - das soll sich in ein paar Jahren ändernnull Jörg Sarbach/picture alliance/dpa

Neue Wege in Emden

Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.

Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.                                                                     

Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.

Indiens Megawahl: Narendra Modi setzt auf die Wirtschaft

In Indien findet die größte demokratische Wahl in der Geschichte der Menschheit statt: Fast eine Milliarde Menschen sind berechtigt, bei der Parlamentswahlabzustimmen. Die Wahl läuft sechs Wochen und es gibt eine Million Wahllokale - vom Himalaja bis zum Indischen Ozean.

Der amtierende Premierminister Narendra Modi will fünf weitere Jahre regieren und strebt eine dritte Amtszeit an. Bei einem Thema gibt er sich besonders optimistisch: der Wirtschaft.

Er und seine hindunationalistische Partei BJP sprechen häufig von Viksit Bharat 2047 - was so viel bedeutet wie "Entwickeltes Indien 2047". Ein Versprechen an die Wähler, Indien zur voll entwickelten Wirtschaft zu machen - zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch wie hat sich die Wirtschaft wirklich unter Modi entwickelt? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.

Indien auf dem Weg zur drittgrößten Wirtschaft der Welt

Noch sind Japan und Deutschland die dritt- und viertgrößten Wirtschaftsnationen der Welt - hinter den USA und China. Doch viele Daten deuteten darauf hin, dass Indien bis 2026 oder 2027 den dritten Platz einnehmen könne, erklärt Arvind Panagariya gegenüber der DW. Der Ökonom von der Columbia University in New York wurde kürzlich von Modi zum Vorsitzenden der einflussreichen indischen Finanzkommission ernannt.

Auch Shumita Deveshwar, Chefökonomin für Indien bei GlobalData TS Lombard, ist optimistsich: "Angesichts des globalen Umfelds gehört Indien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt", sagt sie der DW.

Beim Wachstum ist Indien derzeit ein Ausreißer unter den großen Volkswirtschaften. In den letzten drei Monaten des Jahres 2023 stieg das BIP um 8,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit liegt das Land weit vor den anderen zehn größten Volkswirtschaften der Welt.

Hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen

Doch nicht alles läuft wirtschaftlich nur rosig: Ein besonders hartnäckiges Problem ist die Arbeitslosigkeit. Sie liegt derzeit bei zehn Prozent und ist vor allem unter jungen Menschen hoch. Angesichts der riesigen und schnell wachsenden Bevölkerung des Landes ein großes Problem.

Indien Arbeitslose wollen in Israel Arbeit finden
Arbeitslosigkeit ist in Indien ein großes Problem - sie liegt bei zehn Prozentnull DW

Sushant Singh vom Center for Policy Research in Indien sagt, es gebe "keinen Plan", um das Problem zu lösen. "Die demografische Dividende hat sich in eine demografische Katastrophe verwandelt", so Singh zur DW.

Weitere hausgemachte Probleme von Modi seien schwache Daten in Bezug auf das verarbeitende Gewerbe und ausländische Direktinvestitionen, so Singh. Nach Angaben der Großbank HSBC sind die Netto-Direktinvestitionen in Indien heute niedriger als bei Modis Amtsantritt vor zehn Jahren. "Das ist ernst zu nehmen", sagt Singh, "denn das bedeutet, dass die Menschen nicht in das verarbeitende Gewerbe, die Industrie oder Unternehmen investieren."

Obwohl Modi eine Agenda für die heimische Fertigung mit dem Namen Make in India vorangetrieben hat, entfallen auf das verarbeitende Gewerbe immer noch nur etwa zwölf Prozent der Arbeitsplätze im Land. "Wir haben uns im Grunde genommen von einem Agrarstaat zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelt, und das verarbeitende Gewerbe ist dabei einfach stehen geblieben", so die Ökonomin Deveshwar.

Wirtschaft auf Reformkurs

Der Ökonom Arvind Panagariya sagt, Modi sei wichtige Reformen angegangen. So zum Beispiel in den Bereichen Steuern, Konkursrecht und Immobilien. Das hätte "einen großen Unterschied" für die Wirtschaft gemacht.

Indien | BJP Kundgebung | Premierminister Narendra Modi
Modis Partei BJP könnte zum dritten Mal die Wahlen gewinnen. null Debajyoti Chakraborty/NurPhoto/picture alliance

Die Ökonomin Deveshwar hingegen sieht die Reformbilanz kritisch. Ihrer Meinung nach fehlt es an weiteren Strukturreformen, um die von Modi angekündigten Ziele zu erreichen. Modis regierende Nationale Demokratische Allianz, in der seine BJP die größte Partei ist, habe beispielsweise die Jahresziele für die Privatisierung staatlicher Unternehmen nicht erreicht. Sie verweist auch auf drei umstrittene Landwirtschaftsgesetze, die Modis Regierung einführte, bevor sie sie 2021 nach Massenprotesten wieder aufhob.

Armut und Ungleichheit

Deveshwar ist jedoch der Meinung, dass Modi auch deshalb so beliebt ist, weil er die Stimmung bei wirtschaftlichen Fragen spürt - so wie bei der Aufhebung der Agrargesetze. "Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er wirklich die Finger am Puls der Nation hat. Und wenn er das Gefühl hat, dass etwas in Indien nicht gut ankommt, kann er es auch zurückziehen", sagt sie.

Und da ist noch ein weiterer Grund für Modis Anziehungskraft: Indien ist in vielerlei Hinsicht nach wie vor ein extrem armes Land. Daten der Weltbank zeigen aber, dass der Anteil der in extremer Armut lebenden Inder während Modis Amtszeit weiter gesunken ist.

Indien | Wirtschaft und Exporte
Indien ist weiter gesellschaftlich sehr ungleichnull Mayank Makhija/NurPhoto/picture alliance

Panagariya sagt, dass die Regierung besonders aktiv in Bezug auf Wirtschaftsprogramme im ländlichen Indien gewesen sei. Die große Agrar- und Landbevölkerung des Landes gilt als entscheidend für Modi auf dem Weg zur nächsten Amtszeit.

"Besonders in den ländlichen Gebieten bekommt jeder etwas von der Zentralregierung", sagt Panagariya. Er verweist auf ländliche Wohnungsbauprogramme, Initiativen zum Bau von Toiletten, Bargeldtransfers, Gesetze zur Ernährungssicherheit und die weit verbreitete Verteilung von Flüssiggas zum Kochen. Das alles sei Beweis dafür, dass Modi versuche, Ressourcen an die ärmsten Teile des Landes zu verteilen.

Doch die Meinungen darüber, wie es den Ärmsten in Indien unter Modi wirklich ergangen ist, gehen weit auseinander. Sushant Singh vom Center for Policy Research sagt, die Ungleichheit habe in den letzten zehn Jahren zugenommen und verweist auf Daten aus einem aktuellenBericht des World Inequality Lab. "Sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Vermögensungleichheit hat unter Modi zugenommen", und fügt hinzu: "Pro Kopf gemessen ist Indien das ärmste Land der G20."

Modis Infrastrukturinvestitionen

In einem Bereich sind die wirtschaftlichen Erfolge aber besonders sichtbar: der Infrastruktur. Bereits im Vorwahlbudget für 2024 hat Modi eine Erhöhung der Investitionsausgaben für Straßen, Eisenbahnen und Flughäfen um elf Prozent auf umgerechnet rund 125 Milliarden Euro zugesagt.

Bereits während seiner Amtszeit hat Modi stark in die Infrastruktur investiert - in die physische, aber auch in die digitale. Panagariya hält die Investitionen für gerechtfertigt und für unerlässlich, wenn Indien die wirtschaftlichen Ziele erreichen will, von denen der Premierminister spricht.

Indien | Bauarbeiten am Zoji La Pass
Modis Regierung hat sich stark auf die Infrastruktur im Land konzentriertnull Yawar Nazir/Getty Images

Deveshwar stimmt dem zu. "Man kann es nicht wirklich als populistisch bezeichnen", sagt sie. "Es ist sehr notwendig. Eines der Hauptprobleme, die Indien seit Jahrzehnten hat, ist seine alte Infrastruktur. Und die politische Richtung ist jetzt sehr positiv."

Dieser Bereich ist für alle besonders greifbar. Der Ausbau der Infrastruktur könnte also als sichtbarer Messgrad dienen, für die Richtung, in die sich Indiens Wirtschaft entwickelt. Für Ökonomen wie Panagariya ist der Ausbau der Infrastruktur auch einer der Gründe, warumdie Wahl Modisbereits als beschlossene Sache angesehen wird.

Doch auch wenn eine dritte Amtszeit Modis wahrscheinlich ist, wirken seine hochgesteckten Ziele wie Viksit Bharat 2047 nicht als realistisch, sondern eher als Wahlkampf.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

Kann sich der Iran einen Krieg wirtschaftlich leisten?

Während die USA und die EU über neue Sanktionen gegen Teheran nachdenken, trumpft der Iran mit einer Erfolgsmeldung auf: Das Land hat mehr Öl als je zuvor in den letzten sechs Jahren exportiert. Und das trotz neuer US-Sanktionen, die 2018 der damalige Präsident Donald Trump in Kraft gesetzt hatte.

Irans Ölminister Javad Owji verkündete im März, dass die Ölexporte 2023 "mehr als 35 Milliarden Dollar" in die iranischen Kassen gespült hätten. Die "Feinde des Iran" wollten zwar seine Öl-Exporte stoppen, "aber heute können wir Öl überall hin exportieren, wo wir wollen, und das mit minimalen Rabatten", zitiert die Financial Times den Ölminister.

Die eingenommenen Dollar-Milliarden sind für das Land enorm wichtig, um innenpolitisch für sozialen Frieden zu sorgen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter den Folgen der internationalen Sanktionen: Sie haben zu einem Verfall der Landeswährung Rial geführt und die Inflation kräftig in die Höhe getrieben.

Die Inflation ist mit zuletzt rund 40 Prozent ohnehin hoch und jede Verschärfung der geopolitischen Spannungen drückt zusätzlich auf den Wert des Rial, erklärt Djavad Salehi-Isfahani, Wirtschafts-Professor an der US-Hochschule Virginia Tech, im Interview mit der DW.

Iran | Steigende Lebensmittelpreise
Die Menschen im Iran leiden seit Jahren unter starker Inflation und hohen Lebensmittelpreisen null Atta Kenare/AFP/Getty Images

Der Dollar habe in den letzten Wochen, als man mit einer Verschärfung des Konflikts mit Israel rechnete, um rund 15 Prozent an Wert gegenüber der iranischen Landeswährung zugelegt. Das habe dazu geführt, dass der Rial in den vergangenen Monaten ein Viertel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren hat, rechnet Isfahani vor. "Diese Abwertung des Wechselkurses schlägt sich sehr schnell in höheren Preisen nieder, weil der Iran viele Waren importiert." Außerdem hätten viele Waren, die man im Land selbst produziert, auch eine Importkomponente. "Ich denke daher, dass sich das Land aktuell auf eine höhere Inflation einstellen muss."

Lebensstandard auf dem Niveau von 2005

Weil sich der Iran nicht selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann, treiben der Wertverfall der Währung und die starke Inflation die ohnehin schon hohen Preise für Lebensmittel noch weiter oben. "Das wird sich stark auf das Wohlergehen der Armen auswirken, weil Nahrungsmittel etwa die Hälfte ihrer Ausgaben ausmachen", sagt der Experte für die Wirtschaft des Nahen Ostens.

Auch für die Mittelschicht habe sich die wirtschaftliche Lage in den letzten beiden Jahrzehnten spürbar verschlechtert. "Der Lebensstandard ist wegen der Sanktionen wieder auf dem Stand von vor 20 Jahren", so Isfahani. Die Wirtschaftsleistung liege dagegen "etwa auf demselben Niveau oder vielleicht ein paar Prozent höher". Trotzdem würde auch sie sehr empfindlich auf weitere Rückgänge reagieren.

Iran | Proteste gegen die wirtschaftspolitik der Regierung
Proteste gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung im Frühjahr 2022null Privat

Nach den Zahlen des Datendienstleisters Statista hat im Jahr 2022 die Landwirtschaft geschätzte 12,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Iran beigetragen: Die Industrie steuerte rund 40 Prozent und der Dienstleistungssektor etwa 47 Prozent bei.

Wirtschaftliche Situation steht und fällt mit Ölexporten

Dabei ist das Land extrem abhängig vom Rohöl-Export. Seit mehr als 90 Prozent des Öls nach China verschifft werden, laufen auch die Sanktionen des Westens immer mehr ins Leere. Umso mehr sorgen sich die Machthaber in Teheran, dass der Ölsektor als wichtigste Devisenquelle Ziel eines militärischen Vergeltungsschlags Israels werden könnte.

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

"Ich bin mir sicher, dass sie sehr besorgt sind, weil ein Krieg, der die Infrastruktur für den Ölexport beschädigt, einen schweren Schlag für die Wirtschaft bedeuten würde", bringt es Isfahani auf den Punkt. Nach dem Schock der 2018 durch Trump verhängten Sanktionen habe der Iran mittlerweile wieder 80 Prozent seiner damaligen Exportmenge erreicht. Die meisten Experten führten das auf die Aufweichung der Sanktionen zurück, seit Joe Biden an der Macht ist, so Isfahani.

"Die iranische Wirtschaft ist in der Tat zum Teil durch die Zunahme der Ölexporte gewachsen. Nicht der gesamte Anstieg des BIP, der sich auf etwa fünf Prozent pro Jahr beläuft, was im Vergleich zu dem, was in der Region insgesamt nach der Covid-Pandemie passiert, nicht schlecht ist", erklärt Isfahani.

Allerdings habe sich das nicht in einem höheren Lebensstandard für die Bevölkerung niedergeschlagen, betont der Iran-Experte. Denn viele finanzielle Ressourcen seien in den Ausbau des Militärs und anderer Maßnahmen des Regimes geflossen.

Iran Bandar Abbas | Islamische Revolutionsgarde erhält neue Schnellboote und Schiffe
Die Islamischen Revolutionsgarden erhalten im Januar 2024 neue Ausrüstung in der Hafenstadt Bandar Abbasnull Sephanews/ZUMA Press/picture alliance

Korruption und Intransparenz

Viel Geld versickert ohnehin in den intransparenten Strukturen der schiitischen Machthaber in Teheran. Im Index von Transparency International, der die wahrgenommene Korruption misst, steht Iran auf Platz 149 von 180 Ländern. Deutschland rangiert dort auf Platz neun, die USA auf dem 24. Rang.

