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Robert Habeck will Pharma-Industrie in Deutschland stärken

Gar nicht so leicht, das Firmengelände des Pharma- und Chemie-Riesen Merck in Darmstadt zu besuchen. Eine gründliche Sicherheitsüberprüfung - online oder vor Ort - ist notwendig, in den Werkhallen tragen die Besucher dann Kittel, Schutzbrille und manchmal sogar Helme. Deutschlands Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen hat das trotzdem auf sich genommen und verteilt erst einmal Lob an die Branche allgemein: "Wir alle nutzen Medikamente, oft täglich. Aber wenn man über die Pharma-Industrie redet, dann heißt es oft: Das sind doch die mit den Tierversuchen, mit all der Chemie. Dabei sind auch sie das starke Deutschland." Die Merck-Chefs um den Geschäftsführer Technik, Kai Beckmann, hören das natürlich gern. 63.000 Menschen in mehr als 60 Ländern arbeiten für das Unternehmen, das 300.000 Produkte herstellt. Neben Medikamenten auch technische Produkte wie Halbleiter.

Weniger Energiebedarf, hoher Forschungsanteil

Zwei Tage Zeit hat sich Habeck genommen, um insgesamt fünf Unternehmen, Start-Ups und Gründerzentren, rund um das Thema Pharma zu besuchen. Rund acht Milliarden Euro werden in der Branche in Deutschland im Jahr investiert, rund 120.000 Menschen arbeiten in diesem Bereich. Die Energiekosten machen einen eher kleinen Anteil aus, entsprechend weniger wird in den Unternehmen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Ende der Lieferung russischen Gases über die hohen Belastungen geklagt. Dafür ist der Forschungsanteil hoch, und Habeck hört Beschwerden über den Mangel an Fachkräften und über eine stetig zunehmende Bürokratie. 

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht mit  Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingen
Robert Habeck zu Besuch bei Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingennull Helmut Fricke/dpa/picture alliance

Ein Beispiel nennen die Merck-Verantwortlichen: Sie präsentieren dem Minister eine High-Tech-Anlage, die gleich mehrere Produkte herstellen kann, indem nur wenige Teile ausgetauscht werden müssen. Modules Arbeiten wird das genannt. Aber bei jeder noch so kleinen Änderung muss die komplette Anlage neu genehmigt werden, was jeweils bis zu neun Monate dauert. Deutschland im Jahr 2024. Trotzdem gab es zuletzt auch positive Nachrichten, etwa, als der US-Konzern Eli Lilly in Alzey in Rheinland-Pfalz mit dem Bau einer Fabrik begann, in der Abnehm-Spritzen hergestellt werden sollen. Investitionssumme 2,7 Milliarden Euro.

Arzneimittelmangel: Folge des globalen Handels

Das ist ein gutes Zeichen, findet Habeck, denn oft genug laufe es andersherum: Habeck sagt der DW: "Immer dann, wenn Produkte etwa zehn Jahre am Markt waren, Massenware wurden, also günstig ohne Patente irgendwo produziert werden konnten, ist die Produktion häufig abgewandert in andere Länder, in denen Arbeit und die Umweltbedingungen möglicherweise günstiger sind." Die Menschen in Deutschland spüren das gerade, wenn es plötzlich Mangel an bestimmten Medikamenten gibt, weil die vielen globalen Krisen die Lieferketten einschränken oder verzögern. Medikamente, die oft in Deutschland entwickelt wurden, nun woanders produziert werden und im Land selbst nicht verfügbar sind.

Eine Flüssigkeit tropft aus der Kanüle einer Spritze
Spritzen und andere Medizintechnik sind eine der Schlüssel-Produkte deutscher Pharma-Unternehmen null Karl-Josef Hildenbrand/dpa/picture-alliance

Habeck will solche Produktionen zumindest teilweise wieder nach Deutschland holen: "Wenn man sie dann wieder hierher holen will, dann wird man dafür einen gewissen Preis zahlen müssen. Das ist dann der Preis der Sicherheit." Aber die Unternehmen hätten ihre Umsätze in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Habeck: "Die Entwicklung von neuen Produkten, die Forschung und die Start-Up-Unternehmen in dem Bereich an den Markt zu bringen, da hat Deutschland wirklich eine sehr starke Ausgangsposition."

Vom langen Weg bis zum fertigen Medikament

Ein solches neues Produkt stellt das Start-Up-Unternehmen Zedira in Darmstadt her. Die Firma ist ein gutes Beispiel dafür, wie lange es dauert, von der Idee über die Entwicklung bis zum Produkt zu kommen. Zedira entwickelt Vorprodukte für Medikamente gegen Gluten-Unverträglichkeit, an der allein in Deutschland nach Firmenangaben bis zu eine Million Menschen leiden. 2007 wurde das Unternehmen gegründet, es wird auch vom Wirtschaftsministerium gefördert. 2015 gab es erste klinische Studien, am Ende des Jahrzehnts, so hoffen die Unternehmensleiter, kann der Wirkstoff zur Verfügung stehen. Geschäftsführer Ralf Pasternack sagt: "Klar, das dauert alles ewig und kostet am Ende viel mehr, als man zunächst annimmt." Schwierig seien auch der Preisdruck und die Zulassung durch die Krankenkassen.

Eine Milliarde Tabletten im Jahr

High-Tech und Tradition gleichzeitig begegnen Habeck dann beim Besuch des Pharma- und Biotech-Unternehmens B. Braun in Melsungen in Hessen. Vor 185 Jahren gegründet und noch immer in Familienbesitz, eröffnet das Unternehmen schon bald ein neues Werk, in dem Produkte für die Infusionstherapie hergestellt werden. Und wenn alles funktioniert, folgt 2025 eines, in dem unter anderem Maschinen für die Dialyse gebaut werden sollen. Investitionssumme insgesamt: rund 60 Millionen Euro. Aus lauter Heimatliebe, so Firmenchefin Anna Maria Braun, sei die Entscheidung für den Standort Melsungen aber nicht gefallen. Hauptgrund war vielmehr die große Erfahrung der bereits jetzt hier arbeitenden rund 7000 Menschen. Aber der Fachkräftemangel macht auch ihr Sorgen. 

Medikamente liegen in den Regalen eines Kommissionier-Automaten einer Apotheke.
Einige Medikamente, auch Antibiotika, waren zuletzt in Deutschland Mangelwarenull Daniel Reinhardt/dpa/picture alliance

Habeck will sich für "Versorgungsgipfel" einsetzen

Welche Probleme die globalen Lieferketten oft bereiten, erfährt der Grünen-Politiker dann in Barleben bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Wieder Kittel und Brillen und diesmal sogar Sicherheitsschuhe: Die Firma Salutas, Tochter des Schweizer Konzerns Sandoz, fertigt hier "eine Milliarde Tabletten im Jahr", wie eine Mitarbeiterin stolz berichtet. Aber der Chef, Thomas Weigold, fordert einen "Versorgungsgipfel" der Regierung, weil es immer wieder zu Engpässen bei der Medikamenten-Versorgung in Deutschland komme. Vor allem, weil die meisten Produkte in Asien hergestellt werden. "Nur noch sieben Prozent der Umsätze machen die deutschen Unternehmen auf dem heimischen Markt", sagt er. Schon in anderen europäischen Ländern liege dieser Anteil bei 30 Prozent. Habeck will die Idee für einen "Versorgungsgipfel" mit ins Bundeskabinett nach Berlin nehmen. Und fordert während seiner Pharma-Reise, beeindruckt von den hohen Summen, um die es hier geht, ein "wuchtiges" Steuer-Entlastungsprogramm für die Wirtschaft. Dazu müsse man dann die Schuldenbremse des Grundgesetzes reformieren. Dafür aber, dass weiß auch der Wirtschaftsminister, fehlt es zurzeit an der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. 

 

International agierendes Telefonbetrüger-Netzwerk gesprengt

Bei dem Fall handle es sich um den "wohl europaweit größten Callcenterbetrug", erklärten mehrere Behörden gemeinsam in Stuttgart. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl sagte, der jetzt aufgedeckte Callcenter-Betrug habe "ein Ausmaß, das es bislang in Europa so nicht gegeben habe."

Wie das baden-württembergische Innenministerium, das Landesjustizministerium und das Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart sowie die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe mitteilten, wurden in vier Staaten des Westbalkans und im Libanon Callcenter aufgedeckt.

In einer separaten Erklärung teilte Europol mit, dass an der internationalen Polizeiaktion unter dem Decknamen "Pandora" Beamte aus Deutschland, Albanien, Bosnien, dem Kosovo und dem Libanon beteiligt waren. Bei einer Razzia Mitte April in zwölf Callcentern sei es zur Festnahme von 21 Personen gekommen.

Betrug in vielfacher Form

Die Betrüger sollen das gesamte Spektrum der Betrugsvarianten abgedeckt haben. Beispielsweise sollen sie sich als nahe Verwandte, Bankangestellte, Mitarbeiter der Verbraucherzentrale oder als Polizisten ausgegeben haben, um Opfer mit Strafandrohungen, Gewinnversprechen oder Inkassoforderungen zu betrügen.

Eine Hand hält ein Smartphone, die andere tippt darauf
Tausende Menschen sind auf das Telefonbetrüger-Netzwerk reingefallennull Thomas Trutschel/photothek/imago

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft im bayerischen Bamberg zählte auch Cybertrading zu den Maschen. Dabei seien Opfer zum Kauf vermeintlich lukrativer Anlage- und Finanzprodukte mit Kryptowährungen überredet worden. Die Betrüger sollen zwischen November 2022 und Mai 2023 mehrere solcher Plattformen betrieben haben. Den bayerischen Ermittlern zufolge kam es allein in diesem Bereich zu Schäden von rund 220.000 Euro. Es sei jedoch von einer Vielzahl weiterer Fälle auszugehen.

Aufmerksamer Bankmitarbeiter

Ins Rollen waren die Ermittlungen nach Angaben der baden-württembergischen Behörden im vergangenen Dezember gekommen, nachdem ein aufmerksamer Bankmitarbeiter einen Betrugsversuch mit einem Schaden von mehr als hunderttausend Euro verhindert hatte. Die Telefonnummern der Betrüger wurden innerhalb kürzester Zeit auch für tausende weitere Betrugsfälle genutzt.

Noch im selben Monat richtete das baden-württembergische LKA eine Ermittlungsgruppe ein, an der auch Polizeibehörden aus Bayern, Sachsen und Berlin beteiligt waren. Aufgrund der Ermittlungsergebnisse konnten die Beamten potenzielle Betrugsopfer warnen und so in rund 6000 Fällen einen Schaden von insgesamt rund zehn Millionen Euro verhindern. Das seien mehr als 80 Prozent der Fälle gewesen.

Europol-Schriftzug am Gebäude der Behörde im niederländischen Den Haag
Die europäische Polizeibehörde Europol hatte die Federführung bei der großangelegten Razzia "Pandora" gegen Telefonbetrügernull Jerry Lampen/ANP/dpa/picture alliance

Dafür hätten seit Dezember mehrere Hundert Beamte im Schichtbetrieb in Echtzeit Gespräche der Täter mit den auf ganz Deutschland verteilten Opfern verfolgt. Insgesamt seien mehr als 1,3 Millionen Gespräche gesichert worden. Teilweise seien bis zu 30 Gespräche gleichzeitig verfolgt worden, um Straftaten zu verhindern. Insgesamt wird in 7500 Fällen von Anrufen ermittelt.

Razzien in fünf Ländern gleichzeitig

Bei den Razzien am 18. April waren den Angaben zufolge mehrere nationale und internationale Polizei- und Justizbehörden zeitgleich mit Durchsuchungen gegen das Netzwerk vorgegangen. Einsätze gab es in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, dem Kosovo und dem Libanon. Koordiniert wurden die Einsätze von einem Staatsanwalt der europäischen Polizeibehörde Europol im niederländischen Den Haag. Bei den Durchsuchungen beschlagnahmten die Ermittler unter anderem Bargeld und Vermögenswerte in Höhe von einer Million Euro sowie elektronisches Beweismaterial, das zu Informationen „über mögliche weitere Callcenter und weitere Betrüger" führen soll, so Europol.

Baden-Württembergs Innenminister Strobl freute sich über den Erfolg der Ermittler: "Betrügerische Anrufstraftaten sind besonders perfide und skrupellos, denn sie spielen mit den Ängsten und Nöten der Menschen". Der CDU-Politiker kündigte an, dass gegen "diese Kriminellen mit aller Härte und Konsequenz" vorgegangen werde.

mak/sti (afp, dpa)

AfD, Putin & China: Europas Rechtsextremen droht Spaltung

Den Wählern macht die AfD vor der Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni 2024 ein Versprechen: Sie kämpft gegen "Einschränkungen der nationalen Souveränität und die Umverteilung von Wohlstand und Vermögen durch EU-Regelungen". Und sie sagt in ihrem Europawahlprogramm, dass sie für dieses Ziel auch andere europäische Parteien gewinnen will.

Nur, nach all den Skandalen der AfD in den vergangenen Monaten - wer in Europa will noch mit der in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland und ihren Skandalen in eine gemeinsame Fraktion? Mit einer Partei, in der Politiker unter Verdacht stehen, illegale Gelder aus Russland angenommen zu haben? Oder die einen chinesischen Spion beschäftigt haben sollen und Chinas autoritäres Regime anhimmeln?

Vor allem das Verhältnis zu Frankreichs extremer Rechter, zu Marine Le Pen und ihrer Partei Rassemblement National, RN, ist seit Monaten stark belastet. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet von Insider-Aussagen, dass der RN prüfe, nach der Europawahl die gemeinsame Fraktion der extremen Rechten, die Fraktion "Identität und Demokratie" zu verlassen. Auf einer Pressekonferenz am Freitag, den 26. April 2024, wollte sich der RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella nicht zu der befreundeten Partei aus Deutschland äußern.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schüttelt die Hand von Marine Le Pen nach einem Treffen am 21. Juni 2022.
Marine Le Pen will Präsidentin von Frankreich werden - die Skandale der befreundeten AfD stören die Strategie, moderat aufzutretennull LUDOVIC MARIN/AFP/Getty Images

Europas extreme Rechte und Putin

Die Skandale der AfD stören Marine Le Pen und ihre Pläne, Präsidentin von Frankreich zu werden. Denn die Nähe zu Radikalen, zum autokratischen Angriffskrieger Wladimir Putin und zu einem chinesischen Spione passen nicht in ihre präsidiale Strategie. Dabei präsentierte sie sich noch 2017 stolz an der Seite Putins und nahm einen millionenschweren Kredit einer Kreml-nahen Bank an. 

Aber jetzt sucht Frankreichs Rechte die Distanz. Das hat sie im Februar schon die AfD-Parteichefin Alice Weidel spüren lassen. Auf einem Treffen der beiden am 20. April 2024 in Paris soll Le Pen von der Deutschen eine schriftliche Verpflichtung gefordert haben, mutmaßliche Pläne zur Vertreibung von Migranten aus Deutschland niemals Parteiprogramm werden zu lassen.

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am 23.4.2024 vor ihrem Amtssitz Palazzo Chigi in Rom.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gilt als Transatlantikerin - anders als andere europäische rechtsaußen Parteiennull ABACAPRESS/IMAGO

Auch in Italien scheinen die Ultrarechten keine aussichtsreichen Partner für die AfD zu sein. Im Januar 2024 erklärte die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, zwischen ihrer ultrarechten Partei Fratelli d‘Italia und der AfD gebe es "unüberbrückbare Differenzen". Die würden bei den Beziehungen zu Russland anfangen, so Meloni auf einer Pressekonferenz in Rom. Die Postfaschistin Meloni gilt zwar in der Innen- und Migrationspolitik als Hardlinerin, außenpolitisch orientiert sie sich aber, anders als die AfD, am transatlantischen Bündnis mit den USA.   

AfD geht auf Distanz zu Krah

Die AfD selbst reagiert auf die eigenen Skandale verunsichert. Zum Wahlkampfauftakt Ende April verdonnerte die Parteispitze den eigenen Spitzenkandidaten Maximilian Krah dazu, nicht teilzunehmen. Denn die Liste der Beschuldigungen, Verdächtigungen und Gerüchte um ihn ist zu lang geworden: ein Mitarbeiter von ihm wurde gerade erst wegen Spionageverdachts für China verhaftet.

Außerdem vernahm das FBI Krah laut Medienberichten in New York wegen der Gelder aus Russland. Und die Generalstaatsanwaltschaft Dresden leitete zwei Vorermittlungen gegen ihn ein, wegen des Verdachts auf illegale Zahlungen aus Russland und China. Krah weist alle Anschuldigungen zurück. Den Sicherheitsbehörden hat er seine Zusammenarbeit angeboten.

Petr Bystron spricht am 20.11.2021 auf einer Demonstration in München in ein Megaphon.
AfD-Politiker Petr Bystron steht im Verdacht illegale Gelder von einem prorussischen Propagandanetzwerk angenommen zu habennull Sachelle Babbar/ZUMA/picture alliance

Ein weiteres Problem der AfD ist, dass auch die Nummer Zwei der Wahlkampfliste derzeit angeschlagen ist. Petr Bystron steht ebenfalls im Verdacht, illegale Zahlungen aus Russland empfangen zu haben. Bei ihm wirkt der Verdacht noch schwerer: Medien berichten von Audioaufnahmen, in denen sich Bystron beschwert haben soll, dass das Geld in zu großen Scheinen ausgezahlt werde. 

Angesichts der Ausweitung der Skandale gerät in den eigenen Reihen auch die Parteispitze in die Kritik. Die scheidende AfD-Europaabgeordnete Sylvia Limmer kritisiert, dass ein umstrittener Politiker mit seinen China-Kontakten überhaupt als Spitzenkandidat aufgestellt wurde: "Denn die Hinweise waren hinreichend bekannt."

AfD: kein Ende der Skandale?

Das Ende der Skandale ist für die AfD noch längst nicht ausgemacht. Der deutsche Justizminister, Marco Buschmann, rechnet für die kommenden Monate mit weiteren Spionagefällen: "Wir müssen davon ausgehen, dass wir auch in den nächsten Monaten weitere Enttarnungen vornehmen werden", sagte Buschmann dem ARD-Fernsehen.

Und auf der AfD-Kandidatenliste zur Wahl des EU-Parlaments stehen neben Maximilian Krah und Petr Bystron weitere umstrittene Parteimitglieder. So hat der aussichtsreiche Kandidat Siegbert Droese in der Vergangenheit mit Hand auf dem Herz vor Hitlers Führerbunker, der sogenannten Wolfsschanze, posiert. 

Droese ließ außerdem Wahlkampf mit einem AfD-Wagen machen, dass die szenetypischen Symbole für Adolf Hitler als Auto-Kennzeichen hatte. Und auf den vorderen Plätzen tummeln sich außerdem zwei Mitglieder, die wegen vermeintlicher Hochstapelei von der eigenen Partei mit einer Ämtersperre belegt wurden.

