Absage: Ralf Rangnick wird nicht Trainer beim FC Bayern

"Ich bin mit vollem Herzen österreichischer Teamchef. Diese Aufgabe macht mir unglaublich viel Freude und ich bin fest entschlossen, unseren eingeschlagenen Weg erfolgreich weiterzugehen." Mit diesen Worten wird Österreichs Nationaltrainer Ralf Rangnick in einer Mitteilung des österreichischen Fußballbundes (ÖFB) zitiert. Der 65-Jährige bleibt auch über die Fußball-EM 2024 hinaus Bundestrainer in Österreich

Das freut die Österreicher, bringt aber gleichzeitig den FC Bayern München in Bedrängnis. Denn eigentlich war erwartet worden, dass Rangnick das Angebot des renommierten Bundesliga-Klubs annimmt und nach der EM neuer Bayern-Trainer wird. Nach den Absagen von Bayer Leverkusens Meistercoach Xabi Alonso und Bundestrainer Julian Nagelsmann, haben sich die Bayern damit den dritten Korb eines Wunschkandidaten eingehandelt.

Auch wenn Rangnick ausdrücklich betonte, dass sein Entschluss, das Angebot der Münchener nicht anzunehmen "keine Absage an den FC Bayern ist, sondern eine Entscheidung für meine Mannschaft und unsere gemeinsamen Ziele". Für den FC Bayern bleibt das Ergebnis unter dem Strich dasselbe: Offenbar hat niemand Lust, den Job auf der Bayern-Bank zu übernehmen. Seit im Februar bekanntgegeben worden war, dass man sich von Thomas Tuchel nach der Saison trennt, läuft die Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Bislang vergeblich.

FC Bayern: kein gutes Pflaster für Trainer

Die Gründe derjenigen, die abgesagt haben, sind allesamt nachvollziehbar: Xabi Alonso sieht seinen Weg und seine Arbeit bei Bayer Leverkusen noch nicht als beendet an. Julian Nagelsmann nannte es - ähnlich wie Rangnick in Bezug auf Österreichs Nationalteam - eine "Entscheidung des Herzens", beim DFB-Team bis zur WM 2026 weiterzumachen.

Bayern Münchens Coach Julian Nagelsmann steht vor der Trainerbank
Julian Nagelsmann war schon Bayern-Coach, wollte seinen Job aber nicht zurückhaben, sondern Bundestrainer bleibennull Jan Woitas/dpa/picture alliance

Ein weiterer Grund dürfte bei allen drei Wunschkandidaten aber auch gewesen sein, dass es zuletzt ein äußerst undankbarer Job war, beim FC Bayern als Cheftrainer zu arbeiten: Nagelsmann, der von Juli 2021 bis zu seiner überstürzten Entlassung im März 2023 Bayern-Trainer war, hat es am eigenen Leib erfahren. Obwohl er damals mit der Mannschaft noch in drei Wettbewerben chancenreich im Rennen lag, musste er gehen.

Schon Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick war aus freien Stücken gegangen und hatte seinen Vertrag nicht verlängert, weil es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten mit dem damaligen Sportvorstand Hasan Salihamidzic gekommen war.

Unter Nagelsmanns Nachfolger Thomas Tuchel schied der FC Bayern kurz nach dessen Amtsübernahme erst aus dem DFB-Pokal, dann aus der Champions League aus. Zwar gewann man unter gütiger Mithilfe Borussia Dortmunds im vergangenen Jahr die Meisterschaft, wie eine gut geölte Maschine funktionierte die Mannschaft aber nicht. 

Tuchels Transferwünsche werden nicht erfüllt

Tuchel bemerkte und bemängelte das und wünschte sich Verstärkungen an den neuralgischen Punkten. Zwar wurde mit Harry Kane ein Top-Stürmer verpflichtet, einen defensiven Sechser, die "holding Six", bekam Tuchel aber nicht. Er hätte gerne Declan Rice in München gesehen, aber daraus wurde nichts. Auch in der Verteidigung wurde Tuchels Wunsch, den Portugiesen João Palhinha vom FC Fulham zu verpflichten, nicht erfüllt. Stattdessen gab man mit Josip Stanisic sogar einen Defensivspieler per Leihe an die direkte Konkurrenz in Leverkusen ab - und bereute es später.

Tuchel galt schnell als unzufriedener Nörgler, der in Interviews manches Mal mit kritischen Aussagen über eigene Spieler auffiel. Die Kabine, so hieß es, habe er verloren. Nachdem man gegen Drittligist 1. FC Saarbrücken früh aus dem DFB-Pokal ausgeschieden war, in der Bundesliga von Leverkusen deklassiert wurde und es auch auf menschlicher Ebene zwischen Coach, Team und Verein nicht zu passen schien, war die Bekanntgabe der Trennung im März keine Überraschung mehr.