Besonders undurchsichtig ist die Rolle der Revolutionsgarden (eine Parallelarmee) und religiösen Stiftungen, die zentrale Teile der Wirtschaft kontrollieren. Sie zahlen keine Steuern, müssen keine Bilanzen vorlegen und sind vor allem dem politischen und religiösen Oberhaupt der Islamischen Republik, Ajatollah Ali Chamenei, unterstellt.

Für den Nahost-Experten Martin Beck von der University of Southern Denmark (SDU) ist die Wirtschaft des Iran geprägt durch "eine Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre, die eine mit hoher Korruption verbundene staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik befördert".

Niedrige Wirtschaftsleistung pro Kopf

Aber obwohl sich die Einnahmen aus dem Ölexport in den vergangenen Jahren zunehmend stabilisiert haben, ist der Iran alles andere als ein ökonomisches Schwergewicht. Obwohl seine Bevölkerung mit rund 88 Millionen fast zehnmal so groß ist wie die seines Erzfeindes Israel (neun Millionen), war seine Wirtschaftsleistung 2022 mit 413 Milliarden US-Dollar deutlich niedriger als die des jüdischen Staates mit 525 Milliarden US-Dollar.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2022 im Iran mit geschätzten rund 4043 US-Dollar weit abgeschlagen hinter Israel (54.336 US-Dollar) und dem regionalen Rivalen Saudi-Arabien mit rund 34.441 US-Dollar. Wie dramatisch der Absturz der Wirtschaftsleistung im Staat der Mullahs ist, macht der Vergleich zum Jahr 1990 deutlich: Damals lag das Bruttoinlandsprodukt laut Statista pro Kopf im Iran bei 10.660 US-Dollar, also mehr als doppelt so hoch. 

Arme Leute im Iran
2022 lebten 26 Millionen Menschen im Iran unter der Armutsgrenze (Angaben des Ministry of Cooperatives, Labour, and Social Welfare in Teheran) null ISNA

Wie sich die Wirtschaft des Landes weiter entwickelt, hängt vor allem davon ab, ob neue westliche Sanktionen die iranischen Ölexporte spürbar drosseln können.

Ölexporte sind entscheidend

Teheran ist es gelungen, in den ersten drei Monaten des Jahres durchschnittlich 1,56 Millionen Barrel (ein Barrel sind rund 159 Liter) Rohöl pro Tag zu verkaufen - und zwar fast alles nach China. Das war nach Informationen des Datenanbieters Vortexa der höchste Wert seit dem dritten Quartal 2018.

"Die Iraner beherrschen die Kunst, Sanktionen zu umgehen", wird Fernando Ferreira von der Rapidan Energy Group in den USA in der Financial Times zitiert. "Wenn die Biden-Regierung wirklich etwas bewirken will, muss sie den Fokus auf China verlagern."

Die USA sind zwar mittlerweile viel unabhängiger von Öl-Exporten aus dem Nahen Osten. Trotzdem würden höhere Ölpreise durch eine Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran auch die Weltmarkt-Preise - und damit die Inflation weiter in die Höhe treiben. Für US-Präsident Joe Biden wäre das in einem Wahljahr mehr als ungünstig und eine Steilvorlage für seinen Herausforderer Donald Trump.

Doch ganz gleich, ob es zu einer Verschärfung der Sanktionen kommt oder nicht. Wäre die iranische Wirtschaft aktuell bereit für eine mögliche militärische Eskalation mit Israel?

Die Antwort von Djavad Salehi-Isfahani ist deutlich: "Insgesamt ist sie nicht bereit für einen längeren militärischen Konflikt. Deshalb haben sie (die Machthaber in Teheran, Anm. d. Red.) sehr darauf geachtet, sich nicht zu sehr in den Gaza-Krieg einzumischen. Und der Angriff auf Israel war eher symbolisch als einer, der Schaden anrichten wollte."

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

 

Großeinsatz und mehrere Verhaftungen bei Cannabis-Betrugsfall

Es war im Juli 2022, als tausende Anleger plötzlich nicht mehr an ihr Geld kamen. Sie hatten in ein Berliner Unternehmen mit dem Namen JuicyFields investiert. Das hatte zwei Jahre lang mit hohen Renditen für ein Investment in Cannabis gelockt. Doch im Juli brannten die Kriminellen mit dem Geld durch und tauchten unter.

Nach den neuesten Schätzungen der europäischen Polizeibehörde Europol hat das Berliner Startup bei Anlegern 645 Millionen Euro eingesammelt. Knapp 200.000 Menschen sollen JuicyFields ihr Geld anvertraut haben.

Weitere Verhaftungen könnten folgen

Ein Jahr und neun Monate später hatte die Polizei nun anscheinend ausreichend Beweise: In einer Nacht- und Nebelaktion mit dem Namen "Action Day"haben Behörden aus mehr als 30 Ländern Ende vergangene Woche gleichzeitig fast 40 Wohnungen und Büros durchsucht. 400 Beamte waren in elf Ländern im Einsatz und verhafteten insgesamt neun Personen - darunter auch den mutmaßlichen Strippenzieher in der Dominkanischen Republik.

Am Stockholmer Flughafen Arlanda wurden wenige Tage später eine Frau und ihr Freund festgenommen. Sie sollen laut einem Medienbericht nach Spanien überführt werden. Weitere Verhaftungen könnten folgen. So sagte ein Pressesprecher der spanischen Polizei im Gespräch mit der DW, dass weitere acht Haftbefehle vorliegen, die noch nicht vollstreckt seien. "Die Aktion ist ein Signal, dass wir in Europa auch bei komplexen Fällen die Kriminellen bekommen können", so der Sprecher weiter. 

Die Leitung der Ermittlung lag bei Behörden in Frankreich, Spanien und Deutschland. "Das war auf jeden Fall eine der größeren Nummern", sagte die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Berlin, Karen Häußer, zur DW. "Das erfordert auch sehr viele Personen, die daran beteiligt sind. Sehr viele spezialisierte Kräfte. Das war insgesamt schon ein enormer Kräfteaufwand, das zu ermitteln", so Häußer. 

Verhaftungen bestätigen DW-Recherchen

Auf internationalen Cannabismessen trat JuicyFields lange Zeit pompös auf: Mit Lamborghinis, Helikoptern, eindrucksvollen Partys und großen Messeständen versuchte das Unternehmen, das Vertrauen von Anlegern zu gewinnen.

Der DW kam das System JuicyFields bereits Mitte 2021 verdächtig vor. Seitdem recherchierte sie zu dem Fall. Sie befragte Manager zum Geschäftsmodell und begleitete euphorische Anleger, als die Betrugsmasche noch nicht aufgeflogen war. Nachdem die Kriminellen sich Mitte 2022 mit dem Geld der Anleger aus dem Staub machten, begab sich die DW auf die Spurensuche nach den Drahtziehern. Aus den Recherchen entstand der achtteilige Podcast Cannabis Cowboys, zu hören auf Englisch und Deutsch.

Action Day: Wer wurde verhaftet?

Die internationalen Verhaftungen bestätigen nun die DW-Nachforschungen. Weder die deutschen Behörden noch Europol wollen sich zur Identität der Verhafteten äußern. Doch durch eigene Recherchen und Insiderinformationen sind der DW die Namen bekannt. Dabei handelt es sich um diejenigen Personen, die schon im Rahmen der Podcast-Reihe beleuchtet wurden - bis hin zum mutmaßlichen Boss der Bande.

Wer steckt hinter JuicyFields?

In der Dominikanischen Republik wurde nun ein Mann mit russischem Pass festgenommen. Laut lokalen Medien handelt es sich dabei um Sergei Berezin, der auch unter dem Decknamen Paul Bergholts auftrat. Europol bezeichnet den Mann als den "möglichen Hauptorganisator des Betrugssystems".

Laut einem Whistleblower, den die DW Anfang 2023 in Finnland traf, hat sich Sergei Berezin alias Paul Berholts die Betrugsmasche bis ins letzte Detail ausgedacht. Demnach soll Paul Berholts ein Computernerd sein, der selbst gerne Cannabis raucht und mit seinem engsten Kreis vom russischen St. Petersburg aus agierte.

Lamborghinis vor Messe in Barcelona
Lamborghinis mit Firmenlogo sollten Anleger vom Erfolg von JuicyFields überzeugennull DW

Nach dem Ende von JuicyFields sollen er und sein enger Kreis mit Yachten in der Karibik gesegelt sein. "Sie haben dort Häuser und Land gekauft und in Unternehmen investiert", so der Whistleblower. Der nun verhaftete mutmaßliche Drahtzieher soll nun von der Dominikanischen Republik nach Spanien ausgeliefert werden.

Bei ihrem Großeinsatz konnte die Polizei Bargeld, Konten, Kryptowährungen und Immobilien im Wert von insgesamt neun Millionen Euro beschlagnahmen. Sollte die Summe im Laufe der weiteren Ermittlungen nicht anwachsen, werden Anleger wohl kaum einen Großteil ihre Einlagen wiedersehen.

Was war JuicyFields?

JuicyFields bot Investoren sogenanntes E-Growing an. Dabei konnte man am Anbau und Verkauf von medizinischem Cannabis profitieren. Anleger konnten auf dem Computer verfolgen, wie ihre Pflanzen wuchsen, getrocknet und verkauft wurden. JuicyFields versprach dabei absurd hohe Renditen von bis zu 100 Prozent im Jahr. Wie üblich bei einem Schneeballsystem, wurden diese anfangs auch ausbezahlt, um möglichst viele neue Anleger zu gewinnen. Denn bei einem Schneeballsystem werden alte Anleger mit den Einzahlungen von neuen Anlegern bedient.

Screenshot Juicy Fields
Die günstigste Pflanze Juicy Flash gab es für 50 Euro. Alle 108 Tage wurden Anleger und Anlegerinnen an der Ernte beteiligt. Hat man das mehrmals wiederholt, konnte man 1000 Prozent Gewinn im Jahr machen. null Screenshot Juicy Fields

Die Einstiegshürde war dabei sehr niedrig. Schon ab 50 Euro konnten Anleger eine virtuelle Cannabis-Pflanze kaufen. Zwei Jahre funktionierte die Masche - JuicyFields eröffnete währenddessen Büros und Niederlassungen in Amsterdam und der Schweiz und verkündete etliche Partnerschaften und Beteiligungen.

Die Spur führt nach Russland

Bei ihren Recherchen hat die DW auch frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Drahtzieher des Betrugssystems in Russland sitzen. Das bestätigt auch Karen Häußer von der Staatsanwaltschaft Berlin: "Momentan wird weiter davon ausgegangen, dass die Unternehmensstruktur von Russland aus gesteuert wurde."

Den Verhafteten muss nun der Prozess gemacht werden. In Deutschland muss das innerhalb von sechs Monaten stattfinden; in Spanien bis zu zwei Jahre nach Verhaftung. Verlängerungen sind möglich. Die Behörden müssen nun alle Daten auswerten, die ihnen zur Verfügung stehen. Womöglich setzen sie auch darauf, dass einige der Verhafteten mit der Polizei kooperieren.

Hier finden Sie achtteilige Podcast-Serie Cannabis Cowboys finden sie hier auf Deutschund hier auf Englisch. Und überall da wo es Podcasts gibt. 

Was bedeutet der Angriff des Irans auf Israel für die Weltwirtschaft?

Nachdem Israel den iranischen Angriff mit  Hunderten Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ohne größere Schäden abwehren konnte, herrscht erst einmal Erleichterung an den internationalen Finanzmärkten: Die Ölpreise sinken leicht und die Futures auf den US-Index S&P 500 haben ins Plus gedreht. Trotzdem ist "seit Freitag die Geopolitik wieder die größte Sorge für die Märkte" geworden, schreiben die Analysten der Deutschen Bank in einer Mitteilung an ihre Kunden.

Immer, wenn sich die geopolitische Lage im Nahen Osten verschärft, lässt sich das weltweit an den Ölpreisen ablesen: Denn die Preise für das Nordseeöl Brent oder sein US-Pendant WTI (West Texas Intermediate) sind wie die Fieberkurve der Weltwirtschaft.

Allerdings hatten die Sorgen vor einer Eskalation im Nahen Osten die Preise für Rohöl schon vor dem iranischen Angriff auf Israel um rund zehn Prozent nach oben getrieben. Laut Rohstoff-Experte Jorge León von Rystad Energy, einem Energieberatungsunternehmen in Oslo, war dieser Anstieg "fast ausschließlich auf den anhaltenden Konflikt zurückzuführen".

Explosionen über Tel Aviv in der Nacht des iranischen Angriffs am 14. April 2024
Explosionen über Tel Aviv in der Nacht des iranischen Angriffs am 14. April 2024null Mostafa Alkharouf /picture alliance/Anadolu

Ölpreise treiben Inflation

"Als allgemeine Faustregel gilt, dass ein Anstieg der Ölpreise um zehn Prozent die Gesamtinflation in den Industrieländern um 0,1 bis 0,2 Prozent erhöht. Dementsprechend wird der Anstieg des Ölpreises im vergangenen Monat die Gesamtinflation in diesen Volkswirtschaften um etwa 0,1 Prozent erhöhen", rechnet Neil Shearing vor, Chefvolkswirt bei Capital Economics.

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass die Notenbanken durch den erhöhten Inflationsdruck ihre geplanten Zinssenkungen auf Eis legen?

Es sei unwahrscheinlich, dass dies einen wesentlichen Einfluss auf die geldpolitischen Entscheidungen der Zentralbanken haben wird, glaubt Shearing. Dazu müssten die Ölpreise stärker und nachhaltiger steigen. Entscheidend seien die Auswirkungen auf die Kerninflation, der Anstieg der Verbraucherpreise ohne die Berücksichtigung von Nahrungsmitteln und Energie. Denn erst wenn die Erzeuger ihre höheren Energiekosten an die Verbraucher weitergeben, könnten die Notenbanken bei den für 2024 angekündigten Zinssenkungen auf die Bremse treten, glaubt Shearing.