20 Jahre EU-Osterweiterung - wie geht's weiter?

"Big Bang" (Paukenschlag), diesen Spitznamen trägt die Erweiterung der Union um zehn Staaten am 1. Mai 2004 im EU-Jargon. Die Zahl der Mitgliedsstaaten stieg über Nacht von 15 auf 25. Der Kontinent war 15 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa wieder vereint. Mit Volksfesten und Feuerwerken, Festreden und dem Durchsägen von Schlagbäumen wurde vor 20 Jahren von Estland im Norden bis Slowenien im Süden gefeiert. Die Mittelmeerinseln Malta und Zypern wurden ebenfalls aufgenommen.

"Das war ein starkes Signal an Russland, aber nicht nur das. Es zeigte die Fähigkeit der EU, starke Entscheidungen zu fällen, sich zu erweitern und Bedingungen zu erfüllen. Das lief so positiv ab, weil es in der EU und in den Beitrittsländern die entsprechenden politischen Bedingungen gab, die günstiger waren, als sie es heute sind", meint Tefta Kelmendi von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Brüssel.

Vereinigung ohne Alternative

Sowohl für die EU als auch für die zehn neuen Mitgliedstaaten war die Erweiterung eine gute Sache, sagt die EU-Expertin Kelmendi im Gespräch mit der DW. Das Wirtschaftswachstum in den beitretenden Ländern zog im europäischen Binnenmarkt an. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit wurden nach Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung, einem gesellschaftspolitischen Forschungsinstitut in Deutschland, gestärkt.

Ausnahmen bildeten Ungarn und Polen. Dort haben sich die Regierungen über Jahre von europäischen Werten entfernt. In Polen kehrt sich der Trend seit dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr wieder um. Nach dem Transformationsindex der Bertelmann-Stiftung erreichen die baltischen Staaten, Tschechien, Slowenien und die Slowakei die Bestnote als "Demokratie in Konsolidierung". Polen und Ungarn werden als "defekte Demokratien" ausgewiesen.

Deutschland Frankfurt (Oder) 2004 | Außenminister Fischer und Cimoszewicz umarmen sich bei EU-Beitritt Polens
Deutsch-polnisches Stelldichein an der Oder-Brücke in Frankfurt in der Nacht zum 1. Mai 2004: Polens Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz (li.), deutscher Amtsbruder Joschka Fischernull Patrick Pleul/ZB/picture alliance

Zur Erweiterung der EU 2004 und der etwas verzögerten Aufnahme Bulgariens (2007), Rumäniens (2007) und Kroatiens (2013) gab es keine Alternative, glaubt EU-Experte Hans Kribbe vom Brüsseler Institut für Geopolitik (BIG): "Es war unausweichlich das zu machen als Antwort auf historische Umbrüche und den Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks."

Zwei weitere Wellen erwartet

"Die EU-Kommission spielt natürlich ihre Rolle als jubelnde Anhängerin der Erweiterung", sagt Kribbe. Intern sei man sich aber bewusst, dass man aus der großen Erweiterungswelle auch Lehren für die Zukunft ziehen müsse. Vor allem habe die EU lernen müssen, dass sie aufnahmefähiger werden und ihre Verfahren und Abläufe verschlanken müsse. Bisher gebe es für eine solche Reform der heutigen Europäischen Union aber keinen Plan und keinen Zeithorizont.

Dabei stehen die nächsten Erweiterungen an. Sechs Staaten auf dem westlichen Balkan von Bosnien-Herzegowina bis Albanien sollen aufgenommen werden. Die Ukraine, Moldau und Georgien sind die jüngsten Beitrittskandidaten, die vor allem wegen der Bedrohung durch Russland ein Expressticket in die EU lösen könnten.

Den Westbalkan-Staaten wurde der Beitritt wieder und wieder versprochen. Heranführung, Verhandlungen, Anpassungen, all das hat nach den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien Jahrzehnte in Anspruch genommen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wiederholt gerne, dass es jetzt an der Zeit sei, endlich zu handeln.

Belgien | EU-Westbalkan-Gipfel
Gipfel um Gipfel: Seit Jahrzehnten verhandelt die EU mit den Westbalkanstaaten, bislang schaffte nur Kroatien den Sprung in die Gemeinschaftnull Virginia Mayo/AP Photo/dpa/picture alliance

"Ich glaube nicht, dass es einen nächsten 'Big Bang' geben wird, das würde nicht funktionieren", sagt Tefta Kelmendi vom European Council on Foreign Relations. Die sechs Westbalkanländer seien in ihrer Entwicklung und Beitrittsfähigkeit zu unterschiedlich. Es werde eins nach dem andern aufgenommen werden, vermutet sie. Zuerst Albanien, Nordmazedonien und Montenegro. Serbien und Kosovo müssten ihren Streit um Staatlichkeit und Minderheiten beilegen.

Auf jeden Fall könne man nicht warten, bis die bilateralen Konflikte zwischen Serbien und Kosovo gelöst seien. Das hieße die anderen Länder zu Geiseln dieses Konflikts zu machen. "Die Art und Weise, mit der die EU versucht hat, die Erweiterungsperspektive zu nutzen, um bilaterale Probleme zu lösen, hat der Region nicht geholfen. Sie ist zu sehr auf Stabilisierung und nicht so sehr auf die wirtschaftliche Entwicklung fokussiert."

EU-Beitritt der Ukraine: eine große Herausforderung 

Verglichen mit den Balkanstaaten wäre die Ukraine wirklich ein "Big Bang" für die Europäische Union. Mehr als 40 Millionen Menschen, ein riesiges Agrarland, das ärmste in Europa, zusätzlich belastet vom Krieg, dem Russland ihm aufgezwungen hat. Beitrittsverhandlungen sollen demnächst mit einer Regierungskonferenz beginnen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist sich sicher, dass die Ukraine in den europäischen Klub gehört. "Die Ukraine hat ihre europäische Wahl getroffen. Und sie wissen, was das bedeutet. Wir haben unsere ukrainische Wahl getroffen. Genauso wie wir vor vielen Jahren entschieden haben, so viele Staaten in unsere Union heimzuholen", sagte von der Leyen im Europäischen Parlament.

Ukraine Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj in Kiew
In Rekordzeit zum Beitrittskandidaten: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (li.) lobt den ukranischen Präsidenten Selenskyj (November 2023)null Efrem Lukatsky/AP Photo/picture alliance

Die Aufnahme der Ukraine in die EU ist genauso unabweisbar wie die Aufnahme der zehn Staaten vor 20 Jahren, meint EU-Experte Hans Kribbe. Das Land wehre sich gegen Russland auch für Europa. "Die Ukraine macht die ganze Arbeit", aber am Ende müssten die Menschen in den alten EU-Staaten überzeugt werden, einer Erweiterung zuzustimmen. Dazu ist Einstimmigkeit unter den dann wahrscheinlich mehr als 30 Staaten nötig. In einigen müssen Referenden abgehalten werden.

Im Moment, so Kribbe, würden die wirklichen Probleme dieser Erweiterung nicht angesprochen, um die Europäer nicht zu verschrecken. "Das ist eine riskante Strategie. Irgendwann wird man sich der Realität stellen müssen." Denn die Ukraine-Aufnahme würde ein totales Umschichten im EU-Haushalt erfordern. Aus heutigen Netto-Empfängern von Zuschüssen und Fonds würden höchstwahrscheinlich Netto-Zahler, darunter wohl Polen und Ungarn.

Italien Gorizia 2004 | Bürgermeister vor Grenze zu Nova Gorica vor EU-Beitritt Sloweniens
Wiedervereinigung bleibt der Ziel der EU: 2004 freuen sich die Bürgermeister von Gorizia, Italien, und Nova Gorica, Slowenien, über das Ende der Grenze durch ihre geteilte Stadtnull AFP/Getty Images

Nicht aufhören zu träumen

Eine Vorhersage, wann die nächsten Beitritte kommen, sei schwierig, aber man müsse optimistisch bleiben, meint Jerzy Buzek. Der Pole ist Europaabgeordneter seit dem Beitritt seines Landes 2004. Von 1997 bis 2001 war er Regierungschef und bereitete Polens EU-Beitritt mit vor. "Als wir jung waren, schien das nicht reell, aber er (der Beitritt, Anm. d. Red.) wurde zu einer Tatsache. Das heißt, wir sollten träumen und an unseren Träumen hängen", sagte Buzek im Parlament mit Blick auf die nächsten Beitrittskandidaten.

Die Türkei, die seit 2005 mit der EU über eine Aufnahme verhandelt, werde wahrscheinlich nicht beitreten. Der autokratisch geführte Staat entfernt sich immer weiter von europäischen Werten, meint EU-Experte Krippe: "Das ist ein hoffnungsloser Fall, wenn es um den Beitritt geht." Trotzdem sollte die EU enge, bilaterale Beziehungen, eine privilegierte Partnerschaft anstreben, weil die Türkei eine geopolitische Schlüsselstellung innehabe, wenn es um die Abwehr Russlands und um Migrationsfragen gehe.

DGB fordert am Tag der Arbeit "Tarifwende" in Deutschland

Auf Kundgebungen und Veranstaltungen in ganz Deutschland haben die Gewerkschaften zum Tag der Arbeit bessere Arbeitsbedingungen und mehr Tarifbindung gefordert. "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit", zitierte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, das Motto bei der zentralen Kundgebung in Hannover. Ihre Stellvertreterin Elke Hannack sprach sich in Münster für mehr Investitionen und mehr Personal im öffentlichen Dienst aus.

Der Staat solle "auf allen Ebenen seine Aufgaben erfüllen und den Bedürfnissen unserer Bürgerinnen und Bürger gerecht werden", sagte Hannack und warnte vor einem Sparkurs in der Bildungspolitik. "Wichtig sind jetzt mehr Erzieherinnen und Erzieher, mehr Lehrerinnen und Lehrer sowie mehr Sozialarbeit an Schulen und Kitas, die besser ausgestattet werden müssen."

"130 Milliarden Euro Schaden"

Fahimi pochte auf eine "Tarifwende". Nur noch gut die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland falle unter den direkten Schutz eines Tarifvertrags, sagte die SPD-Politikerin. "Tarifflucht" der Arbeitgeber verursache jedes Jahr einen volkswirtschaftlichen Schaden von 130 Milliarden Euro.

1. Mai Tag der Arbeit
Kundgebungen am Tag der Arbeit gab es in ganz Deutschland - wie hier in Berlin ...null Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Erst Tarifverträge machten Beschäftigte zu freien Menschen in der Arbeitswelt, betonte Fahimi. Sie sorgten für mehr Lohn, faire Bezahlung und geregelte Arbeitszeiten. Es dürfe "keinen Cent Steuergeld für Tarifflucht und Lohndumping" geben, forderte die frühere Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium. Die Regierung müsse über das Bundestariftreuegesetz hinaus Maßnahmen ergreifen, damit wieder 80 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden seien.

"Wie soll das alles gehen?"

In ihrer Rede verlangte Fahimi außerdem mehr Investitionen. Deutschland lebe seit mindestens zwei Jahrzehnten von seiner Substanz, kritisierte sie. Nun stünden ein historischer Umbau der Energieinfrastruktur und ein Digitalisierungsschub bei der öffentlichen Verwaltung an. "Wie soll das alles gehen, wenn man dafür nicht mehr Geld in die Hand nimmt?"

1. Mai Tag der Arbeit
... Frankfurt ...null Andreas Arnold/dpa/picture alliance

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betonte in einer Videobotschaft, die Beschäftigten in Deutschland hätten 2023 so viele Stunden gearbeitet wie nie zuvor. "Deshalb ärgert es mich, wenn manche abschätzig vom 'Freizeitpark Deutschland' reden - oder wenn gefordert wird, das Renteneintrittsalter anzuheben."

Arbeitgeber: "Mehr und nicht weniger Arbeit"

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte dagegen "mehr und nicht weniger Arbeit in Deutschland". In Zeiten geringen Wachstums, einer immer älter werdenden Gesellschaft sowie eines hohen Arbeits- und Fachkräftemangels "müssen wir gemeinsam anpacken", erklärte Dulger. Es gebe "keinen anstrengungslosen Wohlstand". Im Mittelpunkt müsse die Frage stehen, wie der Standort Deutschland wieder attraktiv gemacht werden könne.

1. Mai Tag der Arbeit
... oder Nürnbergnull Daniel Vogl/dpa/picture alliance

Der Gewerkschaftsbund feierte den Tag der Arbeit nach eigenen Angaben mit mehreren Hundert Kundgebungen und Veranstaltungen auf Straßen und Plätzen der Republik. In Berlin folgten dem DGB-Aufruf nach einer Polizeischätzung mehr als 7500 Menschen. In Hamburg waren es fast ebenso viele. Die Teilnehmerzahl bei der Hauptkundgebung in Hannover gab der DGB mit mehr als 10.000 an, die Polizei der niedersächsischen Landeshauptstadt sprach von deutlich weniger Menschen.

Der 1. Mai ist in vielen Ländern Europas, aber auch in Staaten anderer Kontinente ein Feiertag. Als Tag der Arbeiterbewegung wurde er bekannt, nachdem im 19. Jahrhundert Generalstreiks und Massenkundgebungen an diesem Datum stattgefunden hatten.

jj/sti (dpa, afp)

Tschechien erinnert an seine im Holocaust ermordeten Roma

Dreißig Jahre nach dem Fall des Kommunismus gibt es in der Tschechischen Republik endlich eine Gedenkstätte für die im Holocaust ermordeten Roma. Sie wurde auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Lety in Südböhmen eröffnet, in dem hauptsächlich Roma interniert waren. Staatspräsident Petr Pavel, Ministerpräsident Petr Fiala und ein Großteil der tschechischen Regierung waren zu der feierlichen Einweihung am 23.04.2024 gekommen.

Der tschechische Präsident Peter Pavel (links) schüttelt die Hand von Jana Horvathova (rechts), Direktorin der Museums der Roma Kultur bei der Eröffnung der Gedenkstätte in Lety am 23.04.2024. Neben den beiden stehen zwei weitere Personen, ein Mann links, eine Frau rechts im Bild. Im Hintergrund ist die Büste eines Mannes auf einer Stele zu sehen
Der tschechische Präsident Peter Pavel schüttelt die Hand von Jana Horvathova, Direktorin des Museums der Roma-Kultur bei der Eröffnung der Gedenkstätte in Lety am 23.04.2024null Lubos Pavlicek/CTK/picture alliance

"Auch heute noch ist es notwendig, an das zu erinnern, was hier geschehen ist. Es ist eine Warnung, wie weit Menschen gehen können", sagte Präsident Pavel. Die Öffentlichkeit wird die Gedenkstätte zum ersten Mal am 12. Mai besichtigen können. Ein Gedenkpfad wird die Besucher durch das gesamte ehemalige KZ-Gelände führen, das auch Nachbildungen der Lagerbaracken umfasst.

KZ, Schweinefarm, Gedenkstätte

Mit der Einweihung der Gedenkstätte geht das lange Ringen um die Erinnerung an die Ermordung der tschechischen Roma durch die Nazis und ihre Helfer zu Ende. Jahrzehntelang war in dem ehemaligen Lager eine Schweinefarm untergebracht.

Langgestreckte niedrige Farmgebäude und Silos einer Schweinemästerei auf dem Gelände des ehemaligen KZ Lety in Tschechien. Im Vordergrund ist hohes Gras zu sehen.
Schweinefarm auf dem Gelände desehemaligen Arbeits- und Konzentrationslagers Lety in Tschechiennull Lubos Palata/DW

Die Bemühungen um ihre Beseitigung und den Bau einer Gedenkstätte für die Roma wurden in den 1990er Jahren vom damaligen Präsidenten Vaclav Havel vorangetrieben. Doch erst im Jahr 2017 beschloss die Regierung, einem privaten Unternehmer die Schweinefarm für umgerechnet knapp 20 Millionen Euro abzukaufen. Vor zwei Jahren wurde mit dem Abriss der Mästerei begonnen.

Brno: Das Museum der Roma-Kultur

Die Gedenkstätte, an deren Bau sich auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt hat, ist Teil des Roma-Museums in Brno, das früher Brünn hieß.

Ein Lager unter tschechischer Aufsicht

Die Entscheidung, in Lety ein Arbeitslager einzurichten, war Anfang März 1939 gefallen, kurz vor der Besetzung der tschechischen Länder durch Nazi-Deutschland. Nach der heute überwiegenden Meinung tschechischer Historiker war das Lager vor allem für Roma bestimmt. Aber auch andere nicht-sesshafte Personen wurden hier inhaftiert und zur Zwangsarbeit herangezogen.

Nach der Besetzung durch die Nationalsozialisten wurde das Lager in Lety in ein klassisches Konzentrationslager für Roma umgewandelt. 1942 bis 1943 durchliefen 1294 Menschen das Lager, von denen mindestens 335 während ihres Aufenthalts dort ums Leben kamen. Ein weiteres ähnliches Lager befand sich in Kunstat bei Hodonin.

Als das Hitler-Regime 1943 beschloss, die Roma in den von den Nazis kontrollierten Gebieten zu vernichten, wurden die Menschen aus dem Lager in Lety in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden. Das Lager wurde im Jahr 1943 aufgelöst.

Die Bewacher des Lagers in Lety waren Tschechen, und das Lager unterstand bis zu seiner Auflösung der Regierung des Protektorats Böhmen und Mähren. Die meisten Todesfälle im Lager waren auf die sehr schlechten hygienischen Bedingungen in der Einrichtung zurückzuführen. Nach dem Krieg wurde gegen die Lagerleitung ein Prozess geführt, aber niemand wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Gedenkstätte Lety - ein Traum geht in Erfüllung

"Die Eröffnung des Holocaust-Mahnmals für die Roma und Sinti in Lety ist ein wahr gewordener Traum der Roma", sagt Lucie Fukova, die Roma-Beauftragte der tschechischen Regierung zur DW. Noch vor wenigen Jahren habe an diesem Ort Gestank geherrscht - und ein Gefühl unglaublicher Ungerechtigkeit angesichts der Existenz der Schweinefarm. "Wir erleben jetzt einen außergewöhnlichen Moment von globaler Bedeutung - nicht nur für die Nachkommen der Überlebenden und alle Roma, sondern für die gesamte Gesellschaft", so Fukova. Die Eröffnung der Gedenkstätte sei das Ergebnis jahrelanger Bemühungen und Arbeit, vor allem von Nachfahren der Überlebenden und Menschenrechtsaktivisten. "Unser Staat musste sich auch mit seiner langjährigen Schuld auseinandersetzen, historisch, politisch und menschlich", fügt sie hinzu.