Bayern Münchens Trainer Thomas Tuchel blickt bei Pressekonferenz nachdenklich ins Leere
Thomas Tuchel wirkte in den vergangenen Monaten oft ratlos angesichts der Leistungen seiner Mannschaftnull Tom Weller/dpa/picture alliance

Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Monaten war ein renommierter Trainer in München gescheitert - weil er mit der nicht perfekt austarierten Mannschaft nicht zurecht kam und es an Rückendeckung und Vertrauen vom Verein fehlte.

Rangnick - Qualitäten als Talententwickler

Nun sollte - wenn auch nur als dritte Wahl - Ralf Rangnick wieder Erfolg nach München bringen. Und zwar für die nächsten Jahre. "Wir wollen einen Trainer haben, der ein Stück weit Bayern München längerfristig begleitet", hatte Bayerns Sportdirektor Christoph Freund gesagt. Er ist gemeinsam mit Sportvorstand Max Eberl für die Trainersuche verantwortlich und kennt Rangnick aus gemeinsamen Zeiten im Red-Bull-Fußballkosmos gut. 

Die Wahl fiel auch deswegen auf Rangnick, weil er in der Lage ist, junge Talente zu entwickeln. Eine Fähigkeit, die Bayern Münchens ehemaliger Manager und heutiger Ehrenpräsident Uli Hoeneß dem noch amtierenden Trainer Thomas Tuchel zuletzt öffentlich absprach - und damit erneut für Unruhe von außen sorgte.

Zidane? De Zerbi? Wer hat überhaupt noch Lust auf den Job?

"Dass Ralf Rangnick ein guter Trainer ist und in seiner Karriere schon viel bewegt hat, das wissen wir alle", sagte Freund dem Internetportal "t-online.de" noch einen Tag vor Rangnicks Absage und ergänzte: "Wichtig ist, wenn alles passt und beide Seiten davon überzeugt sind, dann wird es gemacht." Es müsse "die richtige Lösung sein und nicht die schnelle". Offenbar war Rangnick doch nicht überzeugt, und nun hat der FC Bayern weder eine schnelle, noch eine richtige Lösung, sondern erstmal gar keine.

Der Trainer von Brighton and Hove Albion, Roberto De Zerbi, applaudiert den Fans nach einem Premier-League-Spiel
Kommt Roberto De Zerbi aus Brighton? Er hat bislang keine Bereitschaft signalisiert, sondern sagte sogar, er wolle in England bleibennull Richard Sellers/empics/picture alliance

Nach Rangnick bleiben aus dem Kreise derer, die seit Wochen gehandelt werden, im Grunde nur noch Roberto De Zerbi, derzeit mit Brighton & Hove Albion in der englischen Premier League erfolgreich, und Zinedine Zidane. Der ehemalige Weltklassespieler aus Frankreich und Ex-Coach von Real Madrid hat momentan kein Engagement. Bei beiden gibt es allerdings die Hürde, dass sie weder die Bundesliga kennen, noch der deutschen Sprache mächtig sind. 

Zudem werden sich beide gut überlegen, ob sie tatsächlich einen Job haben möchten, den zuvor bereits drei andere abgesagt haben. Außerdem ist es vielleicht auch nicht so prickelnd zu wissen, dass man in einem Verein, in dem es mit Vertrauensvorschuss und ruhigem Arbeiten in sportlich schwierigen Zeiten nicht weit her ist, nicht die erste oder zweite Wahl der Vereinsverantwortlichen ist, nicht mal die dritte, sondern nur die Nummer vier.

DGB fordert am Tag der Arbeit "Tarifwende" in Deutschland

Auf Kundgebungen und Veranstaltungen in ganz Deutschland haben die Gewerkschaften zum Tag der Arbeit bessere Arbeitsbedingungen und mehr Tarifbindung gefordert. "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit", zitierte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, das Motto bei der zentralen Kundgebung in Hannover. Ihre Stellvertreterin Elke Hannack sprach sich in Münster für mehr Investitionen und mehr Personal im öffentlichen Dienst aus.

Der Staat solle "auf allen Ebenen seine Aufgaben erfüllen und den Bedürfnissen unserer Bürgerinnen und Bürger gerecht werden", sagte Hannack und warnte vor einem Sparkurs in der Bildungspolitik. "Wichtig sind jetzt mehr Erzieherinnen und Erzieher, mehr Lehrerinnen und Lehrer sowie mehr Sozialarbeit an Schulen und Kitas, die besser ausgestattet werden müssen."

"130 Milliarden Euro Schaden"

Fahimi pochte auf eine "Tarifwende". Nur noch gut die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland falle unter den direkten Schutz eines Tarifvertrags, sagte die SPD-Politikerin. "Tarifflucht" der Arbeitgeber verursache jedes Jahr einen volkswirtschaftlichen Schaden von 130 Milliarden Euro.