Zuletzt war vor allem in den USA die Inflation wieder in den Fokus gerückt. Im März 2024 waren die US-Verbraucherpreise um rund 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen. Neil Shearing von Capital Economics sieht deshalb erst für den Herbst genug Spielraum für die US-Notenbank Federal Reserve für eine Zinssenkung in den USA: "Wir rechnen mit dem ersten Schritt im September. Und unter der Annahme, dass die Energiepreise in den nächsten Monaten nicht in die Höhe schnellen, gehen wir davon aus, dass sowohl die EZB als auch die BoE (Bank of England) im Juni eine Zinssenkung vornehmen werden."

Steigerung der Öl-Förderung in Sicht?

Eine weitere große Unbekannte ist die künftige Förderpolitik der so genannten OPEC+. Darunter versteht man die traditionellen Förderländer des Nahen Ostens, Afrikas und Venezuela, die mit den Nicht-OPEC-Staaten wie Russland, Kasachstan, Mexiko und Oman kooperieren. Rohstoff-Experten diskutierten zuletzt verstärkt darüber, ob etwa die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Fördermenge demnächst ausweiten könnten, um einer Abkühlung der Weltkonjunktur durch zu teures Öl entgegenzuwirken.

Aktuell haben die Förderländer ihre freiwilligen Produktionskürzungen bis Ende Juni verlängert. Erst auf der Ministertagung der OPEC am 2. Juni könnten diese Kürzungen rückgängig gemacht werden, erklärt Jorge León. "Sollte die geopolitische Lage in der Region jedoch weiter eskalieren, könnte die Gruppe in den kommenden Wochen ein außerordentliches Treffen abhalten", so der Ölmarkt-Experte.

Mit fast sechs Millionen Barrel pro Tag (1 Barrel sind rund 159 Liter) an freien Kapazitäten könnte die OPEC die Produktion leicht erhöhen, um den Preisdruck nach oben zu begrenzen, falls der Konflikt eskaliert. Die Wahrscheinlichkeit dafür sei hoch, unterstreicht Jorge León. 

"Anhaltend höhere Ölpreise würden die Inflation im Westen wieder anheizen und die Zentralbanken dazu veranlassen, alle Bemühungen um eine geldpolitische Normalisierung zu verschieben, was zu einem schwächeren globalen Wirtschaftswachstum führen würde", so der Rystad Energy-Analyst.

Ein Hubschrauber fliegt über einem Containerschiff mit Verbindung zu Israel in der Straße von Hormus
Dieses Standbild aus einem Video soll laut Nachrichtenagentur Associated Press die Übernahme eines Containerschiffs in der Straße von Hormus durch iranische Kräfte zeigennull Mideast Defense Official Handout/AP/dpa/picture alliance

Entscheidend für die weitere Richtung der Ölpreise ist auch die Situation in der Straße von Hormus, wo seit Monaten Angriffe der mit Teheran verbündeten Huthi-Miliz auf die internationale Schifffahrt die Frachtpreise in die Höhe getrieben hat. Nach der Beschlagnahmung eines "mit Israel verbundenen Schiffes", wie es die Machthaber in Teheran formulieren, am Samstag durch den Iran, rückt die Meerenge, durch die rund ein Fünftel des weltweit gehandelten Öls transportiert wird, wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Warten auf Reaktion Israels

Jetzt warten die Märkte auf die Reaktion Israels. Es gibt widersprüchliche Signale, wie das israelische Kriegskabinett auf die Attacke Teherans reagieren könnte. Die USA versuchen, mäßigend auf die Regierung in Jerusalem einzuwirken. Aber kaum jemand glaubt, dass es gar keine Reaktion Israels geben wird.

"Wer erwartet, dass Israel auf Irans beispiellose Attacke nicht reagiert, leidet entweder unter Wahnvorstellungen oder hat keine Ahnung davon, wie die Dinge im Nahen Osten funktionieren -  oder beides", schrieb Avi Mayer, der frühere Chefredakteur der Jerusalem Post, auf X. "Darauf nicht zu reagieren würde man als Feigheit sehen und das würde nur noch zu mehr und schwerwiegenderen Angriffen einladen. Israel wird darauf antworten", so Mayer.

Bleibt abzuwarten, wie stark diese Reaktion ausfällt. "Im schlimmsten Fall könnte ein energischer Vergeltungsschlag Israels eine Eskalationsspirale auslösen, die möglicherweise zu einem beispiellosen regionalen Konflikt führt", befürchtet Jorge León.

Unter diesen Umständen "würden die geopolitischen Prämien deutlich steigen" und eine neue Runde von US-Sanktionen gegen den Iran könnte die Weltwirtschaft stärker belasten, als es zurzeit absehbar ist.

Sanierungsfall Deutschland - wer soll's bezahlen?

Der Chemiekonzern BASF gehört zu den industriellen Schwergewichten Deutschlands. Weltweit aktiv, mit rund 230 Produktionsstandorten und knapp 112.000 Mitarbeitern. Ein Drittel davon sind am deutschen Stammsitz in Ludwigshafen tätig, eine Autostunde südlich von Frankfurt am Main. "Es ist der größte Chemiestandort der Welt", sagt Vorstandschef Martin Brudermüller.

Es ist aber auch ein Standort in Schieflage. "2023 haben wir überall auf der Welt Geld verdient, aber in Ludwigshafen haben wir 1,5 Milliarden Euro Verlust gemacht", berichtete der BASF-Chef Mitte März auf einer Veranstaltung der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin. Vor allem die gestiegenen Energiekosten machen dem Konzern zu schaffen und die Vorgaben für mehr Klimaschutz.

Deutschland | Martin Brudermüller, BASF- Vorstand, steht bei der Jahrespressekonferenz zur Berichterstattung für das Gesamtjahr 2023 vor Journalisten. Zwei Mikrofone und mehrere Kameras sind auf ihn gerichtet. Im Hintergrund ist eine blaue Wand mit dem Logo von BASF zu sehen
BASF-Vorstand Martin Brudermüller zweifelt am Standort Deutschlandnull BASF SE

Stromtransport teurer als die Erzeugung 

Die Produktion soll elektrifiziert werden, der Strombedarf werde um das Drei- bis Vierfache steigen. Doch wo soll die Energie herkommen? "Wir müssen unsere hocheffizienten Gaskraftwerke in Ludwigshafen abschalten", klagt Brudermüller, der Alternativen finden muss. "Wenn ich gezwungen bin, baue ich auch Windkraftwerke in der Nordsee."

Eine Beteiligung an einem Windpark vor der niederländischen Küste gibt es bereits. Allerdings haben die deutschen Stromnetzbetreiber ihre Preise für die Nutzung der Stromleitungen zuletzt im Januar 2024 verdoppelt. Jetzt kostet es mehr, den Strom nach Ludwigshafen zu leiten, als ihn in der Nordsee zu produzieren.

Die Kosten der Energiewende

Die Stromnetzbetreiber brauchen das Geld für den Ausbau der Energieinfrastruktur. Bislang sind rund 14.000 Kilometer neue Hochspannungsleitungen geplant, tausende weiterer Kilometer werden absehbar dazukommen. Geplante Zuschüsse der Bundesregierung in Milliardenhöhe fallen weg, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Haushaltsführung des Bundes teilweise für verfassungswidrig erklärt hat.

Bau der Stromtrasse NordLink zwischen Norwegen und Deutschland. Das Foto zeigt die Verlegung von Kabeln. Bauarbeiter stehen in Gräben, in denen Leitungen zu sehen sind
Tausende Kilometer Stromkabel werden unterirdisch verlegt. Das ist zwar teurer als überirdische Leitungen, aber es gab zu viele Proteste gegen sichtbare Stromtrassennull Carsten Rehder/dpa/picture alliance

Der Bund muss jetzt sparen, Verbraucher und Unternehmen sollen stärker zur Kasse gebeten werden. Nicht nur der BASF-Chef sieht das skeptisch. Zusammen mit den Vorständen der Deutschen Telekom und des Energieriesen E.on hat Brudermüller ein Schreiben aufgesetzt, in dem die drei Top-Manager Alarm schlagen und fordern, dass die Transformationskosten für die Energiewende anders finanziert werden müssen. Zumal die Netzentgelte absehbar noch weiter steigen würden.

Infrastruktur als Überlebensfrage

Doch nicht nur die Energieinfrastruktur lässt die Vorstände klagen. Auch die übrige Infrastruktur in Deutschland sei "vielfach unzureichend" und werde zum "Wachstumshemmnis". Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit habe über Jahrzehnte auf einer sehr gut ausgebauten und verlässlich operierenden Infrastruktur insbesondere in den Bereichen Energie, Transport und Telekommunikation beruht. Dieser Wettbewerbsfaktor drohe seit Jahren, sich ins Gegenteil zu verkehren.

"Infrastruktur ist eine Überlebensfrage", formuliert Brudermüller und verweist auf kaputte Straßen und Autobahnen, marode Brücken und Wasserwege, eine unpünktliche und unzuverlässige Deutsche Bahn, fehlende Stromtrassen, schleppenden Glasfaserausbau und eine unzureichende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. "Wenn das nicht wird, dann werden keine Firmen mehr nach Deutschland kommen."

Straßen, Brücken, Schienen - alles marode

Eine Kritik, die in der Bundesregierung durchaus gehört wird. Volker Wissing (FDP), Minister für Digitales und Verkehr, sieht erheblichen Sanierungsbedarf in Deutschland. An erster Stelle stehen für ihn die Verkehrswege, allen voran die Bahn, Autobahnen und Fernstraßen. Allein 4500 Autobahnbrücken sind so marode, dass sie zum Teil nur noch gesprengt und neu gebaut werden können.

Auch in Deutschland marode Brücken

Bei der Deutschen Bahn sind auf 40 Streckenabschnitten mit einer Gesamtlänge von gut 4000 Kilometern Gleise und Oberleitungen so verschlissen, dass ein kompletter Neubau nötig ist. Der Zuschuss der Bundesregierung beläuft sich bis 2027 auf rund 27 Milliarden Euro. Schon jetzt ist absehbar, dass das nicht reichen wird.

Streit über die Schuldenbremse

Bund, Länder und Kommunen haben bei weitem nicht die Mittel, um den Sanierungs- und Modernisierungsstau zu stemmen. Zumal die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse vorschreibt, dass der Staat nur so viel Geld ausgeben darf, wie er einnimmt.

Eine Vorschrift, die bei den laufenden Haushaltsverhandlungen für 2025 für erheblichen Streit in der Bundesregierung sorgt. SPD und Grüne würden die Schuldenbremse am liebsten erneut aussetzen, wie es in den Notsituationen während der Corona-Pandemie und wegen des Kriegs in der Ukraine in den letzten Jahren der Fall war. Die FDP hält dagegen und pocht darauf, dass ab 2025 alle Ministerien sparen müssen. Auch ohne größere Ausgaben für Infrastruktur klafft im Haushalt absehbar eine Lücke von 25 bis 30 Milliarden Euro.

Private Geldgeber finden

FDP-Minister Wissing steht zur Schuldenbremse. Wenn notwendige Investitionen nicht im Haushalt abgebildet werden könnten, müsse man eben andere Wege gehen. Deutschlands Gesellschaft sei sehr vermögend. "Wir müssen privates Kapital mobilisieren", fordert Wissing. Dafür will er einen milliardenschweren Infrastrukturfonds auflegen, in dem Finanzmittel für mehrere Jahre gesammelt und gebündelt werden könnten.

Berlin | Bundesverkehrsminister Volker Wissing enthüllt einen ICE-Zug der 4. Generation bei der Übergabe an die Bahn
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP, Mitte) bei der Übergabe eines neuen ICE-Zugs an die Bahn. Wenn die Gleise marode sind, kommen aber selbst moderne Züge nur selten pünktlich ans Zielnull Sebastian Gollnow/dpa/(picture alliance

Während Wissing das Geld in erster Linie für die Verkehrsinfrastruktur vorsieht, kann sich FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner noch mehr vorstellen. In einem ARD-Interview verwies er darauf, dass beispielsweise Versicherungen riesige Summen ihrer Kunden verwalten. "Dieses Geld zu mobilisieren zum Beispiel in den Ausbau der Stromnetze, in den Ausbau der Wasserstoffnetze, das ist alle Mühe wert."

Doch wie soll ein solcher Fonds funktionieren? Private Anleger werden ihr Geld sicherlich nur dann langfristig zur Verfügung stellen, wenn sie mit entsprechenden Renditen rechnen können. Wird auf Autobahnen eine Maut für alle erhoben werden müssen, muss man Gebühren bezahlen, um eine Brücke zu überqueren? Aus dem Verkehrsministerium gibt es auf solche technischen Fragen noch keine Antworten.

Schuldenfinanzierte Infrastruktur? Es gibt Befürworter

Bei SPD und Grünen würde man viel lieber die Schuldenbremse so reformieren, dass Investitionen in die Infrastruktur auch über Kredite finanziert werden könnten. Unterstützung dafür kommt von einer ganzen Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern. Selbst in der Wirtschaft, wo eigentlich eine strikte Haushaltsdisziplin befürwortet wird, wachsen die Sympathien für eine flexiblere Auslegung der Schuldenbremse.

Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, schlägt vor, neben dem Bundeshaushalt einen 500 Milliarden Euro schweren Sonderfonds für Infrastruktur und Transformation einzurichten. Vorbild soll der Sonderfonds für die Bundeswehr sein, für den der Staat 100 Milliarden Euro Kredite aufnahm und der mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz kam. Da er dort verankert wurde, hat er genauso Verfassungsrang wie die Schuldenbremse.

Cybersecurity-Regeln fordern Autobauer heraus

Im Kino rettet Meisterspion James Bond mit seinen bestens ausgestatteten Autos gleich die ganze Welt. In der Wirklichkeit können echte Spione unsere Autos als Werkzeuge benutzen. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben.

Denn die elektronische Ausstattung der Autos dient nicht nur der Bequemlichkeit ihrer Fahrer und soll zur Sicherheit im Straßenverkehr beitragen. Sie ermöglicht ebenso, dass Autos und ihre Benutzer immer besser beobachtet werden können.