Die tschechische Beauftragte für die Roma-Minderheit, Lucie Fukova in einer Porträtaufnahme. Sie schaut mit verschränkten Armen lächelnd in die Kamera.
Die tschechische Beauftrage für die Roma-Minderheit, Lucie Fukovanull Veronika Rose/Úřad vlády

Premierminister Fiala zeigte sich erleichtert über die Einrichtung der Gedenkstätte. "Endlich können wir den Roma-Opfern der monströsen, unfassbaren Ideologie, die Europa in den 1930er und 1940er Jahren im Griff hatte, in Würde gedenken", sagte er vor Journalisten in Lety. "Wir müssen offen zugeben, dass das alles zu lange gedauert hat. Die Gedenkstätte hätte schon viel früher hier stehen sollen." Außenminister Jan Lipavsky stimmt zu. Im Gespräch mit der DW sagt er: "Mit der Eröffnung des Denkmals zahlen wir einen Teil unserer Schuld gegenüber allen Roma und Sinti zurück, die jahrelang für ihren berechtigten Platz im Gedächtnis unserer Nation gekämpft haben."

Antiziganismus wird wie Antisemitismus behandelt

Die Roma-Minderheit macht etwa 2,5 Prozent der elf Millionen Einwohner Tschechiens aus. Die proeuropäische Regierung Fiala hat sich zum Ziel gesetzt, ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage zu verbessern. Am 10. April 2024 verabschiedete sie einstimmig eine Definition von "Antiziganismus", die wie Antisemitismus behandelt wird. "Die Definition bezeichnet eine spezifische Form des Rassismus, dem Roma aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Kultur oder Lebensweise ausgesetzt", sind so das tschechische Kabinett in seinem Beschluss. Die Definition wurde von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) in Anlehnung an die Definition von Antisemitismus formuliert. Sie wurde 2020 verabschiedet und anschließend von vielen Ländern  übernommen. Mit der Verabschiedung der Definition solle die Ablehnung der Diskriminierung von Roma einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden, erklärte die tschechische Regierung.

Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala steht an einem Pult in der Gedenkstätte von Lety und spricht in ein Mikrofon. Hinter ihm ist die Flagge der Roma zu sehen.
Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala, hier bei der Eröffnung der Gedenkstätte in Letynull Lubos Pavlicek/CTK/picture alliance

"Es ist auch ein wichtiger symbolischer Schritt und eine Botschaft an die Roma-Gemeinschaft, dass sie dazugehört. Die Regierung der Tschechischen Republik hat unmissverständlich klargestellt, dass jegliche Äußerungen von Hass oder Diskriminierung in der Tschechischen Republik nicht willkommen sind", so Fukova zur DW.

Bessere Bildungschancen für Roma 

Die Roma bilden in der Tschechischen Republik überwiegend das schwächste soziale Segment der Bevölkerung. Die Hälfte von ihnen lebt in "sozial ausgegrenzten Gebieten". Ein Teil der tschechischen Roma, schätzungsweise 50.000 bis 70.000 Menschen, wanderte vor dem Brexit nach Großbritannien aus, um der Diskriminierung in ihrer Heimat zu entgehen. Die meisten von ihnen fanden dort Arbeitsmöglichkeiten. 

Männer halten bei einer Demonstration die Flagge der Roma hoch und Schilder mit der Aufschrift "Roma Lives Matter"
Demonstration für die Rechte der Roma in Tschechien nach dem Tod eines Rom, der bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen warnull Ondrej Hajek/CTK/picture alliance/dpa

Dennoch hat die Regierungsbeauftragte Fukova die Hoffnung, dass sich die Situation der Roma in Tschechien verbessert. Der Weg dahin führe über den Zugang der Roma zu einer hochwertigen Bildung. "Wir werden gemeinsam mit der Regierung an der Entwicklung von schulischen Rahmenprogrammen zur Anhebung des Bildungsniveaus der Roma arbeiten", erklärt sie im Gespräch mit der DW. Damit wolle man der Segregation und Isolation der Roma-Minderheit entgegenwirken.

EU ermittelt gegen Meta wegen Verstoßes gegen Digitalgesetze

Hält sich Meta nicht an Europas Maßgaben? Die EU-Kommission will das nun prüfen. Sie verdächtigt den mächtigen Internetkonzern aus den USA, im Umgang mit politischer Werbung gegen EU-Recht verstoßen zu haben. Wegen der Verbreitung von Falschinformationen zur Europawahl unter anderem aus Russland und Versäumnissen im Kampf gegen Fake News hat die Behörde in Brüssel ein Verfahren eingeleitet gegen die Muttergesellschaft von Facebook und Instagram.

Das Unternehmen gehe auf den beiden Social-Media-Plattformen nicht ausreichend gegen "Werbekampagnen im Zusammenhang mit ausländischer Manipulation und Einmischung" vor, teilte die Kommission mit. Nutzenden werde es zudem schwer gemacht, Falschinformationen zu melden.

Die EU-Kommission habe das Verfahren eingeleitet, um "die europäischen Bürgerinnen und Bürger vor gezielter Desinformation und Manipulation aus Drittländern zu schützen", teilte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit. "Besonders in Zeiten demokratischer Wahlen" müssten große Plattformen wie Instagram und Facebook "ihren Verpflichtungen nachkommen".

Zu langsam, zu intransparent

Die Kommission wirft Meta vor, irreführende Beiträge nicht konsequent genug zu löschen. "Täuschende Werbung ist ein Risiko für unsere Online-Debatte und letztlich für unsere Rechte als Verbraucher und Bürger", so EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Auf den Plattformen Instagram und Facebook mangele es "an Transparenz bei der Werbung und den Moderationsverfahren für Inhalte".

Margrethe Vestager | EU Kommissarin für Wettbewerb (05.03.2024)
EU-Wettbewerbskommissarin Vestager (Archivbild): "Mangelnde Transparenz"null Yves Herman/REUTERS

Zudem sorgt der Konzern nach Einschätzung der Behörde in Brüssel dafür, dass bestimmte politische Beiträge grundsätzlich weniger oft angezeigt werden. Mit dieser Kontrolle über die Inhalte untergrabe Meta die nötige Transparenz und die freie Meinungsbildung der Nutzenden, teilte die Kommission weiter mit.

Außerdem will Meta demnach noch in diesem Jahr die Funktion "Crowd Tangle" auslaufen lassen, mit der die Verbreitung politischer Beiträge auf den Plattformen öffentlich einsehbar ist - etwa für Forscher, Journalisten und Wahlbeobachter. "Gerade in Zeiten von Wahlen sollte der Zugang zu solchen Werkzeugen erweitert werden", erklärte die Kommission. Es werde geprüft, ob die Dienste Facebook und Instagram gegen das EU-Gesetz für digitale Dienste (Digital Services Act - DSA) verstoßen.

Fünf-Tage-Frist für Meta

Meta wies den Vorwurf zurück. "Wir haben ein etabliertes Verfahren zur Identifizierung und Minimierung von Risiken auf unseren Plattformen." Der US-Konzern hat nun fünf Arbeitstage Zeit, um die Europäische Union über mögliche Schritte zu informieren, die darauf zielen, die Bedenken auszuräumen.

Der DSA unterwirft große Internetkonzerne einer verschärften Regulierung. Das Gesetz schreibt diesen Unternehmen vor, ein Risikomanagement einzurichten sowie verstärkt gegen Hass und Hetze im Internet vorzugehen.

EU-Kommission eröffnet Verfahren gegen Meta

Die Richtlinie verpflichtet Online-Plattformen unter anderem, Falschinformationen und Gewaltdarstellungen schneller zu löschen und die Algorithmen hinter personalisierter Werbung offenzulegen. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes.

Es ist das fünfte Mal, dass die EU den Digital Services Act umsetzt. Bislang laufen in Brüssel unter anderem Verfahren gegen die Videoplattform Tiktok und den Kurzmitteilungsdienst X. Tiktok wird zudem vorgeworfen, Minderjährige nicht ausreichend vor Suchtgefahren auf der Plattform zu schützen. In einem weiteren Verfahren ermittelt die Kommission gegen den Online-Händler AliExpress wegen des Vertriebs mutmaßlich gefälschter Arzneimittel.

AR/jj (afp, rtr, dpa)

Schulen in Deutschland - das mobbende Klassenzimmer

An manchen Tagen ist die Welt für die deutsche Bildungsministerin noch in Ordnung. Zum Beispiel dann, wenn wie jedes Jahr die besten Lehrer ausgezeichnet werden. Und Bettina Stark-Watzinger die besondere Ehre hat, auf die Sieger des Deutschen Lehrkräftepreises eine Laudatio halten zu dürfen. Der Mathelehrer beispielsweise, der laut seinen Schülern auch die unerträglichste Stunde noch spannend macht. Oder die Sonderpädagogin, die Schüler mit Rollstuhl in ihr Theaterprojekt engagiert. Oder der Lehrer, der selbst erstellte Videos in seinen Unterricht einbaut.

Alles wunderbar also im Land der Dichter der Denker? Es geht so.

Denn in den vergangenen Wochen und Monaten machte eine Studie nach der anderen deutlich, dass das deutsche Bildungssystem dringend Nachhilfe benötigt. Da war zunächst die PISA-Studie im Dezember, bei der deutsche Schülerinnen und Schüler in Mathematik und beim Lesen so schlecht wie noch nie abschnitten.

In der Jugendstudie 2024 kritisierten junge Menschen ein eklatantes Digitalisierungsdefizit in der Schule und dass diese sie nicht auf die Arbeitswelt und das wirkliche Leben vorbereite. Zudem berichtete im sogenannten Schulbarometer mit 47 Prozent fast jede zweite Lehrkraft, schon einmal psychische oder physische Gewalt unter Schülern gesehen zu haben.

"Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems", erklärt Dagmar Wolf. Die ehemalige Lehrerin leitet den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, die für das Schulbarometer mehr als 1.600 Lehrer online befragte. Weiter sagt sie gegenüber der DW: "Wir sprechen von Bullying, wir sprechen von Vandalismus, aber auch von handfesten, auch körperlichen Auseinandersetzungen, die zum Teil natürlich über den Schulhof hinausgehen. Es wurden uns sogar Situationen berichtet, in denen Eltern involviert waren. Eher eine Ausnahme, aber es ist auch nicht so, dass es das nicht gibt."

Gewalt sogar an Grundschulen

Früher undenkbar wäre auch gewesen, dass die Berliner Bildungssenatorin einen Brief an 800 Schulen schicken muss, um vor einem Gerücht auf Tiktok zu warnen: Dort ging die Falschmeldung um einen "National Rape Day" viral, am 24. April seien sexuelle Übergriffe angeblich erlaubt. Auch geopolitische Krisen und Kriege wirken sich aus: Schulleitungen berichten laut Wolf, dass es aufgrund des Krieges in Gaza und Israel zu mehr Gewalt unter den Schülern gekommen sei.

Wer gedacht hat, dies alles sei lediglich ein Problem der weiterführenden Schulen, sieht sich getäuscht - schon in Grundschulen, also bei Schülern im Alter von sechs bis zehn Jahren, gebe es erste Fälle von Mobbing und Rangeleien. Von der Idee der netten und kuscheligen Grundschule müsse man sich verabschieden.

Ihr Fazit: in Sachen Bildung sei Deutschland ein zweigeteiltes Land. Auf der einen Seite die mehr als 3000 Gymnasien, mit ganz anderen Bedingungen und Herausforderungen als die Schulen, die vor allem von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Schichten besucht würden. Und dann ist da noch die Herkulesaufgabe für alle Schulen in Deutschland: die Aufnahme von Geflüchteten.

Frau mit Kurzhaarfrisur, weißem Hemd und dunkelblauem Sakko lächelt in die Kamera
Dagmar Wolf: "Bei vielen Schülern, gerade in den Schulen in kritischen Lagen, herrscht eine enorme Perspektivlosigkeit vor"null Robert Bosch Stiftung/Foto: Michael Fuchs

"Wir haben in den letzten zwei Jahren mehr als 200.000 Kinder ins Bildungssystem integriert, die aus der Ukraine kamen. Und mindestens in genauso hoher Zahl aus anderen Ländern, in denen entweder die ökonomische Not groß ist oder in denen auch Bürgerkrieg oder kriegsähnliche Zustände herrschen. Und das macht natürlich auch die Situation in der Grundschule deutlich schwerer als noch vor zehn Jahren", sagt Dagmar Wolf von Robert Bosch Stiftung.

Herausforderungen Handykonsum und Corona-Pandemie

Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie sich der Alltag und der Umgang an den Schulen in den letzten Jahren geändert hat, muss mit Torsten Müller (Name von der Redaktion geändert) sprechen. Er ist Sozialarbeiter an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen und hat jeden Tag ein Ohr für die Nöte, Sorgen und Probleme der Schülerinnen und Schüler. Für den Anstieg von Stress, Erschöpfung, Selbstzweifeln und Antriebslosigkeit, den auch die Jugendstudie feststellte, hat er gegenüber der DW folgende Erklärung:

"Entscheidend ist natürlich der Handykonsum, der auch die Kommunikation untereinander verändert hat. Die Jugendlichen sprechen mehr übereinander als miteinander, und es entstehen Missverständnisse, die man vis-a-vis nicht gehabt hat. Und dann sind wir immer noch dabei, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie aufzuarbeiten, mit einem Verlust der Sicherheit und einem signifikanten Anstieg von psychiatrischen Erkrankungen."

Kinder und Schule in der Pandemie

Die monatelange Schließung der Schulen gilt als der größte Fehler der deutschen Corona-Politik: während in Frankreich die Schulen nur an 56 Tagen, in Spanien an 45 und in Schweden an 31 Tagen geschlossen waren, mussten die Schüler und Schülerinnen hierzulande mehr als 180 Tage zu Hause bleiben. Müller beobachtet, dass die Zündschnur heute bei vielen Jugendlichen deutlich kürzer ist. Dass schon mal eher geboxt oder geschubst wird, anstatt Argumente auszutauschen. Mit Deeskalationstrainings versucht die Schule gegenzusteuern, der Sozialarbeiter und sein Team leiten die dreitägigen Trainings.

"Wir vermitteln Kenntnisse, wie es überhaupt zum Streit kommt und was ich als Gruppe oder Einzelner tun kann, um gar nicht erst in diese Situation zu kommen. Wie funktioniert Mobbing, das jeder zweite oder dritte Schüler schon am eigenen Leib erfahren hat. Anschließend entwickeln wir in Übungen eine gemeinsame Strategie, um dagegen vorzugehen."

Mehr Personal in der Schulpsychologie gefordert

Kleinere Klassen bei gleichbleibender Anzahl der Lehrerstellen, ein gutes Helfersystem und der Ausbau von Sozialarbeit und Schulpsychologie lautet das Rezept von Müller, um Deutschlands Schulen wieder in die Spur zu bekommen. Stefan Düll würde dies wahrscheinlich direkt so unterschreiben, doch seine Liste ist noch weitaus länger. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes sagt gegenüber der DW:

"Wir brauchen jede Menge Menschen, die Deutsch als Zweitsprache, als Fremdsprache unterrichten können. Wir brauchen unterstützendes Personal im Bereich Schulpsychologie, Schulassistenz, Jugendarbeit. Aber wir finden die Menschen nicht mehr so leicht, weil die demografische Entwicklung gegen den Bedarf läuft. Der wird immer größer, die gesuchten Fachkräfte immer weniger. So funktioniert das Ganze nicht mehr."

Mann mit blauem Jackett, weißem Hemd und roter Krawatte und Brille schaut lächelnd in die Kamera
"Ein Lehrer braucht eine hohe Resilienz, muss mit Stress umgehen können und ihn als positiv empfinden" - Stefan Düllnull Andreas Gebert/bpv

Und so steigt der Frust auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die immer häufiger Konflikte schlichten müssen, statt zu unterrichten. Die Ergebnisse des Schulbarometers sprechen Bände: Jeder dritte Lehrer fühlt sich laut der Umfrage an mehreren Tagen emotional erschöpft. Mit 27 Prozent würde mehr als ein Viertel der Befragten den Schuldienst verlassen - obwohl die große Mehrheit der Lehrkräfte immer noch mit ihrem Beruf zufrieden ist. Und als größte Herausforderung gilt mittlerweile das Verhalten der Schülerinnen und Schüler.

Deswegen müsse auch mehr Personal zur Gewaltprävention her, fordert der Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Würden gewisse Grenzen überschritten, helfe aber nur eine Null-Toleranz-Politik: "Ab einem gewissen Punkt ist einfach Schluss und wir sind im Bereich des Strafrechts mit einer Anzeige bei der Polizei, um auch ein bisschen abzuschrecken. Dies gilt übrigens auch für Mobbing-Fälle. Auch beim Cyber-Mobbing geben viele Schulleiter die Fälle bei der Polizei ab."

KI-Kurzfilm: Wie Sora die Spielregeln der Animation neu definiert

"Man sagt, dass jeder Mensch etwas Besonderes an sich hat. Etwas, das ihn von den anderen unterscheidet. In meinem Fall ist es offensichtlich, was es ist". So beginnt der Kurzfilm "air head". Das Besondere am Protagonisten ist, dass ihm statt eines Kopfes ein gelber Ballon aus dem Hals wächst. Auch der Film selbst ist etwas Besonderes: Es ist der erste Kurzfilm, der von der künstlichen Intelligenz Sora generiert wurde. 

Sora macht Text zu Video

Die Technologie stammt von der Firma OpenAI, die auch hinter dem Chatbot "ChatGPT" steckt. Sora funktioniert ganz einfach. Man beschreibt genau, was generiert werden soll und erhält es innerhalb weniger Sekunden.

"Als wir von Sora hörten, stand sofort fest, dass wir damit einen Film machen wollen", erzählt Produzentin Sydney Woodman. Ihr Ehemann Walter Woodman ist Autor und Regisseur. Zusammen mit dem zweiten Regisseur Patrick Cronenberg haben sie den Film in nur anderthalb Wochen produziert. Ohne Sora wäre es in der Geschwindigkeit nicht möglich gewesen, einen solchen Animationsfilmzu erstellen. 

Die drei haben Hunderte von Prompts, so heißen die Anweisungen an die KI, eingegeben, um zum Endergebnis zu gelangen: Ein Kurzfilm, der auf den ersten Blick nicht von einem Realfilm zu unterscheiden ist. 

Die Schnelligkeit von Sora ermöglichte es dem Team, in jeder Phase der Produktion neue Bilder zu generieren. Das ist bei einer herkömmlichen Animation fast unmöglich. 

Nicht alles in "air head" kommt von der KI. Ein Mensch muss die Clips zusammenfügen, genauso wie die Postproduktion mit kleinen Anpassungen wie Farbkorrekturen.