Das haben die Vereinten Nationen und die Europäische Union erkannt und darauf reagiert: Mit den UN-Regeln R155 und R156, die die Cybersecurity und die damit verbundenen Software-Updates betreffen, werden höhere Anforderungen auch an Autofirmen und ihre Zulieferer gestellt. Diese UN-Maßgaben werden ab dem 7. Juli dieses Jahres auch in der EU umgesetzt.

Ladestecker in einem VW ID.3
E-Mobilität ist ja eine ziemlich saubere Sache - aber sauber und einfach auch für Hacker und Spione ...null Torsten Sukrow/SULUPRESS.DE/picture alliance

Spione mit vier Rädern

Die Relevanz von Cybersecurity im Verkehr erklärte der Wirtschaftsforscher Moritz Schularick dem Handelsblatt am 23. März damit, dass "Fragen der nationalen Sicherheit" berührt seien: "Es geht um sensible Daten, die abgesaugt werden können - auch bei den E-Autos. Diese sind mit ihren vielen Sensoren und Kameras aus Sicht von Geheimdiensten nichts anderes als Spionage-Maschinen auf vier Rädern."

Bei einer Veranstaltung der Helmut Schmidt Foundation und der DW in Berlin hatte er bereits im Dezember 2023 gesagt: "Diese Autos, die durch die Straßen von Berlin fahren, filmen alles, was um sie herum passiert und geben es an ihre Unternehmen weiter - auch an ihre Muttergesellschaften in China". Und Schularick stellte die rhetorische Frage: "Wollen wir das? Wollen wir Augen und Ohren einer ausländischen Regierung millionenfach auf unseren Straßen?"

Die Spione sind schon da

Das zeigt auch die Studie Automotive Cyber Security, die vom Center of Automotive Management (CAM) in Kooperation mit dem Unternehmen Cisco Systems im März 2024 verfasst wurde. Mit der zunehmenden Vernetzung und Digitalisierung von Autos, Produktion und Logistik steige das Risiko für Cyberangriffe auf die Automobilindustrie.

"Die Cybergefahrenlage für die Automobilbranche ist kontinuierlich angestiegen. Mit der Verbreitung von Software-definierten Fahrzeugen, der Elektromobilität, dem autonomen Fahren und der vernetzten Lieferkette erhöhen sich die Cyberrisiken weiter", fasst Studienleiter Stefan Bratzel, Direktor des CAM, zusammen.

Die Studie zeigt an Beispielen, wie gefährdet die Industrie schon jetzt ist. So musste der weltgrößte Autobauer Toyota vor zwei Jahren seine Produktion unterbrechen, weil ein Zulieferer von "von einem mutmaßlichen Cyberangriff" betroffen war. Im Sommer 2022 wurde der Zulieferer Continental zum Ziel von Cyberkriminellen: Angreifer hatten trotz etablierter Sicherheitsvorkehrungen Daten aus IT-Systemen entwendet. Im März 2023 sei auch Tesla angegriffen worden. Hacker wählten sich in ein Fahrzeug ein und konnten diverse Funktionen ausführen. Sie konnten etwa die Hupe betätigen, den Kofferraum öffnen, das Abblendlicht einschalten und das Infotainment-System manipulieren.

Roter Porsche Macan auf sonst leerer Straße vor Küstenpanorama
Der Porsche Macan geht jetzt nur noch als "Verbrenner" in den Exportnull DW

Das Aus für Up & Bulli?

Auch wegen der neuen Regeln nehmen nun einige Hersteller Modelle aus dem Programm. Bei Volkswagen ist das der Kleinwagen Up und der Transporter T6.1, bei Porsche sind es die Modelle Macan, Boxster und Cayman, die als "Verbrenner" nur noch in den Export gehen, wie die Deutsche Presseagentur (dpa) meldet. Auch Audi, Renault und Smart würden ältere Modelle nach dem Stichtag nicht mehr bauen.

Der Agentur gegenüber begründete VW-Markenchef Thomas Schäfer die Maßnahmen mit dem hohen Aufwand, der für die neuen Regeln erforderlich sei: "Wir müssten da sonst noch einmal eine komplett neue Elektronik-Architektur integrieren. Das wäre schlichtweg zu teuer."

Wiebke Fastenrath von der Unternehmenskommunikation Volkswagen Nutzfahrzeuge bestätigt das der DW gegenüber: "Um die gesetzlichen Regelungen für die Elektronik-Architektur des T6.1 umzusetzen, hätte es sehr hoher Investitionen in eine auslaufende Plattform bedurft. Aufgrund der geringen Restlaufzeit des Modells wurden diese Investitionen nicht mehr getätigt, zumal die Nachfolgemodelle bereits auf dem Markt sind."

Portrait von Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM)
Für CAM-Direktor Stefan Bratzel ist "Cybersecurity ein Hygienefaktor" in der Autoindustrienull CAM

"Ein unerlässlicher Hygienefaktor"

Bestens vorbereitet scheint der schwäbische Konkurrent Mercedes-Benz zu sein. Unternehmenssprecherin Juliane Weckenmann teilte der DW mit, dass die "Regularien keine Auswirkungen auf das Portfolio von Mercedes-Benz" hätten: "Alle unsere Architekturen erfüllen die Anforderungen und sind oder werden rechtzeitig nach UN R155/ R156 zertifiziert."

Auch bei Volkswagen sieht man sich gerüstet: "Zum neuen Modelljahr 2025", teilte uns Wiebke Fastenrath mit, "werden unsere Modelle entsprechend überarbeitet". Das hält Stefan Bratzel auch für bitter nötig, denn "eine professionelle Cybersecurity-Strategie von Unternehmen gewinnt als unerlässlicher Hygienefaktor in der Automobilindustrie stark an Bedeutung".

"Für Automotive-Unternehmen wird das Thema Cybersecurity entscheidend", ergänzt Christian Korff, Mitglied der Geschäftsleitung von Cisco Deutschland und Auftraggeber der CAM-Studie. "Die Automobilindustrie ist ein Eckpfeiler unserer Wirtschaft. Wir dürfen uns hier keine Anfälligkeiten im Cyberbereich erlauben. Nur wer auf allen ebenen sichere Fahrzeuge und Services bereitstellt, behält das Vertrauen der Kunden."

Chip-Krieg: USA und EU fürchten Chinas Dominanz bei älteren Chips

Sie sind nicht zu vergleichen mit den hochmodernen Super-Chips, die Plattformen für künstliche Intelligenz (KI) antreiben. Dafür sind sie überall im Einsatz: ältere, ausgereifte Halbleiter, die in Waschmaschinen, Autos, Fernsehern oder medizinischen Geräten verbaut werden.

In der Branche werden sie Legacy Chips genannt, was man mit "älteren Chips" übersetzen könnte. Dass China hier eine große Marktmacht hat, bereitet Strategen in den USA und der EU zunehmend Kopfzerbrechen.

China investiert stark

Mit Exportverboten hat Washington chinesischen Unternehmen bereits den Zugang zu den modernsten Chips westlicher Bauart erschwert- in der Hoffnung, Pekings Aufstieg zu einer technologische Supermacht zu bremsen. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf die älteren Chips, von denen fast jeder dritte derzeit in China produziert wird.

Peking will seine Investitionen in die Herstellung älterer Chips stark erhöhen. Im September 2023 hat die die chinesische Regierung einen staatlich geförderten Investitionsfonds in Höhe von umgerechnet 40 Milliarden US-Dollar (37 Milliarden Euro) angekündigt, um die heimische Halbleiterproduktion zu stärken. Seitdem werden in den USA und in der EU Rufe laut, die heimische Halbleiterindustrie besser vor der chinesischen Übermacht zu schützen.

USA und EU prüfen Chinas Chip-Dominanz

Im Dezember ordnete die Regierung von US-Präsident Joe Biden eine Überprüfung der gesamten Halbleiter-Lieferkette an, um Chinas Dominanz bei älteren Chips zu bewerten. Eine Sitzung des EU-US-Handels- und Technologierats Anfang April im belgischen Leuven könnte eine ähnliche Überprüfung durch die EU-Kommission nach sich ziehen, die Exekutive der Europäischen Union.

In einer Erklärung des Rates nach der Sitzung hieß es, beide Seiten könnten "gemeinsame oder kooperative Maßnahmen entwickeln", um etwas gegen die "verzerrenden Auswirkungen" auf die globalen Lieferketten zu unternehmen, die sich bei Legacy Chips abzeichnen.

Überkapazitäten und Chip-Dumping

Sollte China den Markt mit herkömmlichen, von Peking subventionierten Chips überschwemmen, könnten westliche Chiphersteller schnell vom Markt verdrängt werden, warnen Brancheninsider. Sie verweisen auf ein ähnliches Dumping billiger chinesischer Solarpaneele, mit dem sich China aus EU-Sicht einen unfairen Vorteil verschafft hat.

Neues Bosch-Chipwerk in Dresden
Bosch hat in Dresden eine Chipfabrik gebaut, um Chips für die Automobilindustrie zu produzierennull Oliver Killig/dpa/picture alliance

"Wenn Unternehmen wie Lam Research und Applied Materials dauerhaft die Hälfte ihres Marktes verlieren, müssten sie sich verkleinern", sagt Penn über die beiden großen US-Hersteller von Legacy Chips. "Im Moment gehen sie noch davon aus, dass sich die Größe ihres Marktes verdoppelt."

In den nächsten drei Jahren wird Chinas Kapazität für Standard-Halbleiter dank staatlicher Subventionen so wachsen, dass das Land 39 Prozent der weltweiten Nachfrage bedienen kann, so Daten von Trendforce, einer auf den Sektor spezialisierten Analysefirma mit Sitz in Taiwan.

"Geopolitik wird immer mehr über Halbleiter ausgetragen"

Laut einer separaten Prognose von Gavekal Dragonomics, einem Finanzdienstleister mit Sitz in Hongkong, wird China in diesem Jahr mehr Kapazitäten für die Chipherstellung aufbauen als der Rest der Welt zusammen - eine Million Chips pro Monat mehr als im letzten Jahr.

Auch Indien will ein Stück vom Kuchen abhaben, was die Überkapazitäten in der Chipproduktion noch verstärken könnte. Der indische Mischkonzern Tata Group allein investiert umgerechnet elf Milliarden Dollar in den Bau einer eigenen Chip-Fabrik in Dholera im Bundesstaat Gujarat.

Die taiwanesischen Chiphersteller, die derzeit fast die Hälfte der weltweiten Chipproduktion abdecken, verlagern unterdessen ihren Schwerpunkt und wollen sich, wie auch die USA, Südkorea und Japan, stärker auf moderne Hochleistungschips konzentrieren. TrendForce erwartet, dass der Marktanteil Taiwans bei Legacy Chips aufgrund des Investitionsschubs in China insgesamt zurückgehen wird.

Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken

Abhängigkeit ist ein weiteres Problem. Wenn westliche Hersteller von Legacy Chips ihre Produktion herunterfahren müssen, weil sie nicht mit der chinesischen Konkurrenz mithalten können, würde sich die Abhängigkeit der USA und der EU von China erhöhen.

China könnte seine dominante Stellung dann ausnutzen, so ein Szenario, um es dem Westen schwerer zu machen, an Legacy Chips zu kommen. Die werden nicht nur für Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte benötigt, sondern auch für Autos und militärische Geräte.

China | Halbleiter aus Taiwan
Ein Wafer bildet die Grundplatte für eine Vielzahl integrierter Schaltkreise, auch Chips genanntnull AFP/Getty Images

Die Auswirkungen könnten schlimmer sein als die Chip-Knappheit während der Corona-Pandemie, wegen der viele Autohersteller ihre Produktion herunterfahren mussten. Schon damals war die Knappheit von Legacy Chips das Problem, nicht ein Mangel an modernen Hochleistungships.

"Für die Verbraucher sind ältere Technologien wichtiger als moderne Chips für KI", sagte Joanne Chiao, Analystin bei TrendForce in Taiwan zur DW. KI-Chips sorgten zwar für Schlagzeilen, machten aber derzeit weniger als ein Prozent des weltweiten Halbleiterverbrauchs aus.

Sanktionen und Subventionen

Branchenexperten scheinen sich darüber einig zu sein, dass Washington und Brüssel handeln müssen. "Der Druck ist groß, hier etwas zu tun", sagt Malcom Penn, CEO der britischen Chip-Beratungsfirma Future Horizons. Doch er bezweifelt, dass Sanktionen wie Importbeschränkungen für Chips aus China sinnvoll sind. "Das wäre die falsche Lösung", so Penn zur DW. "Sanktionen werden Chinas Dominanz nur verzögern, sie werden sie nicht aufhalten."

Sanktionen können immer umgangen werden, sagt Penn. Außerdem wären die westlichen Länder nicht in der Lage sein, ihre Chipproduktion schnell genug hochzufahren, um einen etwaigen Mangel an Chips aus China auszugleichen. Mindestens drei Jahre würde das dauern, "wahrscheinlich sogar noch länger - selbst wenn es keine Verzögerungen beim Bau der Fabriken gäbe und man die Leute mit den nötigen Fähigkeiten fände, sie zu betreiben", sagt Penn.

Einige Brancheninsider halten Ausfuhrkontrollen bei Werkzeugen für die Chipproduktion für effektiver als Sanktionen gegen Chips aus China. Um ihre Abhängigkeit von China zu verringern, könnten Washington und Brüssel auch auf das so genannte Friendshoring setzen, d. h. auf die Fertigung und Beschaffung bei geopolitischen Verbündeten wie Indien.

Möglich wären auch Subventionen, um heimische Hersteller zu ermutigen, trotz eines drohenden Preisverfalls weiterhin die älteren Legacy Chips zu produzieren. Durch die Verabschiedung zweier neuerer Chip-Gesetze haben die EU und die USA dem Halbleitersektor in den nächsten zehn Jahren bereits Subventionen in Höhe von rund 86 Milliarden Dollar zugesagt.

 

Dieser Bericht wurde aus dem Englischen adaptiert.

Taiwan, die Chip-Supermacht

Görlach Global: Janet Yellen, China und die Globalisierung

Der Besuch der US-amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen in der Volksrepublik China hat vor allem eines offengelegt: Die Ära der wirtschaftlichen Globalisierung ist zu Ende. Die Politikerin forderte ihre chinesischen Gesprächspartner nachdrücklich auf, den Weltmarkt nicht weiter mit ihren Produkten zu überschwemmen.