Das Problem mit Gesichtern und Händen

Wie der Protagonist "air head", der versucht, im Kaktusladen nicht zu platzen, mussten auch die Filmemacher einige Nadelstiche vermeiden. "Es ist schwierig, in mehreren Videos das gleiche Gesicht zu haben. Wir haben das Problem umgangen, indem wir unserem Protagonisten einen gelben Luftballon als Kopf gegeben haben", erzählt Regisseur Patrick Cronenberg. 

Neben der Konsistenz sind auch die Hände und bestimmte Bewegungen ein Problem. "Es ist leicht, etwas Schönes zu schaffen. Aber es ist schwierig, dieses schöne Ding dazu zu bringen, das zu tun, was man will", sagt Walter Woodman. Besonders schwierig war es, einen Körper ohne Kopf hinter einem Ballonkopf herlaufen zu lassen. 

 "Air head" hat seinen Kopf verloren und rennt ihm hinterher.
Dieser Shot war besonders schwierig von der KI zu generieren. "Air head" hat seinen Kopf verloren und rennt ihm hinterher.null Shykids

KI als Kreativakteur

Regisseur Cronenberg beschreibt die Arbeit mit Sora als eine verrückte neue Art der Kollaboration. "Beim KI-Prompting geht es darum, den Computer auszutricksen, damit er macht, was man will." Die KI habe dem Kopf oft ein Smiley-Gesicht aufgemalt. Es reicht nicht aus, die Anweisung zu geben, dass die KI dem Ballon kein Gesicht verpassen soll. Dann macht sie das Gegenteil und setzt ein Gesicht auf den Ballon. Der erfolgversprechendste Prompt war "Mann mit einem gelben Ballon als Kopf. Der Ballon ist rein".  

"Air head" mit Ballon steht neben einer Frau, die ihre Augen aufreißt.
Menschliche Gesichter generiert Sora Probleme null Shykids

Volker Helzle ist Abteilungsleiter für Forschung und Entwicklung am Animationsinstitut der Filmakademie Baden-Württemberg und forscht zum Thema KI-Animation. Der Film hat ihn beeindruckt, aber er kritisiert, dass mit Sora ein Teil der menschlichen Kreativität verloren geht. "Normalerweise tauche ich stunden- und tagelang in ein Thema ein und animiere Details. Mit Sora sitze ich in einer Zeitmaschine und nehme nicht am kreativen Prozess teil".

Für Walter Woodman dagegen ist Sora wie eine weitere Person im kreativen Prozess. "Als Regisseur hat man immer eine bestimmte Vorstellung davon, wie etwas ablaufen soll, auch mit den Schauspielern. Aber man muss sich auf den Prozess einlassen, Raum für Entdeckungen lassen. Nur so kann das beste Produkt entstehen." So war es auch bei Sora. Je mehr er versuchte, etwas in eine Richtung zu animieren, desto schlechter wurde das Endprodukt.

Eine Katze schaut einen Ballon an.
Tiere sind für Sora einfach generierbar. Hier begutachtet eine Katze "air heads" gelben Ballonkopfnull Shykids

"Unser Verständnis von Kreativität wird sich verändern"

"Wir bewegen uns in eine Richtung, in der sich unser Verständnis von menschlicher Kreativität grundlegend verändern wird" glaubt Helzle. "Meine 5-jährige Tochter wird es in 10 Jahren vielleicht gar nicht mehr interessieren, ob etwas KI-generiert ist oder nicht. Vielleicht gibt es dann schon KI-Inhalte, die unmittelbar anhand des Userverhaltens generiert werden."

"Air head" ist im Film nur einen Nadelstich entfernt von seiner Auslöschung. Geht es der Animationsindustrie genauso? Walter Woodman ist sich sicher, dass Sora zumindest nicht alle Animationen ersetzen wird. "Es kommt immer auf die Vision der Künstler an. Studio Ghibli aus Japan z.B. wird immer mit Zeichnungen arbeiten und das ist auch gut so."

200.000 Jobs in Gefahr, doch neue kommen dazu

Man ist sich in der Branche einig: Es wird Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geben. Das bestätigt auch eine Befragung von "CVL Economics", die mutmaßt, dass die KI bis 2026 allein in den USA über 200.000 Jobs übernimmt

Doch es entstehen auch neue Berufe. Jonas Trottnow ist zum Beispiel KI-Ingenieur. Er glaubt, dass im Bereich Prompt Engineering, sowie im technischen Verständnis der generativen KI Potentiale für neue Arbeitsfelder liegen. 

Zu viel Macht für OpenAI? 

An Sora kritisiert Trottnow, dass amerikanische Firmen wie OpenAI eine zentralisierte Macht über die Modelle hätten. Auch Helzle sieht darin ein Problem. "Bei ernsten Themen ist das gefährlich, etwa wenn es um Konflikte in Filmen oder Dokumentationen geht. Welche Parameter nimmt die KI an? Und wer kontrolliert sie?"

Faktencheck: Wie erkenne ich KI-Videos von Sora?

Er beschreibt außerdem eine "klare Gegenbewegung gegen US-Firmen, die viel Vertrauen verspielt haben". Es gebe auch rechtliche Bedenken, da unklar sei, mit welchen Daten die KI trainiert wurde.

Sora macht Animation zugänglicher

Aber alle sind sich einig: Wenn Sora Ende des Jahres auf den Markt kommt, eröffnen sich unendliche Möglichkeiten für kleine Produktionen. Für eine Animation braucht man vielleicht bald keine großen Kenntnisse mehr, jeder kann mit seinem Gerät Clips animieren.

"Ich freue mich, dass bald viele Menschen ihre Ideen umsetzen können. Das ist eine Chance für mehr Originalität", sagt Walter Woodman. "Der nächste Film, der die Welt verändern wird, kommt von dort, wo wir ihn nie erwartet hätten." 

"Das andere Berlin": Reiseführer und Videoguide

Zu Berlin ist alles geschrieben und gesagt? Das geht schon deshalb nicht, weil die Stadt sich ständig verändert. Sie auch noch im Buch festzuhalten wäre aussichtslos, weil alles nur Momentaufnahme bliebe?

Dem Autor Oliver Kiesow und dem Berliner Videocontent-Creator Kai Steinecke ist mit dem Buch ein Balanceakt zwischen klassischem Sightseeing und dem Einblick in eine schnelllebige Szene gelungen. Denn natürlich führt das Buch zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt, vors Brandenburger Tor, zum Reichstag und auf die Museuminsel. So schnell wird sich deren Status als Must-See auch nicht ändern. Die Stationen gehören zum Tagesprogramm.

Das andere Berlin: Die Museumsinsel

"Berliner Nächte sind lang"

Und dann wird es Nacht. Mit dem ersten Kapitel ist der Ton gesetzt: "Berliner Nächte sind lang" heißt es in Anlehnung an den Song "Kreuzberger Nächte sind lang" aus den 1970er-Jahren: "Hier steppt der Bär." Womit der Reiseführer über das andere Berlin schnurstracks in der Clubszene angekommen ist. Mit Clubs wie Berghain, Tresor und Bunker erlangte Berlin Weltruhm. Leser erfahren, dass rund 1,4 Milliarden Euro Umsatz in Hotelgewerbe und Gastronomie auf den Clubtourismus zurückzuführen waren, zumindest bis kurz vor der Pandemie. Sie lesen aber auch, wo Tanzen abseits der Touristenpfade möglich ist, wo Livemusik gespielt wird, welche Kneipentouren sich anbieten, wo die besten Biergärten liegen. "Partylocation ist die ganze Stadt", sagt DW-Host Kai Steinecke dazu. Die Szene verändert sich schnell, aber wer die "Kieze", wie die Berliner ihre Stadtteile nennen, so detailreich mit ihren Schleichwegen und Geheimtipps vorgestellt bekommt, ist gerüstet für eigene Entdeckungen.

Das andere Berlin: Der Kulturdachgarten „Klunkerkranich”

Ein Mann mit grüner Jacke und weißen Shirt lächelt in die Kamera
Kai Steinecke gibt Insider-Tipps für Berlin null Moritz Ortjohann

Für Steinecke ist Berlin die "Stadt im permanenten Umbau". Sie war durch die Jahrhunderte Experimentierfeld für architektonische Visionen. Das Buch beschreibt und bebildert die historischen Brüche, die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, den Nachkriegsaufbau in der geteilten Stadt und die fast 35 Jahre seit dem Mauerfall

Das andere Berlin: Vom Mauerbau bis zum Mauerfall

Best of Currywurstbuden

Und dann ist es immer wieder das Schräge, Skurrile und Sinnliche, von dem sich dieser Berlinführer leiten lässt. Mehrere Kapitel widmen sich dem kulinarischen Angebot der Stadt: den besten Adressen für die Currywurst, für den in Berlin erfundenen Döner, das Fleisch vom Spieß, das mit Salat in ein aufgeschnittenes im Brot gepackt wird, das urberlinerische deftige Eisbein. Selbst die Blutwurstmanufaktur in Neukölln wird gewürdigt, mit Adresse und U-Bahn-Haltestelle.

Das andere Berlin: Die Currywurst

Da müssen Vegetarier und Veganer einen Moment lang stark bleiben, bis sie ihre Tipps fürs fleischlose Glück bekommen. Nach London gilt Berlin als zweitgrößte vegane Metropole der Welt. Vom Streetfood bis zum Fine Dining der Sterneküche bietet der Reiseführer Dutzende Adressen und Kurzporträts. Der alte Vorwurf, Berlin sei eine kulinarische Steppe, preußisch, protestantisch und karg, wurde in den vergangenen Jahrzehnten häufig widerlegt, und dazu haben die Einwanderer aus fast allen Nationen der Welt beigetragen. Auch ihrem Platz in der Berliner Kulinarik ist ein Kapitel gewidmet.

Berlins queere Geschichte

"Das andere Berlin" zeigt aber auch, was an Berlin anders ist als an anderen Städten. Kaum sonst wo gibt es eine so vielfältige und so traditionsreiche schwul-lesbische und queere Szene wie in der deutschen Hauptstadt. Sie ist verbunden mit dem politischen Kampf um Gleichstellung und Freiheitsrechte, der vor mehr als 150 Jahren begann. Im damaligen Deutschen Reich wurde der Strafrechtsparagraf 175 eingeführt, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Das Kapitel „Der lange Weg zur Freiheit" führt zu den Stätten Berlins, die an die Verfolgung, etwa in der NS-Diktatur, erinnern. 

Heute ist Berlin nicht nur Party-, sondern auch LGBTQ+-Metropole. Mit dutzenden Tipps zum Ausgehen in der Szene endet der knapp 200 Seiten starke Reiseführer.

Das andere Berlin: Queer Life um den Nollendorfplatz

Das Gute ist: Selbst wer nur wenig Deutsch beherrscht, wird sich in diesem Reiseführer schnell zurechtfinden. Die Fotos, die Adressen, alle mit den S- und U-Bahnhaltestellen versehen, springen ins Auge. Und wer sich die Highlights im Video ansehen möchte, scannt mit seinem Smartphone den QR-Code und schaut sich einen der kurzen Infofilme an.

Oliver Kiesow: Das andere Berlin. Mit Insidertipps zu Kunst und Kultur, Architektur, Hotspots, Food, Nightlife, Queer Life. Fotografiert von André Götzmann. 192 Seiten, 115 Fotos 

Ukraine-Krieg: Warum kauft die EU weiter russisches Gas?

Mehr als zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine strömt noch immer russisches Gas nach Europa. Damit finanzieren Unternehmen aus der EU den Kreml indirekt weiter - wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als noch vor dem Ukraine-Krieg. Rund 34 Prozent der europäischen Gasimporte stammten damals aus Russland. Länder in Mittel- und Osteuropa waren besonders abhängig.

Als die EU zu Beginn des Ukraine-Krieges ein Import-Verbot vorschlug, sprach sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sofort dagegen aus. Ohne Russland sei "die Versorgung Europas mit Energie für Wärmeerzeugung, Mobilität, Strom und Industrie derzeit nicht zu sichern", argumentierte Scholz.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin war diese Sorge durchaus bewusst. Er drosselte die Gaseinfuhren nach Europa. Vor dem Winter 2022 befürchteten die europäischen Staats- und Regierungschefs einen Energieschock. Zwar sind diese Befürchtungen nie eingetreten - doch die Angst saß und sitzt noch immer tief. Auch deshalb hat die EU nie wirklich Sanktionen gegen russisches Gas verhängt.

 "Es gab keine Sanktion", sagt Benjamin Hilgenstock, Ökonom von der Kyiv School of Economics. "Es war eine freiwillige und kluge Entscheidung der Länder, die Versorgung zu diversifizieren und nicht länger von Russland erpressbar zu sein", sagte er der DW.

Wie russisches LNG-Gas Pipelinegas ersetzen?

Nach EU-Angaben ist der Anteil des von den Mitgliedstaaten importierten russischen Pipelinegases von 40 Prozent im Jahr 2021 auf etwa acht Prozent im Jahr 2023 gesunken.

Bezieht man jedoch verflüssigtes Erdgas (LNG) mit ein, dann lag der Anteil des russischen Gases an den Gesamteinfuhren der EU im vergangenen Jahr bei 15 Prozent. Flüssiggas; Erdgas, das in abgekühlter und verflüssigter Form mit dem Schiff transportiert werden kann.

Ein Schiff liegt am LNG-Terminal in Wilhelmshafen vor Anker
Deutschland hat schnell seine Abhängigkeit von Russland reduziert durch den Bau von LNG-Terminals - wie hier in Wilhelmshaven. null Michael Sohn/REUTERS

Die EU konnte ihre Russland-Abhängigkeit nach Beginn des Ukraine-Krieges vor allem dadurch verringern, dass sie ihre LNG-Importe aus Ländern wie den Vereinigten Staaten und Katar erhöhte.

Doch damit kam auch vermehrt verbilligtes russisches LNG in die EU. Nach Angaben des Datenanbieters Kpler ist Russland jetzt der zweitgrößte Flüssiggas-Lieferant der EU.

2023 machten die Importe aus Russland 16 Prozent der gesamten LNG-Versorgung der EU aus. Das ist ein Anstieg von über 40 Prozent im Vergleich zu 2021 - also vor Kriegsbeginn. Daten aus dem ersten Quartal 2024 zeigen, dass die russischen Flüssiggas-Exporte nach Europa im Vergleich zum Vorjahr erneut um fünf Prozent gestiegen sind. Frankreich, Spanien und Belgien haben besonders viel LNG importiert. Auf diese drei Länder entfielen 87 Prozent des gesamten Flüssiggases, das im Jahr 2023 in die EU kam.

Länder wollen Verladung von LNG stoppen

Ein großer Teil des russischen Flüssiggases wird jedoch gar nicht für den europäischen Markt benötigt, sondern nur in europäischen Häfen umgeschlagen, sagt der Ökonom Hilgenstock. Das heißt, es kommt an - wird auf andere Schiffe verladen und dann in andere Länder exportiert. "Das hat also nichts mit der europäischen Erdgasversorgung zu tun. Es geht nur darum, dass europäische Unternehmen Geld damit verdienen, russische LNG-Exporte zu ermöglichen."

Einem aktuellen Bericht des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) zufolge wurde knapp ein Viertel der europäischen Flüssiggasimporte aus Russland (22 Prozent) 2023 wieder auf die globalen Märkte verschifft. Der Großteil ginge an Länder in Asien, sagte Petras Katinas, Energieexperte beim CREA, der DW.

Mehrere EU-Mitglieder wie Schweden, Finnland und die baltischen Staaten üben daher Druck auf die EU aus. Sie wollen ein vollständiges Verbot für russisches LNG. Das aber benötigt die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.

Innerhalb der EU konzentriert sich die Diskussion vor allem auf ein Verbot der Umschlagung von russischem Flüssiggas in den Häfen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg wird auch über die Sanktionierung wichtiger russischer LNG-Projekte nachgedacht, wie Arctic LNG 2, das Ust Luga LNG-Terminal und eine Anlage in Murmansk.

"Wir sollten russisches LNG im Grunde verbieten", sagte Hilgenstock on der Kyiv School of Economics. "Wir glauben nicht, dass es eine bedeutende Rolle für die europäische Gasversorgung spielt und relativ leicht durch Flüssiggas aus anderen Quellen ersetzt werden kann." Auch eine Studie der Denkfabrik Bruegel aus dem Jahr 2023 untermauert diese Aussage.

Dennoch warnte die Europäische Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden - kurz Acer - kürzlich: Eine Reduzierung der russischen LNG-Importe sollte nur "schrittweise" erfolgen, um einen Energieschock zu vermeiden.

Auch Pipeline-Gas kommt noch nach Europa

Die Nord-Stream-Pipelines durch die Ostsee sind derzeit nicht in Betrieb. Auch über die Festlandpipeline Jamal-Europa fließt kein russisches Gas mehr nach Europa. Dennoch erreicht russisches Gas weiter über Pipelines durch die Ukraine die österreichische Erdgasdrehscheibe Baumgarten. Der Grund liegt auf der Hand: Das teilstaatliche österreichische Energieunternehmen OMV hat mit dem russischen Gasriesen Gazprom einen Liefervertrag bis 2040 abgeschlossen.

Österreich bestätigte im Februar dieses Jahres, dass 98 Prozent seiner Gasimporte im Dezember 2023 aus Russland stammten. Laut der Regierung in Wien soll der Vertrag so schnell wie möglich gekündigt werden. Dafür seien aber EU-Sanktionen nötig, um diesen Schritt auch juristisch zu rechtfertigen.

Tatort Ostsee - Wer sprengte die Nord Stream-Pipelines?

Auch Ungarn hat weiterhin russisches Gas in großen Mengen über Pipelines importiert. Vor kurzem hat das Land einen Gasvertrag mit der Türkeiabgeschlossen - viele Experten gehen aber davon aus, dass es sich auch dabei um russisches Gas handelt, das über die Pipeline Turkstream die Türkei erreicht.

Der Ökonom Hilgenstock nimmt an, dass einige Länder weiterhin russisches Gas kaufen, weil sie von günstigen Verträgen profitieren. "Solange es also kein Embargo gegen russisches Erdgas gibt, können diese Länder das auch tun."

Für Österreich und Ungarn könnte ein mögliches Ende ihrer Pipeline-Importe aus Russland letztlich durch die Ukraine erfolgen. Kiew beharrt nämlich darauf, dass es den bestehenden Vertrag mit Gazprom über die Durchleitung von Gas durch sein Territorium nicht verlängern wird. Dieses Abkommen läuft Ende 2024 aus.

Zeit für ein Embargo?

Obwohl immer noch russisches Gas nach Europa importiert wird, ist der Anteil an den europäischen Gasimporten insgesamt seit 2021 drastisch gesunken. Die EU strebt an, dass die Union bis 2027 völlig frei von russischem Gas ist.

Ein Ziel, das Hilgenstock für zunehmend realistisch hält. "Ich denke, wenn uns dieses ganze Kapitel eines gezeigt hat, dann dass wir unsere Gasversorgung und andere Energiequellen relativ schnell von Russland weg diversifizieren können."

Dennoch seien die politischen Bedingungen für ein totales Gasembargo - insbesondere für ein Pipelinegas derzeit "nicht besonders günstig". Hilgenstock verweist auch auf die ungarisches EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 als mögliches Hindernis. Budapest hat engere Beziehungen zu Moskau als die meisten EU-Mitgliedstaaten.

In Bezug auf LNG ist er optimistischer. Neben Maßnahmen der EU müssten aber auch die großen Flüssiggas-Importeure wie Spanien und Belgien selbst die Initiative ergreifen. "Die Einfuhr von russischem Gas durch die Hintertür ist ein großes Problem". Zum einen wegen der Botschaft, die dadurch ausgesendet werde und man helfe Russland bei seinen LNG-Lieferketten. "Das sollten wir nicht tun."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

Deutsche Wirtschaft entgeht Rezession

Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Quartal dank steigender Exporte und Bauausgaben an einer Rezession vorbeigeschrammt. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs von Januar bis März um 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte.

Das ist das größte Plus seit einem Jahr. Im vierten Quartal 2023 war Europas größte Volkswirtschaft noch stärker geschrumpft als bislang angenommen, und zwar um revidiert 0,5 (bisher: -0,3) Prozent. Bei zwei Minus-Quartalen in Folge wird von einer technischen Rezession gesprochen.

Ein Schiff vor Kränen im Containerhafen Bremerhaven
Bessere Geschäfte der Exporteure verhindern das Abgleiten in eine Rezessionnull Sina Schuldt/dpa/picture alliance

Den Statistikern zufolge wurde das Wachstum zu Jahresbeginn von Anstiegen der Bauinvestitionen und der Exporte getragen. "Die privaten Konsumausgaben gingen dagegen zurück", hieß es.

2023 insgesamt sank das Bruttoinlandsprodukt mit 0,2 Prozent etwas geringer als bislang mit minus 0,3 Prozent angenommen. Die Bundesregierung erwartet für 2024 ein Wachstum von 0,3 Prozent.

Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge schlägt sich keine andere große Industrienation derzeit schlechter als Deutschland.

"So richtig deutliches Wachstum wird es wohl erst 2025 geben", sagte LBBW-Ökonom Jens-Oliver Niklasch voraus. Dennoch könnte Europas größte Volkswirtschaft nach Einschätzung vieler Volkswirte das Schlimmste inzwischen überstanden haben.

"Strukturelle Herausforderungen bleiben"

Zuletzt verbesserten sich viele Stimmungsindikatoren wie das Geschäftsklima. "Für den lange ersehnten Aufschwung der deutschen Wirtschaft keimt Hoffnung auf", sagte der Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Guido Baldi. "Strukturelle Herausforderungen bleiben aber bestehen und dämpfen das Trendwachstum vorerst weiterhin - von der Alterung der Bevölkerung über die Rückstände bei der Digitalisierung bis hin zur lange verschleppten Energiewende."

Auch wächst die Zuversicht, dass künftig der private Konsum die Konjunktur anschiebt. Der Umsatz im Einzelhandel stieg im März mit real 1,8 Prozent zum Vormonat so stark wie seit fast zweieinhalb Jahren nicht mehr. "Es wächst die Hoffnung, dass der nahende Frühling den Konsum weiter anstacheln wird", sagte der Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank, Alexander Krüger.

Einkaufstüten
Auch der Binnenkonsum dürfte angesichts der deutlichen Lohnzuwächse bald wieder anziehennull dpa

Die Bundesbank sieht die heimische Wirtschaft allerdings noch nicht vor einem anhaltenden Aufschwung. "Die Konjunktur in Deutschland hat sich etwas aufgehellt, eine durchgreifende Belebung ist aber noch nicht gesichert", heißt es im aktuellen Monatsbericht.

Die gestiegenen Finanzierungskosten und die erhöhte wirtschaftspolitische Unsicherheit dämpften demnach die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Die Nachfrage nach Waren Made in Germany aus dem In- und Ausland sei nach wie vor schwach. Auch im Wohnungsbau sei der Negativtrend in der Nachfrage noch nicht gebrochen.

Habeck will "wuchtiges" steuerliches Entlastungsprogramm

Die Bundesregierung sah in ihrer jüngsten Prognose zunehmende Anzeichen für eine Trendwende. Mit einer kräftigen Konjunkturerholung wird allerdings vorerst nicht gerechnet. Zum Jahresende 2023 war die Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorquartal preis-, kalender- und saisonbereinigt nach revidierten Zahlen um 0,5 Prozent gesunken. Im Gesamtjahr 2023 rutschte Deutschland mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes, der nach neuesten Berechnungen preisbereinigt minus 0,2 Prozent betrug, in eine leichte Rezession.

Für das laufende Jahr hob die Regierung ihre Konjunkturprognose leicht an und erwartet nun 0,3 Prozent Wachstum im laufenden Jahr. Zuvor war die Regierung von 0,2 Prozent Plus ausgegangen.

Ein Wachstum von 0,3 Prozent sei natürlich "nichts, mit dem wir zufrieden sein können", hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingeräumt. Es gebe aber eine Reihe positiver Entwicklungen. Beispielsweise habe die Inflation schneller nachgelassen als erwartet.

Am Montagabend (29.04.2024) sprach sich Habeck bei einer Veranstaltung in Kassel für ein "kurzfristiges und wuchtiges" steuerliches Entlastungsprogramm für die Wirtschaft aus.

Um dies zu finanzieren, warb der Grünen-Politiker für eine Reform der Schuldenbremse. Mehr Flexibilität würde es erlauben, mehr für die Bauwirtschaft und die Investitionen von Firmen zu tun. Habeck räumte aber ein, für eine Reform der Schuldenbremse gebe es derzeit keine politische Mehrheit.

hb/bea (rtr,dpa)

Inflation in Deutschland verharrt bei knapp über zwei Prozent

Die Inflationsrate in Deutschland bleibt nach drei Rückgängen in Folge unverändert. Die Verbraucherpreise lagen im April wie schon im März um 2,2 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats, wie das Statistische Bundesamt am Montag auf vorläufiger Basis mitteilte. Niedriger war die jährliche Teuerungsrate zuletzt im April 2021 mit damals 2,0 Prozent. Im Dezember vergangenen Jahres hatte die Rate noch bei 3,7 Prozent gelegen und war seither stetig zurückgegangen. Höhere Teuerungsraten schwächen die Kaufkraft von Verbraucherinnen und Verbrauchern.

Wieder regulärer Mehrwertsteuersatz für Erdgas und Fernwärme

Für Nahrungsmittel zahlten Verbraucherinnen und Verbraucher im April 0,5 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die Preise für Haushaltsenergie sanken dagegen um 1,2 Prozent - trotz des Auslaufens der temporären Mehrwertsteuersenkung für Gas und Fernwärme. Seit Anfang April gilt für diese Güter wieder der reguläre Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent.

Um die hohen Energiepreise als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine abzufedern, hatte die Politik die Mehrwertsteuer auf Erdgas und Fernwärme vom 1. Oktober 2022 bis zum 31. März 2024 auf sieben Prozent gesenkt. In einigen Bundesländern zogen die Preise für Fernwärme im Jahresvergleich deutlich an, wie aus den Statistiken mehrerer Landesämter hervorgeht.

Zudem mussten die Menschen demnach beim Besuch der Gaststätte oder der Übernachtung im Hotel in vielen Bundesländern in diesem April tiefer in die Tasche greifen als ein Jahr zuvor. Von März auf April des laufenden Jahres stiegen die Verbraucherpreise nach vorläufigen Berechnungen des Wiesbadener Bundesamtes insgesamt um 0,5 Prozent.

Schlechtere Aussichten für weitere Entwicklung

Im Jahresschnitt erwarten führende Wirtschaftsforschungsinstitute eine deutliche Abschwächung der Inflation in Europas größter Volkswirtschaft auf 2,3 Prozent nach 5,9 Prozent im vergangenen Jahr. Allerdings könnte der Weg dorthin mühsamer werden als erhofft. Die aktuellen Preispläne der Unternehmen hierzulande deuten nach Einschätzung des Münchner Ifo-Instituts auf eine Pause beim Rückgang der Inflation hin.

Teurer werden dürfte es für die Kundschaft vor allem in der Gastronomie sowie beim Kauf von Spielwaren und Drogerieartikeln. Die Schlussfolgerung der Ifo-Forschenden: "In den kommenden Monaten dürfte die Inflation erst einmal nicht weiter zurückgehen und bei knapp über zwei Prozent verharren."

Wann kommt die Konsumwende?

Niedrigere Inflationsraten können die Konsumlust von Verbraucherinnen und Verbrauchern ankurbeln. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung machte in einer jüngst veröffentlichten Studie auf Basis einer Umfrage unter 9600 Menschen eine spürbare Zunahme der Konsumneigung in allen Einkommensgruppen aus, insbesondere bei Freizeit, Unterhaltung und Kultur. Es gebe Indizien für eine "bevorstehende Konsumwende" - vor allem dann, "wenn im Jahresverlauf die Inflationsrate weiter sinkt und mit steigenden Nominallöhnen auch die Reallöhne nach mehreren Jahren des Rückgangs wieder steigen", hieß es in der Auswertung.

Auch die jüngsten Daten der Konsumforscher der Nürnberger GfK zeigen, dass die Aussicht auf steigende Löhne für bessere Stimmung sorgt: Die Kauflaune der Menschen hierzulande sei weiterhin schlecht, aber sie erhole sich leicht. Der Privatkonsum ist eine wichtige Stütze der Konjunktur in Deutschland, die seit Monaten nicht recht in Fahrt kommt.

hb/iw (dpa)

Wie gut ist Deutschland auf die nächste Pandemie vorbereitet?

Die Welt hat die Coronavirus-Pandemie weitestgehend überstanden – und bereitet sich bereits auf die nächste vor. Ein globaler Pandemievertrag soll Länder stärker vernetzen. Über einen Entwurf verhandeln derzeit die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Dass eine nächste Pandemie kommen wird, steht für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außer Frage. Nach SARS-CoV-2 werden nun Grippeviren, SARS-CoV-3 oder die Pocken als Kandidaten gehandelt. "Die Vogelgrippe wäre ungemütlich", sagt der Molekularbiologe Emanuel Wyler vom Berliner Max-Delbrück-Centrum. "Pocken wären ein kleiner, wenn auch unwahrscheinlicher, Albtraum". Aber auch Masern oder multiresistente Bakterien kommen in Frage - die Liste ist lang.

Eine immer vernetztere Welt und der Klimawandel führen dazu, dass Infektionskrankheiten sich immer besser ausbreiten. Intensive Tierhaltung und das Vordringen des Menschen in den Lebensraum von Wildtieren begünstigen außerdem Zoonosen, also Erkrankungen, die zwischen Mensch und Tier übertragen werden.

Drei Kuh-Hintern in einer Milchzapfanlage
In den USA ist die Vogelgrippe nun auf Kühe übergetreten und ließ sich auch in ihrer Milch nachweisennull Edwin Remsberg/VWPics/imago images

Von einer neuen Pandemie könnte auch Deutschland wieder betroffen sein. Anlass für viele, sich zu fragen: Hat man hierzulande die richtigen Lehren aus der Corona-Pandemie gezogen? Und ist man jetzt besser vorbereitet?

Drehpunkt: die Krankenhäuser

Bilder aus der Pandemie, die sich eingebrannt haben: volle Intensivstationen und überlastetes Krankenhauspersonal. Auch in einer nächsten Pandemie wird ein Dreh- und Angelpunkt sein, wie gut Deutschlands Kliniken für den Ansturm aufgestellt sind. "Eine Versorgung in Gesundheitskrisen funktioniert nur dann gut, wenn die Krankenhäuser auch im Normalzustand gut funktionieren", sagt Christian Karagiannidis, der als Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim arbeitet. "Das haben wir momentan nicht in der Form, in der wir es bräuchten."

Eine Reserve an freien Betten für unvorhergesehene Ereignisse gibt es nicht. Von den knapp 1700 Krankenhäusern, die es in Deutschland gibt, hätten während der Corona-Pandemie noch nicht einmal 500 Kliniken die Hauptlast der Corona-Patienten getragen. "Der Rest hat nur wenig an der Versorgung teilgenommen".

  

Damit die Arbeit in Zukunft auf mehr Schultern verteilt wird, versucht das Bundesministerium für Gesundheit nun einen Umbau der Krankenhauslandschaft. Als Teil der Regierungskommission ist auch Christian Karagiannidis an der Krankenhausreform beteiligt. Für ihn ist entscheidend, dass der Mittelbau ausgebaut wird. Also mehr Kliniken, die mindestens zehn Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit und "Specials" wie einen Herzkatheter und Hubschrauberlandeplatz haben. Bloß: Dafür müssen kleine Standorte zusammengelegt werden, heißt konkret: zumachen. "Damit tun sich die Leute unfassbar schwer", sagt Karagiannidis.

Ein weiteres Problem: Während das Pflegepersonal am Anfang der Corona-Pandemie beklatscht wurde, gerät es immer mehr in routinierte Vergessenheit – und wird älter. In Nordrhein-Westfalen (NRW), Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, ist laut Pflegekammer NRW jede dritte Pflegekraft über 55 Jahre alt und geht bald in Rente. Nur 15 Prozent sind jünger als 30. Laut Pflegereport der Krankenkasse DAK fehlt der Nachwuchs, um die altersbedingten Leerstellen in den kommenden Jahren zu ersetzen. Ein "Kipppunkt der Pflege" droht. 

Anlass zur Hoffnung gibt die Tatsache, dass Krankenhäuser während der Pandemie gelernt hätten, miteinander zu arbeiten und nicht in Konkurrenz zueinander, sagt Christian Karagiannidis. Außerdem: Das Bewusstsein, dass eine Bevorratung von Masken und Arzneimitteln eine gute Idee ist – das sei geblieben.  

Eine Erkenntnis: auf Vorrat setzen

Für Krankenhäuser mag die Bevorratung auch funktionieren, auf nationaler Ebene zeichnet sich an dieser Stelle jedoch ein Umsetzungs-Problem ab: Zu Beginn der Corona-Pandemie, im Juni 2020, hatte die Bundesregierung den Aufbau der "Nationalen Reserve Gesundheitsschutz" beschlossen. Schutzausrüstung und Medizinprodukte, die während der Pandemie beschafft wurden, sollten zentral eingelagert werden. In weiteren Phasen sollte die Reserve mit in Deutschland produzierten Medikamenten und Medizinprodukten aufgestockt werden. So wollte man in Zukunft Lieferengpässe vermeiden. Vier Jahre später steht das Projekt immer noch am Anfang. Abgelaufene Masken werden vernichtet. 

"Das könnte uns beim nächsten Mal wieder auf die Füße fallen", sagt Philipp Wiesener, der bei der Hilfsorganisation Deutsches Rotes Kreuz für nationales Krisenmanagement und gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zuständig ist. 

Auf der Habenseite: Während der Corona-Pandemie habe man gelernt, innerhalb kurzer Zeit Impfzentren hochzuziehen und große Bevölkerungsgruppen zu impfen, sagt Wiesener. Eine Reserve, auf die man auch beim nächsten Mal zurückgreifen kann. 

Ein Anknüpfungspunkt: die Impfstoffe

Dass die Corona-Pandemie nicht noch größeren Schaden angerichtet hat, liegt auch an der schnellen Verfügbarkeit effektiver Impfstoffe. Ein günstiger Zufall: Impfstoffe standen damals nicht im Fokus der Forschung. Die mRNA-Technologie sollte eigentlich helfen, Krebs zu heilen. "Es war tatsächlich Glück, dass die Entwicklung der mRNA-Technologie so weit vorangeschritten war", sagt Emanuel Wyler. Und ergänzt optimistisch: "Es ist nicht so, dass wir dieses Glück beim nächsten Mal nicht auch haben." 

Sieben Impfstoff-Spritzen liegen auf einer Silberschale
Auch bei einer nächsten Pandemie werden Impfstoffe wichtig seinnull Daniel Karmann/dpa/picture alliance

Während der Pandemie haben sich mRNA-Impfstoffe als flexibles Instrument bewährt. Sie funktionieren jedoch nur, wenn man weiß, gegen welche Strukturen des Erregers sie sich richten sollen. Käme als nächstes SARS-CoV-3, wären die Menschen gut vorbereitet. Bei Pocken zum Beispiel wäre das aber gar nicht so klar, sagt Molekularbiologe Wyler. Hinzu kommt, dass die Menschheit gegen diese Erkrankung kaum noch Impfschutz hat. Ein "kleiner Albtraum" eben. 

Die Frage ist aber auch, ob die Deutschen sich beim nächsten Mal überhaupt impfen lassen. 

Die Gesellschaft ist skeptischer geworden

Denn kurz bevor die WHO den Corona-Notstand im Mai 2023 aufhob, waren in Deutschland mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ohne Impfung. Und nicht wenigen fehlt inzwischen das Vertrauen in zukünftige Maßnahmen. In einer Umfrage, die ein Team um die Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt Ende 2022 durchführte, gab ein Drittel der befragten Deutschen an, dass sie bei einer nächsten Pandemie nicht mehr bei den Schutzmaßnahmen mitmachen würden. Ebenfalls würde fast ein Drittel der Befragten die Politiker gerne dafür maßregeln, wie sie mit der Pandemie umgegangen sind.

Die Pandemie hat zahlreiche Missstände offengelegt: Menschen mit geringerem Einkommen und Bildungsgrad waren systematisch benachteiligt. Digitalisierung in Gesundheitssystem und Schulen ist überfällig. Viele Kinder und Jugendliche leiden noch heute unter den Schulschließungen. Zahlreiche Wissenschaftler kritisieren eine fehlende systematische Datenerhebung zur Bewertung der Maßnahmen. 

Intensivmediziner haben gelernt, in Szenarien zu denken. Für Christian Karagiannidis ist daher klar, was nun an erster Stelle stehen müsste: "Wir müssten einmal durchspielen, was wäre, wenn jetzt die nächste Pandemie ausbricht. Und gucken: Sind wir gut vorbereitet?" Angefangen bei: Der Bundestag tritt zusammen. Zu: Wer sagt, dass es eine Krise ist? Wie reagieren wir darauf? Was passiert mit den Schulen? Haben wir die wesentlichen Daten in Echtzeit zur Verfügung? "Eigentlich bräuchte es ein Gesamt-Szenario, damit man sieht: Wo sind die Schwachstellen?"

Bislang aber ist das nicht passiert.

 

Anmerkung der Redaktion: Die vorherige Version dieses Artikels wurde geändert, um eine sachliche Ungenauigkeit zu beseitigen.