China flutet die Welt mit konkurrenzlos günstigen Batterien, Solarpanels und Elektroautos. Machthaber Xi Jinping will damit die lahmende Wirtschaft seines Landes wieder ankurbeln. Das bedeutet eine wirtschaftspolitische Kehrtwende, denn eigentlich sollte der chinesische Markt eine so große eigene Kaufkraft entwickeln, dass China nicht mehr vom Rest der Welt abhängig wäre. 

Doch daraus wurde nichts. Die Pandemie und die in der Folge verhängten verheerenden Einschränkungen, mit denen Xi und seine Nomenklatura die Bevölkerung gängelten, haben die Bevölkerung in China nachhaltig verunsichert. Dazu kommt das Platzen der Immobilienblase. Die Menschen glauben nicht mehr an das Wohlstandsversprechen der Kommunistischen Partei. Das Geld, das ihnen geblieben ist, halten sie zusammen - Konsum als vaterländische Pflicht kommt den Wenigsten derzeit in den Sinn. Xi Jinping wiederum hält finanzielle Anreize, Steuererleichterungen oder Geldgeschenke für gebeutelte Haushalte für Teufelszeug. Stattdessen möchte er den Erfolg wiederholen, den China vor einem Vierteljahrhundert hatte: Das Reich der Mitte soll einmal mehr zur Werkbank der Welt werden. 

USA und Europa müssen ihre Märkte schützen

Doch hier ziehen die USA nicht mit, denn damit haben sie schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Zu Beginn des Jahrhunderts unterstützte Washington die Aufnahme der Volksrepublik in die Welthandelsorganisation. Dafür willigten die Vereinigten Staaten in einen Deal ein: Billige Produkte aus China kosten zwar heimische Arbeitsplätze - aber gleichzeitig erquicken sich die US-amerikanischen Konsumenten an den preiswerten Erzeugnissen aus der Volksrepublik. Doch bei ihrem Besuch stellte Finanzministerin Yellen jetzt klar: Noch einmal werden die USA den Verlust von Arbeitsplätzen nicht hinnehmen. Damals gingen geschätzt zwei Millionen Jobs verloren.

Alexander Görlach | Autor DW-Kolumne | Görlach Global
DW-Kolumnist Alexander Görlachnull privat

Washington wirft Peking zu Recht vor, durch günstige Grundstücksvergabe und Staatskredite den Wettbewerb zu verzerren. Gleichzeitig haben die USA und die Europäische Union selbst Programme aufgelegt, die massiv in grüne Technologie und Künstliche Intelligenz investieren. Um diese Investitionen zu schützen, werden Europa und Amerika nicht umhinkommen, China mit neuen Zöllen für ihre stark verbilligten Produkte zu drohen. Davon möchte Janet Yellen zwar im Moment nicht sprechen. Aber in diese Richtung wird gedacht - und das ist meilenweit entfernt vom Optimismus des Globalisierungszeitalters, dass die unsichtbare Hand des Marktes alle Interessen auf wundersame Weise ausgleichen werde.

WTO entscheidet über Chinas Subventionen

Die Volksrepublik hat mittlerweile Produktionskapazitäten aufgebaut, die es an Know-how und Effizienz mit der globalen Konkurrenz aufnehmen können. China ist zu einem echten Wettbewerber und einer Herausforderung herangewachsen, dem sich beispielsweise das Auto- und Maschinenbauerland Deutschland stellen muss. Aber: Die Kommunistische Partei lässt nicht mehr nach marktwirtschaftlichen, sondern nach staatskapitalistischen Regeln produzieren: Staatliche Banken vergeben Kredite an (teils)staatliche Unternehmen. Die Hälfte der produzierten Waren wird auf den globalen Markt gestoßen. Hier liegt der Unterschied zu den Subventionen und Investitionen, die US-Präsident Joe Biden im Inflation Reduction Act für die USA festgeschrieben hat. Sie dienen der Konsolidierung der US-amerikanischen Wirtschaft und haben das Ziel, vor allem die USA selbst zu bedienen. Eine Schwemme des Weltmarktes mit US-amerikanischen Produkten ist dabei nicht vorgesehen. 

Deutscher Solarindustrie steht das Wasser bis zum Hals

Sowohl die USA und die Europäische Union als auch Brasilien und Mexiko wollen bei der Welthandelsorganisation WTO Beschwerde gegen Chinas Subventionspraktiken einlegen. Allerdings hat die EU auch die Sorge geäußert, dass die Subventionen in den USA Arbeitsplätze in Europa kosten werden. Das ist den entsprechenden Stellen in Peking nicht entgangen - sie haben daher ihrerseits Beschwerde gegen Washington eingelegt. 

Janet Yellen wurde Medienberichten zufolge in China freundlich empfangen. Die Beteiligten haben vereinbart, im Gespräch zu bleiben. Zumindest wollen die Biden-Administration und die Xi-Führung für den Moment die Situation nicht eskalieren. Gelöst haben sie die kniffligen Fragen jedoch nicht, denn ihre Geschäftsgrundlage stimmt nicht mehr überein: die Weltanschauung einer globalisierten Wirtschaft, deren Regeln die WTO kontrolliert und sanktioniert. Sie wird nicht mehr mitgetragen von einer Politik, die an vielen Ecken der Welt zunehmend nationalistisch und isolationistisch agiert.

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Adjunct Professor an der Gallatin School der New York University, wo er Demokratietheorie unterrichtet. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die Demokratien in Asien bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und den Universitäten von Cambridge und Oxford inne. Alexander Görlach lebt in New York und in Berlin.

Hinweis: In der ursprünglichen Fassung war von der WHO statt der WTO die Rede. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen. 

Elektro-Lkw kommen nicht ins Rollen

Der Umstieg auf mit Elektromotoren betriebene Lastkraftwagen ist ins Stottern geraten, bevor er überhaupt ins Rollen gekommen ist. Und damit ist auch das gesteckte Ziel der Bundesregierung, bei den Nutzfahrzeugen bis 2030 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um über 40 Prozent zu reduzieren, in weite Ferne gerückt.

Nach Angaben des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) rollen täglich 800.000 Lkw über 7,5 Tonnen durch die Bundesrepublik. Davon wurden Ende vergangenen Jahres, so der Verband, lediglich 475 Fahrzeuge elektrisch betrieben. Das entspricht einem Anteil an der Tagesflotte von nicht einmal einem Prozent. Der Großteil der Brummi-Flotte tankt weiterhin Diesel. Dabei bieten Hersteller mittlerweile Elektro-Nutzfahrzeuge mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an. Was fehlt, monieren Hersteller und Spediteure, sei vor allem eine fehlende Lade-Infrastruktur.

Und wenn es noch eines Beweises für den schleppenden Markthochlauf bedurft hätte, dann liefern ihn die an diesem Dienstag (9.4.2024) veröffentlichten Auslieferungszahlen des Marktführers Daimler Truck für das erste Quartal: Da legten batterieelektrische Fahrzeuge zwar um 183 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal zu. In Zahlen sind das aber gerade mal 813 der insgesamt ausgelieferten knapp 109.000 Fahrzeuge. 

Hohe Anschaffungskosten und fehlende Infrastruktur

Ein Leitsatz seiner Branche, so Daimler Truck-Vorstandschef Martin Daum zuvor in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), laute: "Ein Lkw wird nicht aus Spaß gefahren. Es geht darum, Güter effizient von einem Ort zum anderen Ort zu transportieren." Und das, so die Schlussfolgerung, müsse sich rechnen. "Daher dürfen Elektro-Lkw in der Gesamtrechnung nicht teurer sein als Diesel-Lkw."

Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, applaudiert während des Börsengangs des Nutzfahrzeughersteller Daimler Truck, nachdem der erste Preis von 28,00 Euro angezeigt wird
Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, beim Börsengang des Nutzfahrzeughersteller am 10. Dezember 2021null Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Noch kosten Elektro-Lkw mit über 300.000 Euro in der Anschaffung deutlich mehr als ein Diesel-Lkw, den es ab 100.000 Euro gibt. Seit es aus Sparzwängen im Bundeshaushalt keine Förderung bei den Mehrkosten mehr gibt, halten sich Spediteure bei der Umstellung ihres Fuhrparks auf Elektro-Brummis deutlich zurück.  

"Bei dreifach höheren Kosten für einen E-Lkw im Vergleich zu einem Diesel-Lkw und einer durchschnittlichen Marge von 0,1 bis drei Prozent kann sich kein Mittelständler die Umstellung auf klimafreundliche Antriebe leisten", resümiert BGL-Vorstandssprecher Engelhardt. An der Preisfront könnte sich aber absehbar etwas tun, denn auch hier - wie schon im Pkw-Bereich - holen chinesische Hersteller wie BYD auf.

Chinas Autohersteller BYD bereit zur Eroberung Europas

Für Karin Radström, Vorstandsmitglied der Daimler-Truck Holding AG, steht zudem außer Frage, dass es für die Antriebswende "eine flächendeckende Lade- und Tank-Infrastruktur für batterie- und wasserstoffbetriebene Fahrzeuge braucht." Oder wie es BGL-Vorstandssprecher Engelhardt formuliert: "Was nutzt es dem Transportunternehmer, wenn er E-Lkw kaufen, aber nicht laden kann."

In einer gemeinsamen Erklärung fordern BGL, der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) sowie die Hersteller Daimler Truck und MAN die Einrichtung von mindestens 10.000 öffentlich zugängliche Ladepunkten für E-Lkw, einschließlich 4000 sogenannter Mega-Charger. Dabei handelt es sich um Ladestationen, an denen Lkw-Batterien binnen 45 Minuten aufgeladen werden können. Denn gerade in der Speditionsbranche lautet das Motto "Zeit ist Geld". Derzeit werden Elektro-Lastwagen vor allem auf den Betriebshöfen der Speditionen über Nacht geladen. Dieses sogenannte Depot-Laden dauert bis zu acht Stunden.

Karin Radström Daimler Truck AG
Karin Radström, aus Schweden stammende Managerin, ist Chefin der Marke Mercedes Benz Trucksnull Uli Deck/dpa/picture alliance

Kommunale Stromnetze sind überfordert

Das Depot-Laden ist übrigens derzeit in den lokalen Stromnetzen allerdings auch nicht ohne weiteres möglich. Erst recht nicht der Betrieb von Schnellladesäulen (Mega-Charger), wie der Bochumer Spediteur Christian Graf erfahren musste.  Rund 100 Schwerlastwagen, also 40-Tonner, umfasst der Fuhrpark von Graf. Gut ein Viertel der Brummis, die durch ganz Europa rollen, fährt aus Klimaschutzgründen mit LNG-Gas. Außerdem neuerdings auch mit Bio-Erdgas, das aus Gülle hergestellt wird. Das heißt, die Lkw stoßen kein CO2 mehr aus.

Elektro-Truck von Tesla
Auch der Elektro-Pionier Tesla hat einen elektrischen Truck in der Pipelinenull Tesla

"Dadurch", so Christian Graf, "kann ich jetzt sicherstellen, dass die Fahrzeuge klimaneutral fahren." Unter dem Strich werden so jedes Jahr rund 4000 Tonnen CO2 eingespart. Damit schont Graf zwar die Umwelt, wird bei der Maut aber wieder zur Kasse gebeten, da nur noch elektrisch oder mit Wasserstoff betriebene Lkw davon befreit sind. Doch selbst wenn der Preis für E-Lkw deutlich sinken würde, bei der Spedition Graf könnte man sie nicht aufladen.

Denn das gibt das Stromnetz der Stadtwerke Bochum nicht her. Über die Installation von fünf Schnelladesäulen hatte Christian Graf nachgedacht, für die jeweils eine Kapazität von einem Megawatt erforderlich gewesen wäre. Insgesamt fünf Megawatt konnten die Stadtwerke aber nicht zusagen, da dies das Stromnetz überfordern würde. Zum Vergleich: einen ganzen Stadtteil versorgen die Stadtwerke mit sieben Megawatt. Und selbst wenn die Versorgung mit fünf Megawatt möglich gewesen wäre, hätte der Speditionschef noch etwa drei Millionen Euro investieren müssen. Und zwar in ein großes Grundstück, auf dem eigens für die Schnellladesäulen ein Umspannwerk hätte errichtet werden müssen. 

Ladestecker an einer Elektro-Ladesäule, im Hintergrund sind elektrisch angetriebene Mercedes-Benz eActros zu sehen.
Großer Stecker, große Ladung: Aber gibt das Stromnetz das her? null Marijan Murat/dpa/picture alliance

Nur grüner Strom macht Sinn

Angesichts derartiger Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass es bei der Verkehrswende alles andere als rund läuft. Ganz abgesehen vom dafür erforderlichen Strom. Mit Blick auf den Klimaschutz gibt Martin Daum von Daimler Truck zu bedenken: "Nur wenn ein Lkw mit regenerativer Energie betrieben wird, hilft die Elektrifizierung weiter." Und BGL-Chef Engelhardt ergänzt, "E-Lkw sind auch nur dann fürs Klima gut, wenn sie mit grüner Energie geladen werden".

Es kommt also auf den Strommix an. Allein für den Straßenverkehr, rechnet Dirk Engelhardt vor, seien dafür theoretisch 18.800 Windkraftanlagen notwendig. "Bei einem derzeitigen Bestand von rund 28.000 Windkraftanlagen eine Riesenherausforderung." Dem Klima, resümiert der BGL-Vorstandssprecher, sei partout nicht geholfen, wenn die E-Lkw ihren Strom aus Braunkohle oder importierten Atomstrom bezögen. Ganz abgesehen von dem enormen Mehrgewicht der Batterien, das bewegt werden muss und zusätzlich Energie kostet.

Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?