G7-Staaten vereinbaren Kohleausstieg bis 2035

Die sieben führenden Industriestaaten des Westens (G7) wollen bis zum Jahr 2035 die Kohleverstromung weitgehend beenden. Die Minister für Klima, Energie und Umwelt aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und den USA beschlossen bei einem Treffen im italienischen Turin den Fahrplan für eine Dekarbonisierung ihrer Volkswirtschaften.

G7 wollen bis 2035 aus der Kohle aussteigen

In der gemeinsamen Abschlusserklärung wird als Ziel benannt, die "bestehende Kohleverstromung ohne CO2-Abscheidung in unseren Energiesystemen in der ersten Hälfte der 2030er Jahre oder innerhalb eines Zeitrahmens, der mit der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius vereinbar ist, im Einklang mit den Netto-Null-Pfaden der Länder auslaufen zu lassen". Länder mit strengen Klimaschutzzielen und einem Plan für Klimaneutralität könnten ihre Anlagen somit länger laufen lassen - diese Hintertür stünde auch Deutschland gegebenenfalls offen.

"Historische Übereinkunft"

Der britische Energiestaatssekretär Andrew Bowie sprach im italienischen Fernsehsender Class CNBC von einer "historischen Übereinkunft", die im vergangenen Jahr auf der UN-Klimakonferenz COP 28 in Dubai noch nicht gelungen sei. Damals hatten die Teilnehmer dazu aufgerufen, fossile Brennstoffe auslaufen zu lassen, ohne ein konkretes Datum zu nennen.

Das Bundesumweltministerium erklärte, der Beschluss sei ein "Meilenstein". Deutschland habe sich maßgeblich für ein klares Enddatum aller G7-Staaten eingesetzt.

Turin G7 Treffen Energieminister | Kohleausstieg
Treibhausgase durch Verbrennung fossiler Energieträger: Dampfwolken über dem Kohlekraftwerk Niederaußem in Nordrhein-Westfalen (Archivbild)null Christoph Hardt/Panama Pictures/picture alliance

Innerhalb der G7 hat die Kohle unterschiedliche Bedeutung für die Energieversorgung. Italien, das der G7 derzeit vorsitzt, produzierte 2022 weniger als fünf Prozent seines Stroms in Kohlekraftwerken. Die Regierung in Rom plant, die Anlagen bis 2025 abzuschalten; auf Sardinien läuft die Frist bis 2028.

Dagegen lag der Kohlestrom-Anteil in Deutschland 2022 bei 33 Prozent, 2023 war es immerhin noch ein Viertel. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts war Kohle damit - nach Windkraft - der zweitwichtigste Energieträger für die Stromerzeugung in Deutschland.

Strukturschwache Regionen zögern

Die regierende Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen hatte im Koalitionsvertrag 2021 vereinbart, den von der Vorgängerregierung gesetzlich festgeschriebenen Kohleausstieg bis 2038 "idealerweise" auf 2030 vorzuziehen. Für das Kohlerevier in Nordrhein-Westfalen steht dies bereits fest. Im strukturschwachen Osten, wo Braunkohle in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt gefördert und verstromt wird, gibt es aber starke Vorbehalte gegen einen Ausstieg vor 2038.

Turin G7 Treffen Energieminister | Kohleausstieg
Braunkohleabbau mit Schaufelradbagger: Welzow-Süd in der Niederlausitz ist der letzte noch verbliebene Tagebau in Brandenburg (Archivbild)null Norbert Neetz/imageBROKER/picture alliance

Unter den G7-Staaten spricht sich Frankreich für einen Abschied von der Kohle bis 2030 aus, während Japan, das seinen Strombedarf zu einem Drittel mit diesem fossilen Energieträger deckt, ein festes Ausstiegsdatum bislang abgelehnt hatte. UN-Klimasekretär Simon Stiell forderte die führenden Industrieländer des Westens erneut auf, ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht und ihre technischen Möglichkeiten für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen in die Waagschale zu werfen.

Die G7-Staaten stehen für fast 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Nach Zahlen aus dem Jahr 2021 sind sie für 21 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Kohlendioxid (CO2) ist ein sogenanntes Treibhausgas, das unter anderem bei der Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdgas oder Erdöl entsteht.

Bezogen auf den Energiegehalt wird bei der Verbrennung von Kohle wesentlich mehr CO2 freigesetzt als bei Erdgas. Treibhausgase absorbieren in der Atmosphäre einen Teil der Wärme, die sonst ins Weltall abgegeben würde, und tragen damit zur Erderwärmung bei.

jj/kle (dpa, afp, rtr)

Warum weht Sahara-Staub nach Europa?

Staub aus der Sahara wehte in dieser Woche über Tausende von Kilometern hinweg nach Athen. Dies sorgte für ein beeindruckenden Naturereignis, denn es sah aus, als würde die Akropolis zumindest vorübergehend auf dem Mars liegen. Alles war mit einem rötlich-orangen Farbton überzogen.

Dass Stürme Staub aus der Sahara nach Europa tragen ist keine Seltenheit und dies geschieht auch schon lange. Hier erfahren Sie, wie solche Stürme entstehen, wie sie sich bewegen und ob sie eine Gefahr darstellen.

Wie entsteht ein Staubsturm in der Sahara?

Staubstürme entstehen, wenn starke Winde bei trockenen Bedingungen durch die Sahara wehen. Diese Wüste erstreckt sich über weite Teile von Nordafrika. Der Wüstensand besteht aus vielen verschiedenen Partikeln, erklärt Carlos Perez Garcia-Pando, Experte für Sand und Staub am Barcelona Supercomputing Center, der DW.

Einige Partikel sind groß und schwer, das sind die ersten Partikel, die von starken Winden erfasst werden. Allerdings sind das nicht die Partikel, die letztendlich über das Mittelmeer nach Europa geweht werden.

Wenn diese größeren Partikel zwangsläufig zu Boden fallen, zerbrechen bei ihrem Aufprall andere Sandklumpen, die sich in ultrakleine Staubpartikel auflösen, erklärt Garcia-Pando. Und genau diese kleineren Partikel werden über weite Strecken verweht, weil sie so winzig und leicht sind.

Damit sich solche Staubstürme bilden, müssen die Bedingungen trocken sein. Sonst verklumpen die Partikel und werden zu schwer, um lange Strecken fliegen zu können. Sandstürme treten am ehesten in Gebieten auf, in denen es wenig Vegetation gibt, denn diese würde den Wind abbremsen und der Staub bliebe an den Pflanzen hängen.

Blick auf Athen, einschließlich der Akropolis, beim Staubsturm
Der Staubsturm färbte die Stadt Athen samt Akropolis rotnull Costas Baltas/Andalou/picture alliance

Warum bringen diese Stürme Staub nach Europa?

Staubstürme treten in der Sahara-Wüste regelmäßig auf. Damit diese Stürme jedoch Tausende von Kilometern nach Norden ziehen können, müssen sie auf eine Wetterlage treffen, die starke Winde erzeugt. Nur dann könne die Stürme große Entfernungen zurücklegen.

In den meisten Fällen transportiert ein Tiefdruckgebiet den Saharastaub über das Mittelmeer nach Europa. Diese Systeme sind sehr stark und üben starke Winde gegen den Uhrzeigersinn aus, so Garcia-Pando. Sie treten typischerweise im Frühjahr auf. In seltenen Fällen können auch Hochdruckwetterlagen solche Ereignisse verursachen.

Die Staubpartikel, die schließlich nach Europa fliegen, können deswegen so lange in der Luft bleiben, weil sie viel kleiner als Sand sind, der viel schneller zu Boden fallen fällt, erklärt Stuart Evans, Staubexperte an der University of Buffalo in New York, in einer E-Mail an die DW. "Was in Europa ankommt, ist ein Staubsturm, aber kein Sandsturm", so Evans.

Blick auf Athen von einem Hügel aus, alles sieht dunkel orange-rot aus
Kein Feuerschimmer sondern roter Saharasand färbte den Himmel über Athen diese Woche orange null Marios Lolos/Xinhua/imago images

Sind Staubstürme ein Problem?

"Das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, Staub ist fast so alt wie die Erde", sagt Garcia-Pando. "Das ist nichts Neues."

Bei der Analyse dieser Staubstürme gehe es darum, das Phänomen zu verstehen und zu erkennen, was es für die Gesellschaft und das Klima bedeute, so Garcia-Pando. Staub sei nicht immer etwas Schlechtes: Er diene zum Beispiel als eine Art Nährstoff für Wälder und Ozeane, indem er Eisen und Phosphor zuführe.

Die Staubmenge auf der Erde hat seit der vorindustriellen Zeit zugenommen, so Garcia-Pando. Dies ist größtenteils auf die Bewirtschaftung der Böden durch den Menschen, aber auch auf den Klimawandel zurückzuführen.

Um die Funktionsweise zu verdeutlichen muss man sich ein Stück verkrustete Erde vorstellen. Wenn man darauf tritt oder wenn ein Auto darüber fährt, lösen sich viele Partikel oder Schmutz. Und "all diese Partikel werden leicht vom Wind erfasst".

Im Zusammenhang mit dem Klimawandel nennt Garcia-Pando das Beispiel von Wasserquellen, die als Reaktion auf eine Dürre austrocknen. "Wenn ein See ausgetrocknet ist, sind die im See verbleibenden Sedimente äußerst brüchig und können sehr leicht in die Atmosphäre abgegeben werden", sagt der Staub-Experte.

Gegenwärtig sind sich die Wissenschaftler jedoch noch nicht sicher, ob der Klimawandel zu mehr oder weniger Wind auf der Erde führen wird. Entsprechend schwer lässt sich vorhersagen, wie die Zukunft der Staubstürme aussehen könnte.

"Dies ist eine der größten Unsicherheiten, die wir bei Prognosen über die Zukunft des Staubs haben", sagt Garcia-Pando. "Wir müssen verstehen, wie sich die Winde in verschiedenen Situationen entwickeln werden - nicht nur der durchschnittliche Wind, sondern auch die extremen Winde."

Kinder laufen bei einem Staubsturm in Syrien an Zelten vorbei
Staubstürme aus der Sahara erreichen auch andere Länder, wie hier Syriennull Aref Watad/AFP/Getty Images

Wie bleibt man in einem Staubsturm sicher?

Wer in Europa in einen Staubsturm gerät, sollte laut Garcia-Pando die gleichen Ratschläge befolgen, die für Tage mit besonders schlechter Luftqualität gelten. Staub ist eine Gefahr für die Atemwege. Daher sollte man eine Maske tragen und auf sportliche Aktivitäten im Freien verzichten. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Atemwegserkrankungen.

Adaption aus dem Englischen: Alexander Freund

Hat der Sahara-Staub Einfluss auf das Klima?

Was hilft wirklich bei Schlafstörungen?

Man liegt wach und wälzt sich unruhig hin und her, die Gedanken kreisen und man kann nicht wieder einschlafen. Der Blick auf den Wecker verrät: Es ist mal wieder Wolfstunde, der Zeitraum zwischen drei und vier Uhr morgens, in dem besonders viele Menschen ungewollt wach werden.

Laut Weltgesundheitsorganisation leidet 40 Prozent der Weltbevölkerung unter Schlafproblemen. Entweder können sie nicht ein- oder durchschlafen, oder werden morgens viel zu früh wach.

Welche Auswirkungen hat häufiger Schlafmangel?

Chronischer Schlafmangel führt zu:

•           Konzentrationsschwierigkeiten

•           Gereiztheit

•           Verminderter Leistungsfähigkeit

•           Kopfschmerzen

•           Geschwächter Immunabwehr

•           Übergewicht

•           Herz-Kreislauf-Erkrankungen

•           Psychischen Erkrankungen bis hin zur Depression

Wer braucht wie viel Schlaf?

Laut Sleep Foundation sollten Kleinkinder 10-13 Stunden schlafen, Grundschüler 9-12 Stunden, Teenager 8-10 Stunden und Erwachsene mindestens 7 Stunden.

Anonymisierte Analysen von Schaftrackern zeigen, dass Menschen weltweit immer weniger und schlechter schlafen. Samsung zum Beispiel hat insgesamt 716 Millionen Nächte von erwachsenen User*innen solcher Schlaftracker ausgewertet. Demnach nahm die Schlafzeit 2023 weltweit gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere vier Minuten ab, auf durchschnittlich 6:59 Stunden.

Am kürzesten schlafen die Asiaten mit durchschnittlich 6:34 Stunden, die Nordamerikaner schlafen eine halbe Stunde und die Europäer eine Dreiviertelstunde länger.

Mit durchschnittlich 49 Minuten sind die Schlafdefizite bei jungen Menschen in den Zwanzigern am größten. Außerdem zeigen die Schlaftracker, dass viele nachts wachliegen, im Durchschnitt 50,1 Minuten. Das sind ebenfalls fast zwei Minuten länger als im Vorjahreszeitraum. Vor allem Frauen schlafen weniger tief und damit weniger erholsam.

Was führt zu Schlafstörungen?

Während der Wolfstunde oder auch frühmorgens befindet sich der Körper häufig in einer REM-Phase (Rapid Eye Movement), in der wir träumen und der Schlaf nicht sehr tief ist. Dann reichen störende Geräusche, Lichtquellen oder eine unangenehme Raumtemperatur, um wachzuwerden.

Häufig sind psychische Belastungen wie Stress, Probleme oder bevorstehende Aufgaben für Schlafprobleme verantwortlich. Ist man erst einmal wach und beginnt zu grübeln, schläft man so schnell nicht wieder ein. Denn beim Grübeln schüttet der Körper das Stresshormon Cortisol aus, das uns wach macht. 

Viele Faktoren wie Schicht- oder Nachtdienst, Jetlag oder Wechseljahre können unseren Schlaf-Wach-Rhythmus stören. Normalerweise wird das Schlafhormon Melatonin abends ausgeschüttet und macht uns müde. Zwischen drei und vier Uhr schüttert der Körper normalerweise am meisten Melatonin aus. Dann kommt der Körper zur Ruhe, das Gehirn wird weniger stark durchblutet und die Körpertemperatur sinkt.

Ist der Melatonin-Spiegel aber nachts zu niedrig, werden wir wach. Melatonin erzeugt der Körper nur, wenn der Serotonin-Spiegel ausreichet. Ohne das Glückshormon gibt es ebenfalls keinen erholsamen Schlaf.

Was hilft bei Durchschlafproblemen?

Wer regelmäßig nachts wachliegt, sollte möglichst nicht auf die Uhr schauen, dass erhöht den Druck nur noch mehr. Lieber ruhig liegen bleiben und sich ablenken, indem man an etwas Schönes denkt oder eben Schäfchen zählt.

Wenn aber die Gedanken immer weiter kreisen und die Unruhe zu groß ist, sollte man lieber aufstehen, die Gedanken aufschreiben oder etwas beruhigendes tun. Nicht fernsehen oder auf dem Smartphone YouTube Videos schauen, sondern lieber etwas lesen. Und sobald man wieder müde wird, möglichst umgehend zurück ins Bett gehen.

Vier Tipps für guten Schlaf

Was verbessert den Schaf?

Auch bei Schlafstörungen neigen viele Menschen dazu, sich eher um Symptome als die Ursachen für ihre Schlafprobleme zu kümmern: Müdigkeit bekämpfen sie z.B. mit viel Koffein und die Einschlafprobleme mit Alkohol. Das ist allerdings weder hilfreich, noch gesund. Kurze Nickerchen können zwar gut tun, nicht aber abends vor dem Fernseher einzuschlafen. 

Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM)hat einige einfache Tricks:

  • Regelmäßige Schlafzeiten

Für einen gesunden Schlaf sollte man auf seineinnere Uhr hören . Die ist bei jedem unterschiedlich. Manche bleiben lieber länger wach, andere stehen gerne früh auf. Wichtig ist aber, möglichst immer zur gleichen Zeit zu Bett zu gehen und auch aufzustehen.

  • Einschlafrituale

Viele lesen noch ein paar Seiten, andern notieren noch etwas im Tagebuch oder kuscheln sich zusammen. Natürlich helfen Entspannungstechniken wie leichtes Yoga oder eine Meditation besonders gut. Egal was hilft: Jeder weiß, was ihm das Einschlafen erleichtert.

  • Angenehmes Schlafumfeld

Für die meisten ist es wichtig, dass der Raum ruhig, dunkel, durchlüftet und kühl ist. Als ideale Raumtemperatur gilt 16 bis 18 Grad, manche mögen es aber auch deutlich kühler.

  • Frühzeitiger Verzicht auf Wachmacher

Die anregende Wirkung von Koffein kann bis zu elf Stunden anhalten. Wer stark reagiert, sollte entsprechend früh am Tag darauf verzichten. Alkohol macht zwar zunächst müde, weil er die Hirnaktivitäten reduziert, aber Alkohol sorgt für einen leichten, unruhigen Schlaf. Ähnliches gilt auch für schwere Mahlzeiten.

  • Bildschirme frühzeitig abschalten

Nicht nur jungen Menschen nutzen abends zu viel und zu lange ihre Smartphones oder Tablets. So verschiebt sich ihr Schlafrythmus immer weiter in die Nacht. Blaulichtfilter können diese Wirkung vielleicht abschwächen. Gegen übermäßigen Konsum helfen sie aber auch nicht. Also besser rechtszeitig die Geräte ausschalten und weit weglegen.

 

Quellen: 

Have We Been Sleeping Well? Samsung Answers the Age-Old Question With the Global Sleep Health Study

https://news.samsung.com/global/have-we-been-sleeping-well-samsung-answers-the-age-old-question-with-the-global-sleep-health-study

How Much Sleep Do You Need?

https://www.sleepfoundation.org/how-sleep-works/how-much-sleep-do-we-really-need

DGSM-Patientenratgeber Ein- und Durchschlafstörungen

https://www.dgsm.de/fileadmin/patienteninformationen/ratgeber_schlafstoerungen/2021-09-21_Ein-_und_Durchschlafstoerungen.pdf

 

Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gestiegen

Im vergangenen Jahr hat es 106.000 Fälle von Abtreibungen in Deutschland gegeben und damit 2,2 Prozent mehr als 2022, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das entspricht 63 Abtreibungen umgerechnet auf 100.000 Frauen. Höher war die Gesamtzahl zuletzt 2012 mit 107.000 Fällen. Zwischen den Jahren 2014 bis 2020 lag sie zwischen rund 99.000 und 101.000 Fällen. "Anhand der vorliegenden Daten lässt sich keine klare Ursache für die weitere Zunahme im Jahr 2023 erkennen", so das Statistische Bundesamt. Um die Zahlen zu ermitteln, befragte es Kliniken und Arztpraxen, in denen grundsätzlich Abbrüche vorgenommen werden.