In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

VW-Chef Oliver Blume auf der Automesse 2024 in Peking
VW-Chef Oliver Blume: Entscheidet sich in China das Schicksal des Konzerns? null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Besucher betrachten einen Denza D9 am Stand des chinesischen Herstellers BYD auf der Automesse IAA 2023 in München
Wollen Europa und Deutschland erobern: Fahrzeuge von BYD, hier auf der Automesse in München im September 2023null Matthias Balk/dpa/picture alliance

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking.
Gut besucht: Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking. null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Der SU7 des chinesischen Handyherstellers Xiaomi steht auf der Automesse in China
Neuester Konkurrent: Xiaomi, eigentlich ein Smartphone-Hersteller, stellte unlängst sein E-Auto vor, den SU7. Er ist auch in Peking ein Blickfang. null Jörn Petring/dpa/picture alliance

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

Wohin mit den ganzen E-Autos?

Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.

Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.

Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."

Das Problem liegt beim Landtransport

Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."

Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."

Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.

Neuwagen stehen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group vor der Verladung
Neuwagen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group - hier wird so viel importiert wie exportiertnull Ingo Wagner/dpa/picture alliance

Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?

Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.

Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.

Ein Autotransporter mit Neuwagen von Volkswagen fährt über die Bundesstraße B3
Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe führt zu Unregelmäßigkeiten im Autotransport auf der Straßenull Raphael Knipping/dpa/picture alliance

Veränderte Gewohnheiten

Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."

Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."

Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde  merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".

Fahrzeuge im Hafen von Emden vor der Verladung auf ein Autotransportschiff
Noch wird im Emder Hafen "per Hand" verladen - das soll sich in ein paar Jahren ändernnull Jörg Sarbach/picture alliance/dpa

Neue Wege in Emden

Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.

Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.                                                                     

Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.

Scholz pocht in China auf fairen Wettbewerb

"Das Einzige, was immer klar sein muss, ist, dass der Wettbewerb fair sein muss", sagte Olaf Scholz am Montag in Shanghai bei einer Diskussion mit Studenten der Tongji-Universität. "Also, dass es kein Dumping gibt, dass es keine Überproduktion gibt, dass man keine Urheberrechte beeinträchtigt." Es sei auch sehr wichtig, dass Unternehmen Produktionsstätten errichten dürften und dies nicht durch bürokratische Hürden erschwert werde. Er dränge deshalb in China immer auf Wettbewerbsgleichheit, also ein sogenanntes Level Playing Field.

Keine Angst vor ausländischer Konkurrenz 

"Wir möchten natürlich, dass unsere Unternehmen keine Beschränkungen haben. Aber umgekehrt verhalten wir uns genauso, wie wir es hier vorhaben", sagte Scholz mit Blick auf deutschen Widerstand gegen protektionistische Tendenzen in Europa. Man müsse vor ausländischer Konkurrenz keine Angst haben. Als japanische und koreanische Autos auf den deutschen Markt gekommen seien, habe man gesagt, dass diese den ganzen Markt erobern würden. "Quatsch! Es gibt jetzt japanische Autos in Deutschland und deutsche Autos in Japan", sagte er. "Und das Gleiche gilt für China und Deutschland."

Kanzler Scholz mit drei Studenten auf einer Bühne
Studenten an der Tongji-Universität hatten viele Fragen an den Bundeskanzler, er gab gerne Auskunftnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Hintergrund sind Antidumping-Untersuchungen der EU-Kommission gegen China etwa im Bereich von E-Autos. Scholz erwähnte diese nicht, verurteilte Dumping aber. Es sei falsch, etwas mit Verlust zu verkaufen, dies führe am Ende dazu, dass man Güter nicht auf die effizienteste Weise produziere. "Und deshalb muss es so ein bisschen eine Korrektur geben über Märkte, die dazu führt, dass man nur Sachen herstellt, die sich auch vernünftig rechnen", fügte der SPD-Politiker hinzu.

Scholz betonte zudem, dass der Schutz geistigen Eigentums eine "ganz, ganz wichtige Frage" sei. "Das ist ein großes Thema, auch übrigens eine große Sorge deutscher Unternehmen, die hier nicht mehr tätig sind." Zudem pochte er auf Rechtssicherheit.

Der Kanzler wollte im Laufe des Tages in Peking mit der chinesischen Führung auch über weitere Wirtschaftsthemen sprechen. Er wird von einer Wirtschaftsdelegation begleitet, zu der unter anderen auch die Vorstandschefs von BMW und Mercedes gehören.

Kanzler Olaf Scholz und drei weitere Personen stehen vor Forschungsgeräten
Hier informiert sich der Kanzler über ein Forschungsprojekt des Freistaats Sachsen und der Universität Chongqing zum Monitoring der Wasserqualitätnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

"An Regeln der Vereinten Nationen müssen wir uns halten"

Scholz mahnte China zugleich indirekt, seine Nachbarn nicht zu bedrohen. "Die Welt funktioniert, wenn wir ein paar Prinzipien alle gemeinsam haben", sagte er, ohne die Volksrepublik direkt zu nennen. "Eines dieser Prinzipien ist, dass man sich vor seinen Nachbarn nicht fürchten muss. Wenn unser Nachbar ein großer, starker, muskulöser Mensch ist, dann wollen wir immer sagen, guten Tag und sicher sein, dass er uns niemals was tut", sagte er in Anspielung etwa auf die Spannungen und Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer.

Das Gleiche gelte natürlich auch zwischen den Staaten, dass die kleinen Länder sich nicht vor den großen fürchten müssen "und dass man sich überhaupt nicht voreinander fürchten muss", fügte Scholz hinzu. Dafür legten die Vereinten Nationen (UN) wichtige Prinzipien fest. "Grenzen dürfen mit Gewalt nicht verschoben werden. Das ist der zentrale Punkt."

Kritik auch an Russland

Scholz kritisierte, dass sich Russland nicht an dieses Prinzip halte. Der Kanzler will sich bei der chinesischen Führung  dafür einsetzen, dass Peking die Unterstützung für Russland etwa durch die Lieferung von Dual-Use-Gütern, die für zivile und militärische Zwecke genutzt werden können, beendet und auch, dass die chinesische Führung in Moskau auf einen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine drängt.

Der Bundeskanzler ist drei volle Tage in China. Am Dienstag trifft er den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking. Es ist die zweite Reise des Kanzlers nach China seit seiner Vereidigung im Dezember 2021. Der Antrittsbesuch im November 2022 war wegen der noch anhaltenden Corona-Pandemie auf einen Tag begrenzt.

haz/se (rtr, dpa, afp)

China - der mächtige Konkurrent

 

Elektro-Lkw kommen nicht ins Rollen

Der Umstieg auf mit Elektromotoren betriebene Lastkraftwagen ist ins Stottern geraten, bevor er überhaupt ins Rollen gekommen ist. Und damit ist auch das gesteckte Ziel der Bundesregierung, bei den Nutzfahrzeugen bis 2030 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um über 40 Prozent zu reduzieren, in weite Ferne gerückt.

Nach Angaben des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) rollen täglich 800.000 Lkw über 7,5 Tonnen durch die Bundesrepublik. Davon wurden Ende vergangenen Jahres, so der Verband, lediglich 475 Fahrzeuge elektrisch betrieben. Das entspricht einem Anteil an der Tagesflotte von nicht einmal einem Prozent. Der Großteil der Brummi-Flotte tankt weiterhin Diesel. Dabei bieten Hersteller mittlerweile Elektro-Nutzfahrzeuge mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an. Was fehlt, monieren Hersteller und Spediteure, sei vor allem eine fehlende Lade-Infrastruktur.

Und wenn es noch eines Beweises für den schleppenden Markthochlauf bedurft hätte, dann liefern ihn die an diesem Dienstag (9.4.2024) veröffentlichten Auslieferungszahlen des Marktführers Daimler Truck für das erste Quartal: Da legten batterieelektrische Fahrzeuge zwar um 183 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal zu. In Zahlen sind das aber gerade mal 813 der insgesamt ausgelieferten knapp 109.000 Fahrzeuge. 

Hohe Anschaffungskosten und fehlende Infrastruktur

Ein Leitsatz seiner Branche, so Daimler Truck-Vorstandschef Martin Daum zuvor in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), laute: "Ein Lkw wird nicht aus Spaß gefahren. Es geht darum, Güter effizient von einem Ort zum anderen Ort zu transportieren." Und das, so die Schlussfolgerung, müsse sich rechnen. "Daher dürfen Elektro-Lkw in der Gesamtrechnung nicht teurer sein als Diesel-Lkw."

Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, applaudiert während des Börsengangs des Nutzfahrzeughersteller Daimler Truck, nachdem der erste Preis von 28,00 Euro angezeigt wird
Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, beim Börsengang des Nutzfahrzeughersteller am 10. Dezember 2021null Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Noch kosten Elektro-Lkw mit über 300.000 Euro in der Anschaffung deutlich mehr als ein Diesel-Lkw, den es ab 100.000 Euro gibt. Seit es aus Sparzwängen im Bundeshaushalt keine Förderung bei den Mehrkosten mehr gibt, halten sich Spediteure bei der Umstellung ihres Fuhrparks auf Elektro-Brummis deutlich zurück.  

"Bei dreifach höheren Kosten für einen E-Lkw im Vergleich zu einem Diesel-Lkw und einer durchschnittlichen Marge von 0,1 bis drei Prozent kann sich kein Mittelständler die Umstellung auf klimafreundliche Antriebe leisten", resümiert BGL-Vorstandssprecher Engelhardt. An der Preisfront könnte sich aber absehbar etwas tun, denn auch hier - wie schon im Pkw-Bereich - holen chinesische Hersteller wie BYD auf.

Chinas Autohersteller BYD bereit zur Eroberung Europas

Für Karin Radström, Vorstandsmitglied der Daimler-Truck Holding AG, steht zudem außer Frage, dass es für die Antriebswende "eine flächendeckende Lade- und Tank-Infrastruktur für batterie- und wasserstoffbetriebene Fahrzeuge braucht." Oder wie es BGL-Vorstandssprecher Engelhardt formuliert: "Was nutzt es dem Transportunternehmer, wenn er E-Lkw kaufen, aber nicht laden kann."

In einer gemeinsamen Erklärung fordern BGL, der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) sowie die Hersteller Daimler Truck und MAN die Einrichtung von mindestens 10.000 öffentlich zugängliche Ladepunkten für E-Lkw, einschließlich 4000 sogenannter Mega-Charger. Dabei handelt es sich um Ladestationen, an denen Lkw-Batterien binnen 45 Minuten aufgeladen werden können. Denn gerade in der Speditionsbranche lautet das Motto "Zeit ist Geld". Derzeit werden Elektro-Lastwagen vor allem auf den Betriebshöfen der Speditionen über Nacht geladen. Dieses sogenannte Depot-Laden dauert bis zu acht Stunden.

Karin Radström Daimler Truck AG
Karin Radström, aus Schweden stammende Managerin, ist Chefin der Marke Mercedes Benz Trucksnull Uli Deck/dpa/picture alliance

Kommunale Stromnetze sind überfordert

Das Depot-Laden ist übrigens derzeit in den lokalen Stromnetzen allerdings auch nicht ohne weiteres möglich. Erst recht nicht der Betrieb von Schnellladesäulen (Mega-Charger), wie der Bochumer Spediteur Christian Graf erfahren musste.  Rund 100 Schwerlastwagen, also 40-Tonner, umfasst der Fuhrpark von Graf. Gut ein Viertel der Brummis, die durch ganz Europa rollen, fährt aus Klimaschutzgründen mit LNG-Gas. Außerdem neuerdings auch mit Bio-Erdgas, das aus Gülle hergestellt wird. Das heißt, die Lkw stoßen kein CO2 mehr aus.

Elektro-Truck von Tesla
Auch der Elektro-Pionier Tesla hat einen elektrischen Truck in der Pipelinenull Tesla

"Dadurch", so Christian Graf, "kann ich jetzt sicherstellen, dass die Fahrzeuge klimaneutral fahren." Unter dem Strich werden so jedes Jahr rund 4000 Tonnen CO2 eingespart. Damit schont Graf zwar die Umwelt, wird bei der Maut aber wieder zur Kasse gebeten, da nur noch elektrisch oder mit Wasserstoff betriebene Lkw davon befreit sind. Doch selbst wenn der Preis für E-Lkw deutlich sinken würde, bei der Spedition Graf könnte man sie nicht aufladen.

Denn das gibt das Stromnetz der Stadtwerke Bochum nicht her. Über die Installation von fünf Schnelladesäulen hatte Christian Graf nachgedacht, für die jeweils eine Kapazität von einem Megawatt erforderlich gewesen wäre. Insgesamt fünf Megawatt konnten die Stadtwerke aber nicht zusagen, da dies das Stromnetz überfordern würde. Zum Vergleich: einen ganzen Stadtteil versorgen die Stadtwerke mit sieben Megawatt. Und selbst wenn die Versorgung mit fünf Megawatt möglich gewesen wäre, hätte der Speditionschef noch etwa drei Millionen Euro investieren müssen. Und zwar in ein großes Grundstück, auf dem eigens für die Schnellladesäulen ein Umspannwerk hätte errichtet werden müssen. 

Ladestecker an einer Elektro-Ladesäule, im Hintergrund sind elektrisch angetriebene Mercedes-Benz eActros zu sehen.
Großer Stecker, große Ladung: Aber gibt das Stromnetz das her? null Marijan Murat/dpa/picture alliance

Nur grüner Strom macht Sinn

Angesichts derartiger Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass es bei der Verkehrswende alles andere als rund läuft. Ganz abgesehen vom dafür erforderlichen Strom. Mit Blick auf den Klimaschutz gibt Martin Daum von Daimler Truck zu bedenken: "Nur wenn ein Lkw mit regenerativer Energie betrieben wird, hilft die Elektrifizierung weiter." Und BGL-Chef Engelhardt ergänzt, "E-Lkw sind auch nur dann fürs Klima gut, wenn sie mit grüner Energie geladen werden".

Es kommt also auf den Strommix an. Allein für den Straßenverkehr, rechnet Dirk Engelhardt vor, seien dafür theoretisch 18.800 Windkraftanlagen notwendig. "Bei einem derzeitigen Bestand von rund 28.000 Windkraftanlagen eine Riesenherausforderung." Dem Klima, resümiert der BGL-Vorstandssprecher, sei partout nicht geholfen, wenn die E-Lkw ihren Strom aus Braunkohle oder importierten Atomstrom bezögen. Ganz abgesehen von dem enormen Mehrgewicht der Batterien, das bewegt werden muss und zusätzlich Energie kostet.