Rückgang bei Jüngeren, Anstieg bei Über-30-Jährigen

Im Zehnjahresvergleich hat es deutlich weniger Schwangerschaftsabbrüche in jüngeren Altersgruppen und deutlich mehr Abbrüche bei Frauen ab 30 Jahren gegeben. Nach Angaben des Bundesamtes waren sieben von zehn Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen, zwischen 18 und 34 Jahren alt. 19 Prozent der Frauen waren im Alter von 34 bis 39 Jahren. Die Gruppe der über 40 Jahre alten Frauen machte rund acht Prozent aus, etwa drei Prozent waren jünger als 18 Jahre.

Rund 42 Prozent der Frauen hatten vor dem Schwangerschaftsabbruch noch kein Kind zur Welt gebracht. Die weitaus meisten Abtreibungen wurden nach der sogenannten Beratungsregelung vorgenommen. Wenn eine Beratung stattgefunden hat, bleibt ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei.

Regierung erwägt Gesetzesänderung

Derzeit sind Abtreibungen in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hatte in der vergangenen Woche eine Reform des Abtreibungsrechts empfohlen. Das Gremium rät, Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft zu erlauben und nicht mehr im Strafrecht zu regulieren.

Die Bundesregierung ließ offen, ob sie noch in der laufenden Legislaturperiode eine Gesetzesänderung in Angriff nimmt. Sie strebt einen breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens an.

aa/kle (dpa, epd, afp, Statistisches Bundesamt)

Als Tourist nach Deutschland - diese Visa-Regeln gelten

Deutschland ist das ganze Jahr über ein attraktives Reiseziel. Mit seinen vielen mittelalterlichen Burgen, spannenden Städten, einer reichen Geschichte und dem größten Bierfest der Welt, dem Oktoberfest, bietet Deutschland für jeden etwas. Außerdem ist das Land dieses Jahr Gastgeber der UEFA-Fußball-Europameisterschaft 2024. Es gibt also viele gute Gründe, nach Deutschland zu reisen.

Letztes Jahr reisten besonders viele niederländische Touristen nach Deutschland. Für sie, wie alle anderen EU-Bürger auch, gelten keine besonderen Einreisevoraussetzungen.

Einreise nach Deutschland als EU-Bürger

Denn alle EU-Bürger können sich innerhalb der EU frei bewegen. Sie können in jeden Mitgliedstaat ihrer Wahl einreisen und sich dort bis zu drei Monate aufhalten, sofern sie einen gültigen Personalausweis oder Reisepass haben.

Einreise als Schweizer Staatsbürger

Zwar ist die Schweiz kein EU-Mitglied, doch ihre Staatsbürger können dennoch ohne Weiteres im europäischen Staatenverbund reisen. Ein Visa ist für Deutschland also nicht erforderlich.

Im Vorjahr zählten Schweizer nach den Niederländern zur größten Gruppe der Deutschland-Urlauber. 

Das Berliner Olympiastadion aus der Vogelperspektive
Zur Fußball-Europameisterschaft werden viele internationale Besucher nach Deutschland reisen. Hier das Berliner Olympiastadionnull Paul Zinken/dpa/picture alliance

Einreise als US-Bürger

Letztes Jahr kamen außerdem viele US-Bürger nach Deutschland, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Für sie ist die Einreise nach Deutschland ebenfalls sehr einfach. Mit einem gültigen US-Reisepass können sie in jeden Staat des europäischen Schengen-Raums (keine Kontrollen an den Binnengrenzen) einreisen und sich dort bis zu 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten - das gilt auch für Deutschland. Wichtig aber ist, dass der Reisepass noch mindestens drei Monate nach dem geplanten Ausreisedatum aus Deutschland gültig ist.

Visa in einem Reisepass
Nicht jeder, der nach Deutschland reist, braucht ein Visumnull Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

Einreise als britischer Staatsangehöriger

Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 änderte sich vieles im Verhältnis zum europäischen Staatenverbund. Dennoch dürfen britische Staatsbürger weiterhin problemlos den Schengen-Raum bereisen und sich dort maximal 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten. 

Einreise als chinesischer Staatsbürger

Weiterhin erfreut sich Deutschland auch großer Beliebtheit bei chinesischen Touristen.

Diese müssen allerdings ein Schengen-Visum für die Einreise beantragen – Deutsche hingegen sind seit 2023 vorübergehend für kurze China-Reisen von der Visumspflicht befreit.

Schloss Neuschwanstein bei Füssen im Allgäu
Für viele ausländische Deutschland-Besucher ist Schloss Neuschwanstein ein Mussnull Wilfried Wirth/imageBROKER/picture alliance

Für ein Schengen-Visum müssen chinesische Staatsbürger unter anderem folgende Dokumente vorlegen: Zwei biometrische Passfotos, einen aktuellen Reisepass, Nachweis über Reiseversicherung und ausreichende finanzielle Mittel, Aufschlüsselung der Reiseroute sowie Unterbringung.

Ein Schengen-Visum kostet 80 Euro und wird meist nach einer Bearbeitungszeit von 15 bis 30 Tagen ausgestellt.

Alle weiten Anmeldeformalitäten lassen sich hier nachlesen.

Welche Staatsbürger benötigen noch ein Visum für Deutschland?

Indische und indonesische Bürger beispielweise müssen auch ein Schengen-Visum beantragen, wenn sie Urlaub in Deutschland machen wollen.

Eine komplette Liste aller Staaten mit Visumspflicht ist hier abrufbar.

Absage: Ralf Rangnick wird nicht Trainer beim FC Bayern

"Ich bin mit vollem Herzen österreichischer Teamchef. Diese Aufgabe macht mir unglaublich viel Freude und ich bin fest entschlossen, unseren eingeschlagenen Weg erfolgreich weiterzugehen." Mit diesen Worten wird Österreichs Nationaltrainer Ralf Rangnick in einer Mitteilung des österreichischen Fußballbundes (ÖFB) zitiert. Der 65-Jährige bleibt auch über die Fußball-EM 2024 hinaus Bundestrainer in Österreich

Das freut die Österreicher, bringt aber gleichzeitig den FC Bayern München in Bedrängnis. Denn eigentlich war erwartet worden, dass Rangnick das Angebot des renommierten Bundesliga-Klubs annimmt und nach der EM neuer Bayern-Trainer wird. Nach den Absagen von Bayer Leverkusens Meistercoach Xabi Alonso und Bundestrainer Julian Nagelsmann, haben sich die Bayern damit den dritten Korb eines Wunschkandidaten eingehandelt.

Auch wenn Rangnick ausdrücklich betonte, dass sein Entschluss, das Angebot der Münchener nicht anzunehmen "keine Absage an den FC Bayern ist, sondern eine Entscheidung für meine Mannschaft und unsere gemeinsamen Ziele". Für den FC Bayern bleibt das Ergebnis unter dem Strich dasselbe: Offenbar hat niemand Lust, den Job auf der Bayern-Bank zu übernehmen. Seit im Februar bekanntgegeben worden war, dass man sich von Thomas Tuchel nach der Saison trennt, läuft die Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Bislang vergeblich.

FC Bayern: kein gutes Pflaster für Trainer

Die Gründe derjenigen, die abgesagt haben, sind allesamt nachvollziehbar: Xabi Alonso sieht seinen Weg und seine Arbeit bei Bayer Leverkusen noch nicht als beendet an. Julian Nagelsmann nannte es - ähnlich wie Rangnick in Bezug auf Österreichs Nationalteam - eine "Entscheidung des Herzens", beim DFB-Team bis zur WM 2026 weiterzumachen.

Bayern Münchens Coach Julian Nagelsmann steht vor der Trainerbank
Julian Nagelsmann war schon Bayern-Coach, wollte seinen Job aber nicht zurückhaben, sondern Bundestrainer bleibennull Jan Woitas/dpa/picture alliance

Ein weiterer Grund dürfte bei allen drei Wunschkandidaten aber auch gewesen sein, dass es zuletzt ein äußerst undankbarer Job war, beim FC Bayern als Cheftrainer zu arbeiten: Nagelsmann, der von Juli 2021 bis zu seiner überstürzten Entlassung im März 2023 Bayern-Trainer war, hat es am eigenen Leib erfahren. Obwohl er damals mit der Mannschaft noch in drei Wettbewerben chancenreich im Rennen lag, musste er gehen.

Schon Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick war aus freien Stücken gegangen und hatte seinen Vertrag nicht verlängert, weil es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten mit dem damaligen Sportvorstand Hasan Salihamidzic gekommen war.

Unter Nagelsmanns Nachfolger Thomas Tuchel schied der FC Bayern kurz nach dessen Amtsübernahme erst aus dem DFB-Pokal, dann aus der Champions League aus. Zwar gewann man unter gütiger Mithilfe Borussia Dortmunds im vergangenen Jahr die Meisterschaft, wie eine gut geölte Maschine funktionierte die Mannschaft aber nicht. 

Tuchels Transferwünsche werden nicht erfüllt

Tuchel bemerkte und bemängelte das und wünschte sich Verstärkungen an den neuralgischen Punkten. Zwar wurde mit Harry Kane ein Top-Stürmer verpflichtet, einen defensiven Sechser, die "holding Six", bekam Tuchel aber nicht. Er hätte gerne Declan Rice in München gesehen, aber daraus wurde nichts. Auch in der Verteidigung wurde Tuchels Wunsch, den Portugiesen João Palhinha vom FC Fulham zu verpflichten, nicht erfüllt. Stattdessen gab man mit Josip Stanisic sogar einen Defensivspieler per Leihe an die direkte Konkurrenz in Leverkusen ab - und bereute es später.

Tuchel galt schnell als unzufriedener Nörgler, der in Interviews manches Mal mit kritischen Aussagen über eigene Spieler auffiel. Die Kabine, so hieß es, habe er verloren. Nachdem man gegen Drittligist 1. FC Saarbrücken früh aus dem DFB-Pokal ausgeschieden war, in der Bundesliga von Leverkusen deklassiert wurde und es auch auf menschlicher Ebene zwischen Coach, Team und Verein nicht zu passen schien, war die Bekanntgabe der Trennung im März keine Überraschung mehr.

Bayern Münchens Trainer Thomas Tuchel blickt bei Pressekonferenz nachdenklich ins Leere
Thomas Tuchel wirkte in den vergangenen Monaten oft ratlos angesichts der Leistungen seiner Mannschaftnull Tom Weller/dpa/picture alliance

Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Monaten war ein renommierter Trainer in München gescheitert - weil er mit der nicht perfekt austarierten Mannschaft nicht zurecht kam und es an Rückendeckung und Vertrauen vom Verein fehlte.

Rangnick - Qualitäten als Talententwickler

Nun sollte - wenn auch nur als dritte Wahl - Ralf Rangnick wieder Erfolg nach München bringen. Und zwar für die nächsten Jahre. "Wir wollen einen Trainer haben, der ein Stück weit Bayern München längerfristig begleitet", hatte Bayerns Sportdirektor Christoph Freund gesagt. Er ist gemeinsam mit Sportvorstand Max Eberl für die Trainersuche verantwortlich und kennt Rangnick aus gemeinsamen Zeiten im Red-Bull-Fußballkosmos gut. 

Die Wahl fiel auch deswegen auf Rangnick, weil er in der Lage ist, junge Talente zu entwickeln. Eine Fähigkeit, die Bayern Münchens ehemaliger Manager und heutiger Ehrenpräsident Uli Hoeneß dem noch amtierenden Trainer Thomas Tuchel zuletzt öffentlich absprach - und damit erneut für Unruhe von außen sorgte.

Zidane? De Zerbi? Wer hat überhaupt noch Lust auf den Job?

"Dass Ralf Rangnick ein guter Trainer ist und in seiner Karriere schon viel bewegt hat, das wissen wir alle", sagte Freund dem Internetportal "t-online.de" noch einen Tag vor Rangnicks Absage und ergänzte: "Wichtig ist, wenn alles passt und beide Seiten davon überzeugt sind, dann wird es gemacht." Es müsse "die richtige Lösung sein und nicht die schnelle". Offenbar war Rangnick doch nicht überzeugt, und nun hat der FC Bayern weder eine schnelle, noch eine richtige Lösung, sondern erstmal gar keine.

Der Trainer von Brighton and Hove Albion, Roberto De Zerbi, applaudiert den Fans nach einem Premier-League-Spiel
Kommt Roberto De Zerbi aus Brighton? Er hat bislang keine Bereitschaft signalisiert, sondern sagte sogar, er wolle in England bleibennull Richard Sellers/empics/picture alliance

Nach Rangnick bleiben aus dem Kreise derer, die seit Wochen gehandelt werden, im Grunde nur noch Roberto De Zerbi, derzeit mit Brighton & Hove Albion in der englischen Premier League erfolgreich, und Zinedine Zidane. Der ehemalige Weltklassespieler aus Frankreich und Ex-Coach von Real Madrid hat momentan kein Engagement. Bei beiden gibt es allerdings die Hürde, dass sie weder die Bundesliga kennen, noch der deutschen Sprache mächtig sind. 

Zudem werden sich beide gut überlegen, ob sie tatsächlich einen Job haben möchten, den zuvor bereits drei andere abgesagt haben. Außerdem ist es vielleicht auch nicht so prickelnd zu wissen, dass man in einem Verein, in dem es mit Vertrauensvorschuss und ruhigem Arbeiten in sportlich schwierigen Zeiten nicht weit her ist, nicht die erste oder zweite Wahl der Vereinsverantwortlichen ist, nicht mal die dritte, sondern nur die Nummer vier.

Georgia Stanway: Bayern Münchens Schlüssel zum Erfolg

Die Frauen des FC Bayern München könnten in dieser Saison erstmals in der Vereinsgeschichte zwei Titel holen. Die Deutsche Meisterschaft in der Fußball-Bundesliga der Frauen und den Gewinn des DFB-Pokals haben die Münchenerinnen dabei im Fokus. "Wir wollen auf keinen Fall den 'Wolfsburger Pokal', wie ihn manche Leute nennen, gewinnen", erklärt Mittelfeldspielerin Georgia Stanway im DW-Interview. "Wir wollen den Pokal gewinnen und dann können wir ihn dieses Jahr vielleicht anders nennen."

Die 25-Jährige macht sich keine Sorgen, denn die englische Nationalspielerin hat mit guten Leistungen dazu beigetragen, dass Bayern München in diesem Jahr die Chance auf das 'Double" hat. Damit würden Stanway und ihre Teamkolleginnen auch die Dauersiegerinnen aus Wolfsburg ablösen, die den DFB-Pokal in den vergangenen neun Jahren gewinnen konnte. vor der historischen Chance steht.

"Immer wenn wir gegen Wolfsburg spielen, wissen wir nicht was uns erwartet", sagt Stanway. "Diese Spiele werden hart umkämpft sein und eine hohe Qualität haben. Der Druck ist groß, aber als Team sind wir in einer wirklich guten Verfassung."

Der WM-Kater ist längst verflogen

Seit der Niederlage Englands im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Spanien im vergangenen Sommer hatte Stanway kaum Zeit sich zu erholen. Der Wunsch der Mittelfeldspielerin sich bei den Münchnerinnen durchzusetzen ließ sie nicht los.

"Nach der WM ging es mir gut. Ich wollte einfach weitermachen und habe gehofft, dass die Zeit mir helfen würde", sagt sie. "Im Dezember hat es mich aber dann erwischt. Mein Körper und mein Geist waren nicht in Ordnung. Ich war die ganze Zeit müde und habe noch nie in meinem Leben so viel geschlafen. Zudem waren meine Leistungen auf dem Platz nicht auf dem Niveau, das ich haben wollte."

Stanway braucht eine Pause

"Die Gründe für meine schlechte Verfassung lagen also auf der Hand. Ich musste nach Hause gehen und meine Familie sehen", berichtet Stanway der DW. Die Mittelfeldspielerin wies dabei auf den Einsatz ihres Cheftrainers Alexander Straus hin, der sie wieder in die Spur brachte und ihr Spiel insgesamt verbesserte.

Bayern Münchens Trainer Alexander Straus (rechts) nimmt Georgia Stanway in den Arm und jubelt mit ihr
Bayern Münchens Alexander Straus (r.) ist Trainer und Ansprechpartner für seine Spielerinnennull IMAGO/Eibner

"Ich habe noch nie einen Trainer gehabt, der so zugänglich ist", erklärt sie. "Er kümmert sich um alles, was in deinem Leben passiert, und er kümmert sich um alles, was im Fußball passiert. Denn er weiß, dass alles einen beeinflussen kann."

Künstlerin auf und neben dem Spielfeld

Nachdem Stanway in ihrer Heimat wieder Kraft getankt hatte, suchte sie sich neben dem Fußball noch eine andere Tätigkeit und begann als Tätowiererin zu arbeiten. Nach einem Besuch in einem Tätowierstudio, entwickelte Stanway eine Verbindung zu den Künstlern und stellte fest, dass dies auch eine therapeutische Funktion für sie haben könnte.

"Das ist meine Art, allem zu entfliehen", sagt die 25-Jährige. "Ich finde einfach etwas Frieden und Ruhe dabei und die Belohnung danach ist etwas Besonderes." Es sei sehr nervenaufreibend, so Stanway, und man müsse ruhig bleiben. "Am Ende ist man voller Adrenalin, weil man gerade jemanden wirklich glücklich gemacht hat."

Zurück zur Topform - und zum 'Double'?

Stanway hat sich rechtzeitig wieder in Topform gebracht und zählt zu den beliebtesten Spielerinnen beim FC Bayern. Denn ihr Trikot wurde am öftesten verkauft, als der Verein Anfang des Jahres ein spezielles Trikot für Frauen herausbrachte.

Und es ist auch kein Zufall, dass die überzeugendsten Leistungen der Bayern mit Stanways Rückkehr zu alter Form zusammenfallen. Vier Tore in ihren letzten vier Einsätzen in allen Wettbewerben haben ihre Offensivqualitäten noch einmal unterstrichen. Aber ihr Einfluss geht weit über ihre Torjägerleistung hinaus. Denn mit ihren Leistungen auf uns neben dem Platz hat sie dafür gesorgt, dass die Bayern nur noch zwei Siege vom ersten 'Double' der Vereinsgeschichte entfernt sind.

FC Bayern gegen Real Madrid - Thomas Tuchel im Mittelpunkt

Bayern München gegen Real Madrid - die "bestia negra", die schwarze Bestie, gegen die Königlichen. Das Halbfinal-Hinspiel der Champions League, 75.000 Zuschauer werden im Stadion in München sein. Eigentlich ist alles angerichtet für ein Fußballfest. Die Fans, die Medien sollten darüber spekulieren, wer die bessere Abwehr hat, wie sich wohl die beiden deutschen Nationalspieler Toni Kroos und Antonio Rüdiger bei Real im Duell mit Supertorjäger Harry Kane schlagen werden, ob Bayern wieder mit zwei Linksverteidigern antritt wie gegen den FC Arsenal im Viertelfinale oder ob Leroy Sane und Jamal Musiala rechtzeitig fit werden.

Tatsächlich aber dreht sich alles um einen Namen: Thomas Tuchel. Eigentlich schien die Diskussion um den Bayern-Trainer im März beendet, als bekannt gegeben wurde, dass der Vertrag mit ihm zum Saisonende aufgelöst werde. Wohl, weil es einfach nicht passt zwischen Tuchel und dem deutschen Rekordmeister: das blamable Aus im DFB-Pokal gegen Drittligist Saarbrücken, der damals schon kaum noch aufzuholende Rückstand in der Meisterschaft auf Bayer Leverkusen, dazu der manchmal eigentümliche Umgang mit der Presse.

Hoeneß: "Wenn's nicht weitergeht, dann kaufen wir"

Dass die Trennung damals nicht per sofort erfolgte, lag wohl einerseits an den mangelnden Alternativen - Bayern sucht immer noch nach einem Nachfolger - andererseits an der Hoffnung, dass es Tuchel in der Champions League mit den Bayern doch noch weit bringen könnte. Schließlich hat er die ja schon mal gewonnen, 2021 mit dem FC Chelsea. Übrigens nach einem Halbfinal-Triumph über Real Madrid. Also sollte der Trainer das Werk mit den Münchenern wenigstens in diesem Wettbewerb ungestört zu Ende führen.

Hoeness und Trainer Tuchel im Gespräch
Uli Hoeneß (l.) versteht sich nach eigener Aussage menschlich gut mit Thomas Tuchel, nur eben fachlich nichtnull Christian Kolbert/dpa/picture alliance

Doch dann meldete sich wenige Tage vor dem sportlichen Highlight Uli Hoeneß zu Wort. Der langjährige Klub-Macher in verschiedenen Funktionen, jetzt aber "nur" noch Aufsichtsrat, zog am vergangenen Freitag bei einer Veranstaltung der renommierten überregionalen Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine" (FAZ) über Tuchel her: "Er hat eine andere Einstellung. Nicht, dass man den Pavlovic verbessern kann, dass man den Davies verbessern kann. Sondern: Wenn's nicht weitergeht, dann kaufen wir".

Sollte bedeuten: Tuchel sei nicht in der Lage, junge Spieler wie Aleksandar Pavlovic und Alphonso Davies individuell zu verbessern. Dazu fehle es im Umgang mit den Spielern an der menschlichen Seite.

Kritik zum falschen Zeitpunkt

Tuchel wiederum sieht sich ob dieser Aussagen "in meiner Trainerehre verletzt", wie er vor dem Bundesliga-Spiel gegen Eintracht Frankfurt am Samstag beim TV-Sender Sky klagte. "Das ist so meilenweit an der Realität vorbei, ich weiß gar nicht, wie ich darauf antworten soll", meinte er. "Ich finde es absolut haltlos."

Tuchel entgegnete dem Hoeneß-Vorwurf mit Verweis auf die geleistete Arbeit der vergangenen 15 Jahre. Hauptsächlich störte den Trainer aber der Zeitpunkt des Angriffs des Ehrenpräsidenten: "Ich hätte auf diese Aussage überhaupt nicht reagiert, wenn sie nicht von Uli Hoeneß, unserem Boss, und vier Tage vor dem Real-Spiel gekommen wäre", meinte Tuchel.

Hoeneß seinerseits sah keinen Grund, sich bei seinem Noch-Trainer zu entschuldigen - im Gegenteil. Zu dem Satz, dass Tuchel bei Misserfolgen lieber neue Spieler fordere als die eigenen zu verbessern, stehe er, versicherte der 72-Jährige im Gespräch mit dem Fußball-Fachmagazin "Kicker". Den Krach zwischen ihm und dem Coach halte er für medial aufgebauscht, ergänzte Hoeneß. Er sei wild entschlossen, seine "Meinung wieder deutlicher zu machen", legte er im "Kicker" nach. "Sag ich nix mehr dazu. Das Thema ist abgehakt", so der lapidare Kommentar von Tuchel dazu auf der Pressekonferenz einen Tag vor dem Spiel gegen Madrid.

Einfluss auf die Spieler?

Die Diskussion kommt zur Unzeit, beeinträchtig die Spieler nach eigenen Angaben aber nicht. Ihr Fokus liegt auf dem Sportlichen, beinhaltet das Duell mit Real doch die letzte Chance in dieser Saison auf einen Titel. "Hehe, das ist mir scheißegal!", kommentierte Bayern-Urgestein Thomas Müller die Situation. Auch Joshua Kimmich war ganz auf den Sport fokussiert: "Das Feuer hat man natürlich wahrgenommen", sagte er auf der Pressekonferenz zum Real-Spiel am Montagmittag, "aber uns Spieler betrifft das nicht. Für uns zählt das Spiel morgen und nächste Woche. Der Fokus ist klar. Wir tun gut daran, uns darauf zu konzentrieren. Das andere können wir eh nicht beeinflussen.“

Übrigens wird Thomas Tuchel gegen Real Madrid auch als Diplomat gefragt sein. Schiedsrichter Clement Turpin aus Frankreich, der die Partie leiten wird, hatte Tuchel vor einem Jahr beim Viertelfinal-Rückspiel gegen Manchester City mit seinen Entscheidungen noch mächtig auf die Palme gebracht. "Note 6!" brüllte der Trainer da aufs Spielfeld und musste kurz vor Spielende mit gelb-roter Karte auf die Tribüne.

Bayern hatte das Hinspiel in Manchester 0:3 verloren und schied nach einem 1:1 im Rückspiel in München aus. Es gab zwei Handelfmeter nach Videobeweis, eine zurückgenommene rote Karte, jede Menge Diskussionen und dazu 19 Torschüsse der Bayern. Über solche Themen würde man sich normalerweise unterhalten vor so einem Champions-League-Kracher, wenn da nicht diese Attacken von Uli Hoeneß wären.

Darmstadt steigt aus der Bundesliga ab

Darmstadt 98 steht als erster Absteiger aus der 1. in die 2. Fußball-Bundesliga fest. Durch das 0:1 (0:0) im Aufsteigerduell mit dem 1. FC Heidenheim hat die Mannschaft von Trainer Torsten Lieberknecht nach dem 31. Spieltag nicht mehr aufholbare elf Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz. Nikola Dovedan (90.) erzielte das Siegtor für die Gäste.

Es war ein Abstieg mit Anlauf: Nur drei Siege gelangen den Hessen, die zwischenzeitlich 22 Spiele in Folge ohne Dreier blieben. Im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten riefen die Lilien viel ab, und doch war es zu wenig. Zum vierten Mal nach 1979, 1982 und 2017 geht es runter in Liga zwei.

Darmstadts Torwart Marcel Schuhen ist enttäuscht
Auch der gute Torhüter Marcel Schuhen kann den Darmstädter Abstieg nicht verhindernnull Uwe Anspach/dpa/picture alliance

Heidenheim vor Klassenerhalt

Heidenheim hingegen hat nun neun Punkte Vorsprung auf den FSV Mainz 05, der den Relegationsplatz belegt. Die Rettung ist vor dem direkten Duell am kommenden Sonntag so gut wie sicher. Und selbst der Europapokal ist im Endspurt noch möglich.

Die treuen Fans am Böllenfalltor machten vor dem Spiel unbeeindruckt Stimmung, die Tribünen bebten. Lieberknecht gab sich am DAZN-Mikrofon kämpferisch: "Für uns geht es darum, dass wir weiter Haltung zeigen wollen und in der ersten Liga, und da befinden wir uns noch, ans Limit gehen wollen."

Der neue Sportdirektor Paul Fernie blickte aber bereits über das Saisonende hinaus - und in Richtung zweite Liga. "Wir haben im Sommer die Chance, etwas Neues aufzubauen", erklärte er. Hinter Lieberknecht stünden bei dieser Planung "keine Fragezeichen".

to (sid)


 

 

 

 

Kreuzbandriss - schwere Verletzung mit guter Prognose

Welche Funktion hat das Kreuzband?

In beiden Knien gibt es jeweils ein vorderes und ein hinteres Kreuzband. Sie verbinden den Oberschenkelknochen mit dem Schienbein und stabilisieren das Kniegelenk nach vorne und hinten sowie bei Drehbewegungen. Neben den Kreuzbändern gibt es Außen- und Innenband sowie die Menisken [Anm.d.Red.: halbmondförmige Knorpelscheiben zwischen dem Unter- und Oberschenkelknochen].

Alle Bänder begrenzen gemeinsam die Streckung des Knies, sodass es im Normalfall nicht überstreckt wird. Außerdem schränken sie die Rotation des Kniegelenks ein. Dabei werden sie von der Gelenkkapsel, Sehnen und umgebender Muskulatur unterstützt. Je besser die stabilisierende Muskulatur ausgebildet ist, umso geringer ist die Gefahr, einen Kreuzbandriss zu erleiden.

Wie kommt es zum Kreuzbandriss?

Werden die Kreuzbänder durch eine plötzliche Drehbewegung, eine Überstreckung oder das Wegknicken des Knies zur Seite überlastet, können sie teilweise oder komplett reißen. Das vordere Kreuzband ist dabei zehnmal häufiger betroffen als das hintere, weil es länger und dünner ist. Die meisten Kreuzbandrisse sind sogenannte Non-Contact-Verletzungen. Das bedeutet, sie passieren ohne Fremdeinwirkung oder direkten Kontakt zum Gegner, zum Beispiel bei einem Foul im Fußball.

Spielszene SV Werder Bremen gegen VfB Stuttgart Serhou Guirassy springt mit ausgestreckten Armen und einem abgespreizten Bein in die Luft
Schnelle Richtungswechsel oder eine unkontrollierte Landung führen viel häufiger zu einem Kreuzbandriss als Foulsnull nordphoto GmbH/Kokenge/picture alliance

Vielmehr sind Landungen auf einem Bein, abruptes Abstoppen und plötzliche Richtungswechsel die häufigsten Ursachen für eine Ruptur. Der Patient merkt dabei meist einen stichartigen Schmerz im Knie. Es schwillt in der Regel in den Stunden nach der Verletzung an, weil sich durch den Riss Flüssigkeit im Gelenk sammelt.

Was sind die akuten Folgen?

Man kann das Knie wegen Schmerzen und Schwellung meist nicht mehr gut bewegen und nur noch leicht beugen. Bei Belastung entstehen Schmerzen. Zudem ist das Kniegelenk durch die fehlende Funktion der Bänder instabil - es verrutscht beim Gehen wie eine Schublade. In vielen Fällen ist das Kreuzband nicht die einzige Struktur im Knie, die beschädigt wurde. Außen- und Innenband, Menisken und Knochen können ebenfalls betroffen sein.

Es kann allerdings in seltenen Fällen auch vorkommen, dass ein Kreuzband reißt, ohne dass der Patient etwas davon mitbekommt. Solche Kreuzbandrisse fallen dann oft erst später dadurch auf, dass Schäden an den Menisken oder den Knorpeln im Knie entstanden sind.

Wie werden Kreuzbandrisse behandelt?

Ein gerissenes Kreuzband wird entweder operiert oder konservativ behandelt. Bei der Operation, auch Kreuzbandplastik genannt, werden die gerissenen Teile des Kreuzbands entfernt und durch ein Transplantat aus körpereigenem Sehnenmaterial ersetzt. Es gibt aber auch Transplantate aus Spendermaterial oder synthetischer Herstellung. Normalerweise wird die OP erst Wochen oder sogar Monate nach der Verletzung durchgeführt, weil dann die Schwellung abgeklungen und das Knie wieder gut beweglich ist.

Bei der konservativen Behandlung wird das Knie zunächst für mehrere Wochen ruhiggestellt und mit einer Schiene stabilisiert. Sind die Enden des gerissenen Kreuzbands noch in engerem Kontakt miteinander, kann das Kreuzband in seltenen Fällen sogar von selbst wieder zusammenwachsen. In der Regel funktioniert das beim vorderen Kreuzband allerdings nicht. Beim hinteren, das kürzer und kompakter ist, sind die Chancen größer. Zur konservativen Behandlung gehört immer auch ein gezieltes Training der Muskeln rund um das Knie. Sie sollen das Knie stabilisieren und so die Funktion des fehlenden Kreuzbands übernehmen.

Was sind Langzeitfolgen eines Kreuzbandrisses?

Kreuzbandrisse können in der Folge zu einer veränderten Statik im Kniegelenk führen und damit zu Fehlbelastungen. Das gilt für operierte Kreuzbandrisse genauso wie für unbehandelte, allerdings ist bei den unbehandelten das Risiko höher. Die Belastung der Menisken und Gelenkknorpel nimmt zu. Das kann zu Rissen im Meniskus und zu Arthrose führen, dem irreversiblen Abbau der gelenkschützenden Knorpelflächen im Kniegelenk. Im schlimmsten Fall ist irgendwann ein künstliches Kniegelenk nötig.

Warum haben Frauen ein höheres Risiko, einen Kreuzbandriss zu erleiden?

Frauen haben anatomisch, genetisch und hormonell schlechtere Voraussetzungen als Männer. Weil sie ein breiteres Becken haben, neigen Frauen zur X-Bein-Stellung, die einen Kreuzbandriss bei entsprechender Krafteinwirkung auf das Knie begünstigt. Die weibliche Muskulatur ist in der Regel schwächer ausgeprägt als die männliche, sodass auch die stabilisierende Funktion weniger stark ist.

Fußball-Nationalspielerin Carolin Simon liegt verletzt auf dem Spielfeld, während ein Betreuer per Handzeichen siganlisiert, dass sie ausgewechselt werden muss
Ein Kreuzbandriss ist im Frauenfußball eine häufige Verletzungnull Heiko Becker/HMB Media picture alliance

Und auch die Hormone spielen eine Rolle: In der zweiten Hälfte des Zyklus macht das Sexualhormon Progesteron die Bänder im weiblichen Körper weicher und das Kreuzbandrisiko steigt. Insgesamt ist es für Frauen etwa doppelt so hoch wie für Männer.

Wie lange fällt man mit einem Kreuzbandriss aus?

Das hängt von der Schwere der sonstigen Verletzungen im Kniegelenk ab und von der Sportart, die man betreibt. Bei einem reinen Kreuzbandriss ohne Beteiligung weiterer Bänder, Knochen oder der Menisken dauert es in der Regel sechs bis neun Monate, bevor man wieder wettbewerbsfähig ist. Normalerweise spricht auch nichts dagegen, nach einem ausgeheilten Kreuzbandriss wieder Sport zu trieben.

Bei entsprechender Physiotherapie kann man etwa sechs Wochen nach der OP auf einem Fahrrad-Ergometer trainieren oder schwimmen gehen. Sportarten ohne plötzliche Richtungswechsel und große Krafteinwirkung durch Sprünge und Landungen wie Laufen, Schwimmen und Radfahren sind nach einem halben Jahr wieder möglich. Bei Mannschaftssportarten wie Fußball und Basketball, auch bei Tennis oder Ski alpin dauert es normalerweise zwei bis drei Monate länger bis zum Comeback. Oft spielt auch die psychische Komponente eine große Rolle. Es braucht mitunter Zeit, bevor die Patienten ihrem geheilten Knie wieder vertrauen.

Physiotherapie am Knie mit Bandage: weißgekleidete Person unterstützt Beinbewegungen eines Liegenden auf einer Pritsche
Nach einem Kreuzbandriss wird mit Hilfe von Physiotherapie die Beweglichkeit im Knie wieder hergestelltnull Andriy Popov/PantherMedia/IMAGO

Trotzdem gab es schon Sportler, die schneller wieder fit waren. Ein prominentes Beispiel ist Ex-Fußball-Nationalspieler Sami Khedira, bei dem Mitte November 2013 das Kreuzband riss und der Anfang Mai 2014 wieder auf dem Platz stand. Kurz danach gewann er mit Real Madrid die Champions League und wurde anschließend mit Deutschland Weltmeister.

Funktioniert Leistungssport auch ohne Kreuzband?

Im Schwimmen, Laufen, Radsport oder anderen Sportarten mit geringerer Belastung der Knie ist das sicherlich möglich, bei Sportarten mit hoher Knie-Belastung allerdings eher nicht zu empfehlen - wie einige Bespiele zeigen: US-Skirennfahrerin Lindsey Vonn verzichtete nach einem schweren Sturz im Winter 2013/2014 auf eine Kreuzband-Operation, um die Olympischen Spiele in Sotschi nicht zu verpassen. Sie musste ihren Olympia-Traum einige Wochen später wegen starker Schmerzen und anhaltender Knieschwellung aufgeben, die Saison vorzeitig beenden und sich operieren lassen.

Fußballstar Zlatan Ibrahimovic spielte 2022 ein halbes Jahr lang mit gerissenem Kreuzband weiter und gewann mit der AC Mailand die italienische Meisterschaft. Allerdings konnte er kaum trainieren und, wenn überhaupt, jeweils nur ein paar Minuten mitspielen. "Sechs Monate lang habe ich wegen der Schmerzen kaum geschlafen. Ich habe noch nie so sehr auf und neben dem Spielfeld gelitten", schrieb der Schwede auf Instagram, bevor er sich nach der Saison einer Operation unterziehen musste.

Skirennfahrerin Joana Hählen bei einem Skirennen
Außergewöhnlich: Skirennfahrerin Joana Hählen fehlen beide vorderen Kreuzbändernull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Deutschlands ehemaliger Fußball-Nationaltorhüter Toni Schumacher zog sich 1972 - noch vor seiner Profikarriere - als 18-Jähriger einen Kreuzbandriss zu, entschied sich aber gegen eine Operation. Seine gesamte Laufbahn (1973 bis 1996) spielte er mit "Wackelknie", bezahlte diese Entscheidung allerdings mit schweren Folgeschäden und Schmerzen, die seine Lebensqualität nach der Karriere deutlich einschränkten.

Sehr ungewöhnlich ist der Fall Joana Hählen: Die Skirennläuferin aus der Schweiz brach Ende Januar 2024 die Weltcup-Abfahrt in Cortina d'Ampezzo mit starken Knieschmerzen ab und wurde mit Verdacht auf Kreuzbandriss in die Klinik gebracht. Dort stellten die Ärzte fest, dass ihr rechtes vorderes Kreuzband tatsächlich nicht mehr intakt war. Wie Untersuchungen zeigten, war es aber bereits zwei Jahre zuvor bei einem Sturz gerissen. Damals war man nur von einem Anriss ausgegangen. Im linken Knie Hählens fehlt das vordere Kreuzband sogar schon seit über sechs Jahren. Sie hatte es sich 2017 gerissen, aber auf eine OP verzichtet. "Es ist sicher viel Arbeit mit Physiotherapie und Knieübungen", sagt Hählen. "Aber ich kann es gut mit meiner Muskelkraft und meiner Größe kompensieren."

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