Nachhaltige Mobilität: Grüne Hoffnung in Afrika

An den zwölf Zapfsäulen am Rasthof herrscht reger Betrieb: Ständig kommen neue Autos vom Highway N3, der die südafrikanische Hafenstadt Durban mit der Metropolregion Johannesburg verbindet. Etwas abseits hinter den Zapfsäulen, unter einem grünen Sonnensegel, ist hingegen nichts los: Hier steht ein Ladeterminal für Elektroautos bereit.

Benzindurst, aber Elektro-Flaute - das ist ein Bild, das sich auch anderswo in Afrika fortsetzt. Dabei ist im teils wohlhabenden Südafrika die Abdeckung mit E-Ladesäulen noch vergleichsweise dicht, auch wenn dort Stromabschaltungen an der Tagesordnung sind. Von Dakar bis Daressalam, von Kairo bis Kapstadt ist Mobilität weiter vom Verbrennungsmotor abhängig - häufig unter der Motorhaube von alternden Gebrauchtwagen. Doch die Mobilität in Afrika verändert sich, wenn auch nicht unbedingt in Richtung klassischer Pkw mit Elektroantrieb.

Eine Ladesäule auf einem gepflasterten Parkplatz
Einsame Ladesäule am Rasthof - die Elektromobilität entwickelt sich in Afrika anders als im globalen Nordennull David Ehl/DW

Trend zu Motorrädern und Tuk-Tuks - und zwar gerne elektrisch

Genaue Zahlen, wie viele Autos in Afrika unterwegs sind, gibt es nicht - Schätzungen liegen zwischen 26 und 38 Millionen Pkw. Tendenz steigend: "Es gibt eine riesige Nachfrage nach Autos", sagt Godwin Ayetor, Dozent an der Kwame Nkrumah University of Science and Technology (KNUST) im ghanaischen Kumasi. "Aber im Vergleich zwischen Autos und Motorrädern verschiebt sich die Nachfrage von Vierrädern zu Zweirädern, die sich eine kleine Familie eher leisten kann. Und sie kommen besser durch Stau und Buckelpisten. Auch Wartungsaufwand und Treibstoffkosten sind niedriger", sagt Ayetor im Gespräch mit der DW. Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch bei Dreirädern beobachten - wegen ihres Motorengeräuschs auch besser bekannt als Tuk-Tuks.

Elektrisch mobil in Nairobi

Insbesondere bei den Motorrädern verstärkt sich derzeit ein Trend hin zu Elektroantrieb. Eines von ihnen fährt Thomas Omao, der als einer von zehntausenden gewerblichen Motorradfahrern in Nairobi unterwegs ist.

Thomas Omao sitzt auf seinem modernen Motorrad, im Hintergrund sind viele ältere Modelle abgestellt
Thomas Omao fährt in Nairobi ein elektrisches Motorrad von ARC Ride - und konnte dank besserer Verdienstmargen bereits ein zweites kaufennull David Ehl/DW

Mit seinem elektrischen Boda-Boda fährt er Essen für verschiedene Lieferdienste aus - und klingt hoch zufrieden: "Ein großer Vorteil ist, dass Elektro-Motorräder sehr angenehm zu fahren sind", sagt er der DW. Dazu sei es sehr kostengünstig: "Ein Freund von mir fährt ein Boda-Boda mit Benzin. Er gibt jeden Tag 1000 Shilling (derzeit umgerechnet 6,90 Euro) beim Tanken aus. Mich kostet der Strom 400 Shilling. Ich spare also gegenüber dem Kollegen 600 Shilling pro Tag." Von seinen Ersparnissen hat Omao im Januar ein zweites Motorrad gekauft und beschäftigt nun einen Angestellten.

Omao nutzt die Technologie des Start-ups ARC Ride. Das Motorrad hat er gekauft, für die Akkus nutzt er eine Leih-Flatrate. Für den Batteriewechsel, der kaum eine Minute dauert, sind knapp 80 Ladeschränke in der kenianischen Hauptstadt verteilt. "Am meisten machen sich die Leute Sorgen um die Reichweite", sagt Felix Saro-Wiwa, der bei ARC Ride für die strategische Entwicklung zuständig ist. "Deshalb haben wir so viele Ladeschränke aufgestellt. In der ganzen Stadt ist man niemals weiter als drei bis vier Kilometer vom nächsten Schrank weg." Ziel seien maximal zwei Kilometer - also eine ähnliche Dichte wie bei Tankstellen.

Felix Saro-Wiwa steht vor einem weißen Schrank mit nummerierten Türen; er hält einen Motorradhelm in der Hand
Felix Saro-Wiwa vor einem der Ladeschränke seines Arbeitgebers - statt Reichweitenangst geht der Batteriewechsel mit wenigen Handgriffen über die Bühnenull David Ehl/DW

In diesem Jahr will das junge Unternehmen in zwei weitere Städte der Region expandieren. Und es ist dabei nur eins von vielen Anbietern in ganz Afrika, die Wechselbatterien für Motorräder zum Leihen anbieten. Für Godwin Ayetor ist dieses Konzept zukunftsweisend: "Die Start-ups verkaufen elektrische Zweiräder ohne den Akku - und das reduziert den Kaufpreis für die Besitzer. Die mieten die Batterie dauerhaft. Bisher funktioniert das sehr gut."

Gebrauchtwagen drängen auf den Markt

Dennoch nehmen Elektro-Bodas in der riesigen Motorrad-Flotte afrikanischer Länder vorerst weiter eine Nische ein - für die Mobilität vieler Afrikanerinnen und Afrikaner sind Autos unverzichtbar.

In den Werken des Kontinents laufen Jahr für Jahr Hunderttausende neue Autos vom Band. Die sind allerdings zu großen Teilen für den Export bestimmt - so verschifft Großproduzent Südafrika zwei Drittel seiner Produktion nach Übersee.

Insgesamt spielen Neuwagen jedoch eine untergeordnete Rolle. Im Schnitt sind laut Schätzungen der UN-Umweltorganisation UNEP sechs von zehn in Afrika neu zugelassenen Fahrzeugen importierte Gebrauchtwagen. Mit starken Schwankungen: In Kenia liegt die Quote sogar bei 97 Prozent, Südafrika beispielsweise verbietet den Import von gebrauchten Autos.

Dabei haben viele afrikanische Regierungen Höchstalter festgesetzt, die Autos beim Import nicht überschreiten dürfen. In Kenia liegt die Grenze bei acht Jahren, so dass die meisten Wagen zum Zeitpunkt des Imports sieben Jahre alt sind. Das benachbarte Uganda hingegen zieht die Grenze erst bei 15 Jahren, Ruanda sogar gar keine. Das führt dazu, dass die Autos dort im Schnitt wesentlich älter sind - und laut einer UNEP-Studie im Schnitt ein Viertel mehr Benzin als in Kenia verbrauchen und folglich mehr CO2 ausstoßen.

Importverbote sind keine Lösung

In Ghana verschärfte die Regierung 2020 die Einfuhrbedingungen: Sie führte ein generelles Alterslimit von zehn Jahren ein; auch Unfallwagen dürfen nicht mehr importiert werden. Gleichzeitig befreite sie Neuwagen oder Autoteile für die heimische Produktion von Einfuhrzöllen. "Die Regierung glaubte, das würde den Preis von Neuwagen reduzieren, so dass Ghanaer sich neue statt gebrauchte Autos leisten könnten", sagt Ayetor.

Festival Boateng erforscht an der britischen Oxford University Gesetzgebung rund um Mobilität. Aus seiner Fallstudieüber Ghana schlussfolgert er: "Wenn man Importe von Gebrauchtwagen verbietet, haben die Menschen nicht plötzlich mehr Geld, um Neuwagen zu kaufen. Aber sie müssen mobil sein. Dadurch verschieben sich Angebot und Nachfrage auf den Schwarzmarkt", sagt Boateng im Gespräch mit der DW.

Nicht nur regionale Zwischenhändler waren perplex, als die äthiopische Regierung Ende Januar einen sofortigen Import-Stopp für Autos mit Verbrennungsmotor verkündete. Und das, obwohl Elektroautos derzeit noch verhältnismäßig teuer sind und ohnehin nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität hat. Mitte März ruderte die Regierung zurück, so dass wieder Verbrenner eingeführt werden können.

Elektrischer Druck aus dem Globalen Norden

Als eines der ersten afrikanischen Länder stellte Kenia 2020 einen Ausbauplan vor: Bis 2025 sollen mindestens fünf Prozent der importierten Fahrzeuge elektrisch angetrieben werden.

Kenias Präsident William Ruto ist gerade aus einem gelben Elektroauto gestiegen und wird von einem Mann im Anzug begrüßt
Kenias Präsident William Ruto (l.) gibt sich als Transformations-Vorreiter - als Gastgeber des Afrika-Klimagipfels im September fuhr er medienwirksam im Elektroauto aus kenianischer Produktion vornull Simon Maina/AFP

Über kurz oder lang dürfte sich das Gebraucht-Angebot auch in Afrika stärker auf E-Autos umstellen. Denn die Gebrauchtwagen für den afrikanischen Markt kommen hauptsächlich aus dem globalen Norden - und dort soll sich die Mobilität zugunsten des Klimas verändern: Die EU hat neue Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 verboten; dasselbe Datum gilt in Großbritannien und dem bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat Kalifornien. Gerade erst haben die USA strengere Schadstoffgrenzwerte verhängt, die ebenfalls die E-Mobilität ankurbeln dürften.

Rollt also die Verkehrswende durch die Hintertür auf Afrika zu? "Wir gehen nicht davon aus, dass Europa oder die USA alle Elektrifizierungs-Ziele direkt erreichen werden", sagt Godwin Ayetor, der auch dem Technischen Komitee für Fahrzeug-Standards in Ghana vorsitzt. "Aber ich glaube, wir müssen uns dafür wappnen. Und das Thema Gebrauchtwagen wird auch in Zukunft bleiben."

Zwischen Spritschluckern, Elektro-Motorrädern und radikaleren Ideen

Doch noch sind weite Teile Afrikas nicht auf E-Autos eingestellt: Mechanikern fehlt das nötige Spezialwissen, für Ersatzteile wie Batterien existieren schlicht keine Lieferketten, nicht einmal Afrika-weit einheitliche Standards für Ladestecker gibt es. Vielerorts mangelt es auch an Investitionen in Ladeinfrastruktur - als der Ölkonzern Shell im März große Pläne für ein mehr oder weniger weltweites Ladenetz präsentierte, tauchte Afrika darin nicht auf. Und so setzt der Kontinent vorerst weiter auf gebrauchte Verbrenner - oder eben die neuartigen Elektro-Motorräder und Tuk-Tuks mit Wechselbatterien.

E-Motorrad-Taxis schonen den Geldbeutel

Aus Sicht von Festival Boateng eröffnet der aufkeimende Wandel aber noch Möglichkeiten, andere Probleme mit zu lösen: "Wir haben sehr viele Verkehrsunfälle, Staus und andere Probleme. Der Umstieg auf elektrische Fahrzeuge ändert daran nichts. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das Investitionen in öffentlichen Personenverkehr berücksichtigt. Solche Investitionen könnten dabei helfen, die Notwendigkeit für Autos zu verringern."

So baut die senegalesische Hauptstadt Dakar gerade ein elektrisch betriebenes Busliniennetz auf. Die erste Phase läuft bereits, bis nächstes Jahr soll das Projekt auf rund 120 Busse anwachsen, die nachts geladen werden. Sie fahren dann teilweise auf eigenen Spuren - vorbei am Stau der Autos.

Decoding China: Wenn Quereinsteiger E-Autos bauen

Der Elektronikhersteller Xiaomi will am 28. März in China sein erstes E-Auto ausliefern. Der Quereinsteiger mit einem Jahresumsatz von knapp elf Milliarden Euro (Stand 2022) hat innerhalb von drei Jahren die Idee eines elektrischen Sportwagens in die Tat umgesetzt. Nun müssen sich die deutschen Autopremiumhersteller mit einem weiteren Konkurrenten aus Fernost auseinandersetzen.

SU7 heißt das neue Gefährt. SU steht dabei für Speed Ultra. Nur 2,78 Sekunden braucht das Auto, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 265 km/h. Die maximale Reichweite bei voller Batterieladung wird vom Hersteller mit 800 Kilometer angegeben. Der Grundpreis des SU7 beträgt umgerechnet 33.000 Euro. Der SU7 ist damit eben so teuer wie ein Tesla 3 - ein Drittel des Preises, der für einen grünen Porsche Taycan in China zu zahlen ist.

Konzernchef Lei Jun, laut Forbes mit zwölf Milliarden US-Dollar Privatvermögen auf Platz 159 unter den Reichsten der Welt, hat die Konkurrenten aus Palo Alto und Stuttgart im Visier. "Wir wollen keinen Kompromiss und keine Mittelmäßigkeit", sagt Lei. "Wir wollen ein Traumauto bauen, das Tesla und Porsche die Stirn bietet."

Peking, China 2023 | Xiaomi-Gründer Lei Jun präsentiert erstes Elektrofahrzeug SU7
Xiaomi-Gründer Lei Jun präsentiert das neue Elektrofahrzeug SU7null Florence Lo/REUTERS

Handyhersteller als Autobauer

Längst ist China der größte E-Auto-Hersteller der Welt. Die E-Mobilität wäre ohne Innovationen der dortigen Firmen unvorstellbar. Unter den Anbietern im Reich der Mitte befinden sich viele Quereinsteiger, deren ursprüngliche Geschäftsbereiche mit der Autoindustrie an sich nichts zu tun haben.

Xiaomi stellt überwiegend so genannte intelligente Haushaltsgeräte mit Webfunktionen her wie Türsensoren oder Reiskocher, die über Handy mitteilten, wann der Duftreis fertig ist. In Europa ist Xiaomi vor allem für seine Smartphones bekannt, so wie der andere Telekommunikationsausstatter Huawei, der schon seit 2021 seine E-SUVs unter dem Namen AITO in China auf den Markt bringt.

Dass Quereinsteiger mit diesem Geschäftsfeld liebäugeln, ist nicht auf China beschränkt. Bereits vor 14 Jahren hatte auch der kalifornische Konzern Apple die Idee, Autos zu produzieren. Ende Februar 2024 teilte der iPhone-Hersteller aus Cupertino aber mit, dass das Projekt "Apple Car" endgültig eingestellt worden sei. Der Konzern soll insgesamt zehn Milliarden US-Dollar investiert haben.

USA | Apple-Car-Projekt wird beendet
Apple baute einen Lexus um und testete damit das automatisierte Fahren. Das "Apple Car"-Projekt wurde Ende Februar 2024 eingestellt.null Andrej Sokolow/dpa/picture alliance

Komplett neues Konzept

China ist der größte und am schnellsten wachsende Automarkt der Welt. Die etablierten deutschen Autobauer verkauften 2023 weltweit ungefähr jedes dritte Auto in China. Aber ihre Marktposition wird durch inländische E-Auto-Hersteller jetzt herausgefordert.

Die Gründe liegen auf der Hand: "China führt die globale Lieferkette für Lithium-Ionen-Batterien an", sagt Bernd Diepenseifen, Partner der Beratungsgesellschaft KPMG. Gemessen an Batterieproduktion, Industrieinnovation und Absatz sei China auf der Skala der Wettbewerbsfähigkeit klar die Nummer eins. "Hier haben die asiatischen Anbieter zumindest aktuell eine dominante Position", so der Experte. Schlechte Karten also für Deutschland:  "Die Rohstoffproduktion ist sicherlich kein Feld, auf dem deutsche Zulieferer sinnvoll Chancen suchen, und auch nicht in der Batterieproduktion".

Welche hohen Ansprüche die Fahrzeughersteller aus China erfüllen möchten, wurde auf dem 91. Genfer Autosalon deutlich. Kein einziger Autobauer aus Deutschland war dort präsent, dafür aber jede Menge aus China. Sie zeigten mit ihren Showautos, was sie unter Konnektivität verstehen: integrierte Audio- und Video-Streamingdienste im Entertainmenttool, sowie eine Navigation, die per Countdown anzeigt, wann die nächste Ampel auf grün schaltet. Obendrauf werden für das Interior Massagesessel angeboten - serienmäßig.

Würden Deutsche chinesische E-Autos kaufen?

Spitzenposition in der Technologie

Die Branche in China sieht ein Auto nicht mehr nur als ein Fortbewegungsmittel, das die Fahrgäste über eine größere Entfernung zum Ziel transportiert. Ein Auto ist heute eben nicht mehr bloß ein Ottomotor plus Getriebe, die E-Mobilität nicht nur Karosserie mit Steckdose. China denkt weiter: Es geht um automatisiertes Fahren und Künstliche Intelligenz, um ein umweltfreundliches Verkehrskonzept und die technologische Führung in der industriellen Produktion. Deswegen bringen sich die Elektronik- und Telekommunikationsriesen auf dem umkämpften Markt in Position.

"Derzeit sind fahrende Autos 'mobile Rechenzentren'", sagt Xiaomi-Chef Lei. "Die Automobilindustrie der Zukunft wird fortgeschrittenen und vernetzten 'Smart Space' produzieren." Der andere Hersteller NIO bringt sein Konzept auf den Punkt: Ein NIO als Erweiterung des Wohnzimmers auf vier Rädern. Wan Gang, Ex-Forschungsminister Chinas, schwärmte schon auf der Automesse IAA 2023 in München davon, dass die E-Autos beim Be- und Entladen als Energiespeicher im Stromnetz genutzt werden könnten.

Automesse IAA · Eröffnung
Chinessischer Autobauer BYD auf der IAA 2023 in Münchennull Matthias Balk/dpa/picture alliance

Daten, Daten und Daten - 'Smart' ist die Zukunft

"Für die Produktion und das Fahrzeug der Zukunft ist 'Smart' der nächste große Schritt", sagt Jürgen Unser, der bis zum Januar 2024 China-Präsident von Audi war. "Smart Car, smart Produktion sowie smart Infrastruktur." Die Produktion werde demnächst von Daten und über Künstliche Intelligenz gesteuert. "Es ist sehr wichtig für unsere Gesellschaft, auch in Deutschland, dass wir beim Umgang mit den Daten und bei deren Verwendung deutlich offener werden müssen."

Die chinesischen Autofahrer sind im Vergleich zu anderen Ländern unempfindlich gegenüber dem Sammeln von privaten Daten. Mit den Daten ist dann die innovative Digitalindustrie in der Lage, Algorithmen für die Anwendung der Künstlichen Intelligenz zu entwickeln. Diese Technologien werden als Schlüssel zur Industrie von morgen angesehen.

"Demokratisiert" China die E-Mobilität?

"Die Künstliche Intelligenz wird zu unserem Fortschritt und Wohlstand beitragen", so Unser weiter. "Wir müssen schnell, offen und flexibel sein." Allerdings müssten die gesammelten Daten auch geregelt ausgetauscht werden.

So hatten die Bundesregierung und China im Jahr 2018 eine gemeinsame Absichtserklärung für automatisiertes und vernetztes Fahren unterzeichnet, die der DW vorliegt. Beide Länder wollen "diskriminierungsfreie multilaterale Normen und Anforderungen für Datenzugang und -speicherung, Datenübermittlung und IT-Sicherheit (Cybersecurity) im Bereich automatisiertes und vernetztes Fahren sowie der zugehörigen Infrastruktur" schaffen und entwickeln.

China I Cyberspace Administration
Chinas CAC will jeden Export "wichtiger Daten" prüfennull Thomas Peter/File Photo/REUTERS

Hohe Hürden beim Datentransfer

Die Realität sieht aber anders aus. Laut EU-Kommission beschweren sich viele EU-Unternehmen über Schwierigkeiten bei der Nutzung von Industriedaten ihrer Tochtergesellschaften in China. Ausländische Investoren müssen ihre Rechenzentren in China betreiben. Sie sind meistens eine Insellösung, abgekoppelt von der Datenbank oder dem Cloud-Service des Mutterhauses.

Chinas Daten- und Cybersicherheitsvorschriften seien für die europäische Industrie "ein Problem", ist aus Brüssel zu hören. Der Transfer von Daten aus China heraus bedarf nämlich einer staatlichen Genehmigung durch die Cyberaufsichtsbehörde CAC. Diese will jeden Export von "wichtigen Daten" prüfen.

Auch der Bundesregierung sind die hohen Hürden bekannt. Bundesdigitalminister Volker Wissing hatte bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen 2023 die Notwendigkeit eines freien Datentransfers unterstrichen. Derzeit verhandeln die EU und China über einheitliche Industrienormen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Interesse der grenzlosen Datenregulierung. Noch suchen sie eine gemeinsame Basis.

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

 

Robert Habeck will Pharma-Industrie in Deutschland stärken

Gar nicht so leicht, das Firmengelände des Pharma- und Chemie-Riesen Merck in Darmstadt zu besuchen. Eine gründliche Sicherheitsüberprüfung - online oder vor Ort - ist notwendig, in den Werkhallen tragen die Besucher dann Kittel, Schutzbrille und manchmal sogar Helme. Deutschlands Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen hat das trotzdem auf sich genommen und verteilt erst einmal Lob an die Branche allgemein: "Wir alle nutzen Medikamente, oft täglich. Aber wenn man über die Pharma-Industrie redet, dann heißt es oft: Das sind doch die mit den Tierversuchen, mit all der Chemie. Dabei sind auch sie das starke Deutschland." Die Merck-Chefs um den Geschäftsführer Technik, Kai Beckmann, hören das natürlich gern. 63.000 Menschen in mehr als 60 Ländern arbeiten für das Unternehmen, das 300.000 Produkte herstellt. Neben Medikamenten auch technische Produkte wie Halbleiter.

Weniger Energiebedarf, hoher Forschungsanteil

Zwei Tage Zeit hat sich Habeck genommen, um insgesamt fünf Unternehmen, Start-Ups und Gründerzentren, rund um das Thema Pharma zu besuchen. Rund acht Milliarden Euro werden in der Branche in Deutschland im Jahr investiert, rund 120.000 Menschen arbeiten in diesem Bereich. Die Energiekosten machen einen eher kleinen Anteil aus, entsprechend weniger wird in den Unternehmen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Ende der Lieferung russischen Gases über die hohen Belastungen geklagt. Dafür ist der Forschungsanteil hoch, und Habeck hört Beschwerden über den Mangel an Fachkräften und über eine stetig zunehmende Bürokratie. 

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht mit  Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingen
Robert Habeck zu Besuch bei Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingennull Helmut Fricke/dpa/picture alliance

Ein Beispiel nennen die Merck-Verantwortlichen: Sie präsentieren dem Minister eine High-Tech-Anlage, die gleich mehrere Produkte herstellen kann, indem nur wenige Teile ausgetauscht werden müssen. Modules Arbeiten wird das genannt. Aber bei jeder noch so kleinen Änderung muss die komplette Anlage neu genehmigt werden, was jeweils bis zu neun Monate dauert. Deutschland im Jahr 2024. Trotzdem gab es zuletzt auch positive Nachrichten, etwa, als der US-Konzern Eli Lilly in Alzey in Rheinland-Pfalz mit dem Bau einer Fabrik begann, in der Abnehm-Spritzen hergestellt werden sollen. Investitionssumme 2,7 Milliarden Euro.

Arzneimittelmangel: Folge des globalen Handels

Das ist ein gutes Zeichen, findet Habeck, denn oft genug laufe es andersherum: Habeck sagt der DW: "Immer dann, wenn Produkte etwa zehn Jahre am Markt waren, Massenware wurden, also günstig ohne Patente irgendwo produziert werden konnten, ist die Produktion häufig abgewandert in andere Länder, in denen Arbeit und die Umweltbedingungen möglicherweise günstiger sind." Die Menschen in Deutschland spüren das gerade, wenn es plötzlich Mangel an bestimmten Medikamenten gibt, weil die vielen globalen Krisen die Lieferketten einschränken oder verzögern. Medikamente, die oft in Deutschland entwickelt wurden, nun woanders produziert werden und im Land selbst nicht verfügbar sind.

Eine Flüssigkeit tropft aus der Kanüle einer Spritze
Spritzen und andere Medizintechnik sind eine der Schlüssel-Produkte deutscher Pharma-Unternehmen null Karl-Josef Hildenbrand/dpa/picture-alliance

Habeck will solche Produktionen zumindest teilweise wieder nach Deutschland holen: "Wenn man sie dann wieder hierher holen will, dann wird man dafür einen gewissen Preis zahlen müssen. Das ist dann der Preis der Sicherheit." Aber die Unternehmen hätten ihre Umsätze in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Habeck: "Die Entwicklung von neuen Produkten, die Forschung und die Start-Up-Unternehmen in dem Bereich an den Markt zu bringen, da hat Deutschland wirklich eine sehr starke Ausgangsposition."

Vom langen Weg bis zum fertigen Medikament

Ein solches neues Produkt stellt das Start-Up-Unternehmen Zedira in Darmstadt her. Die Firma ist ein gutes Beispiel dafür, wie lange es dauert, von der Idee über die Entwicklung bis zum Produkt zu kommen. Zedira entwickelt Vorprodukte für Medikamente gegen Gluten-Unverträglichkeit, an der allein in Deutschland nach Firmenangaben bis zu eine Million Menschen leiden. 2007 wurde das Unternehmen gegründet, es wird auch vom Wirtschaftsministerium gefördert. 2015 gab es erste klinische Studien, am Ende des Jahrzehnts, so hoffen die Unternehmensleiter, kann der Wirkstoff zur Verfügung stehen. Geschäftsführer Ralf Pasternack sagt: "Klar, das dauert alles ewig und kostet am Ende viel mehr, als man zunächst annimmt." Schwierig seien auch der Preisdruck und die Zulassung durch die Krankenkassen.

Eine Milliarde Tabletten im Jahr

High-Tech und Tradition gleichzeitig begegnen Habeck dann beim Besuch des Pharma- und Biotech-Unternehmens B. Braun in Melsungen in Hessen. Vor 185 Jahren gegründet und noch immer in Familienbesitz, eröffnet das Unternehmen schon bald ein neues Werk, in dem Produkte für die Infusionstherapie hergestellt werden. Und wenn alles funktioniert, folgt 2025 eines, in dem unter anderem Maschinen für die Dialyse gebaut werden sollen. Investitionssumme insgesamt: rund 60 Millionen Euro. Aus lauter Heimatliebe, so Firmenchefin Anna Maria Braun, sei die Entscheidung für den Standort Melsungen aber nicht gefallen. Hauptgrund war vielmehr die große Erfahrung der bereits jetzt hier arbeitenden rund 7000 Menschen. Aber der Fachkräftemangel macht auch ihr Sorgen. 

Medikamente liegen in den Regalen eines Kommissionier-Automaten einer Apotheke.
Einige Medikamente, auch Antibiotika, waren zuletzt in Deutschland Mangelwarenull Daniel Reinhardt/dpa/picture alliance

Habeck will sich für "Versorgungsgipfel" einsetzen

Welche Probleme die globalen Lieferketten oft bereiten, erfährt der Grünen-Politiker dann in Barleben bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Wieder Kittel und Brillen und diesmal sogar Sicherheitsschuhe: Die Firma Salutas, Tochter des Schweizer Konzerns Sandoz, fertigt hier "eine Milliarde Tabletten im Jahr", wie eine Mitarbeiterin stolz berichtet. Aber der Chef, Thomas Weigold, fordert einen "Versorgungsgipfel" der Regierung, weil es immer wieder zu Engpässen bei der Medikamenten-Versorgung in Deutschland komme. Vor allem, weil die meisten Produkte in Asien hergestellt werden. "Nur noch sieben Prozent der Umsätze machen die deutschen Unternehmen auf dem heimischen Markt", sagt er. Schon in anderen europäischen Ländern liege dieser Anteil bei 30 Prozent. Habeck will die Idee für einen "Versorgungsgipfel" mit ins Bundeskabinett nach Berlin nehmen. Und fordert während seiner Pharma-Reise, beeindruckt von den hohen Summen, um die es hier geht, ein "wuchtiges" Steuer-Entlastungsprogramm für die Wirtschaft. Dazu müsse man dann die Schuldenbremse des Grundgesetzes reformieren. Dafür aber, dass weiß auch der Wirtschaftsminister, fehlt es zurzeit an der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.