1. Mai Tag der Arbeit
Kundgebungen am Tag der Arbeit gab es in ganz Deutschland - wie hier in Berlin ...null Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Erst Tarifverträge machten Beschäftigte zu freien Menschen in der Arbeitswelt, betonte Fahimi. Sie sorgten für mehr Lohn, faire Bezahlung und geregelte Arbeitszeiten. Es dürfe "keinen Cent Steuergeld für Tarifflucht und Lohndumping" geben, forderte die frühere Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium. Die Regierung müsse über das Bundestariftreuegesetz hinaus Maßnahmen ergreifen, damit wieder 80 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden seien.

"Wie soll das alles gehen?"

In ihrer Rede verlangte Fahimi außerdem mehr Investitionen. Deutschland lebe seit mindestens zwei Jahrzehnten von seiner Substanz, kritisierte sie. Nun stünden ein historischer Umbau der Energieinfrastruktur und ein Digitalisierungsschub bei der öffentlichen Verwaltung an. "Wie soll das alles gehen, wenn man dafür nicht mehr Geld in die Hand nimmt?"

1. Mai Tag der Arbeit
... Frankfurt ...null Andreas Arnold/dpa/picture alliance

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betonte in einer Videobotschaft, die Beschäftigten in Deutschland hätten 2023 so viele Stunden gearbeitet wie nie zuvor. "Deshalb ärgert es mich, wenn manche abschätzig vom 'Freizeitpark Deutschland' reden - oder wenn gefordert wird, das Renteneintrittsalter anzuheben."

Arbeitgeber: "Mehr und nicht weniger Arbeit"

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte dagegen "mehr und nicht weniger Arbeit in Deutschland". In Zeiten geringen Wachstums, einer immer älter werdenden Gesellschaft sowie eines hohen Arbeits- und Fachkräftemangels "müssen wir gemeinsam anpacken", erklärte Dulger. Es gebe "keinen anstrengungslosen Wohlstand". Im Mittelpunkt müsse die Frage stehen, wie der Standort Deutschland wieder attraktiv gemacht werden könne.

1. Mai Tag der Arbeit
... oder Nürnbergnull Daniel Vogl/dpa/picture alliance

Der Gewerkschaftsbund feierte den Tag der Arbeit nach eigenen Angaben mit mehreren Hundert Kundgebungen und Veranstaltungen auf Straßen und Plätzen der Republik. In Berlin folgten dem DGB-Aufruf nach einer Polizeischätzung mehr als 7500 Menschen. In Hamburg waren es fast ebenso viele. Die Teilnehmerzahl bei der Hauptkundgebung in Hannover gab der DGB mit mehr als 10.000 an, die Polizei der niedersächsischen Landeshauptstadt sprach von deutlich weniger Menschen.

Der 1. Mai ist in vielen Ländern Europas, aber auch in Staaten anderer Kontinente ein Feiertag. Als Tag der Arbeiterbewegung wurde er bekannt, nachdem im 19. Jahrhundert Generalstreiks und Massenkundgebungen an diesem Datum stattgefunden hatten.

jj/sti (dpa, afp)

Robert Habeck will Pharma-Industrie in Deutschland stärken

Gar nicht so leicht, das Firmengelände des Pharma- und Chemie-Riesen Merck in Darmstadt zu besuchen. Eine gründliche Sicherheitsüberprüfung - online oder vor Ort - ist notwendig, in den Werkhallen tragen die Besucher dann Kittel, Schutzbrille und manchmal sogar Helme. Deutschlands Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen hat das trotzdem auf sich genommen und verteilt erst einmal Lob an die Branche allgemein: "Wir alle nutzen Medikamente, oft täglich. Aber wenn man über die Pharma-Industrie redet, dann heißt es oft: Das sind doch die mit den Tierversuchen, mit all der Chemie. Dabei sind auch sie das starke Deutschland." Die Merck-Chefs um den Geschäftsführer Technik, Kai Beckmann, hören das natürlich gern. 63.000 Menschen in mehr als 60 Ländern arbeiten für das Unternehmen, das 300.000 Produkte herstellt. Neben Medikamenten auch technische Produkte wie Halbleiter.

Weniger Energiebedarf, hoher Forschungsanteil

Zwei Tage Zeit hat sich Habeck genommen, um insgesamt fünf Unternehmen, Start-Ups und Gründerzentren, rund um das Thema Pharma zu besuchen. Rund acht Milliarden Euro werden in der Branche in Deutschland im Jahr investiert, rund 120.000 Menschen arbeiten in diesem Bereich. Die Energiekosten machen einen eher kleinen Anteil aus, entsprechend weniger wird in den Unternehmen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Ende der Lieferung russischen Gases über die hohen Belastungen geklagt. Dafür ist der Forschungsanteil hoch, und Habeck hört Beschwerden über den Mangel an Fachkräften und über eine stetig zunehmende Bürokratie. 

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht mit  Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingen
Robert Habeck zu Besuch bei Gründern und Entwicklern in der "Life Science Factory" in Göttingennull Helmut Fricke/dpa/picture alliance

Ein Beispiel nennen die Merck-Verantwortlichen: Sie präsentieren dem Minister eine High-Tech-Anlage, die gleich mehrere Produkte herstellen kann, indem nur wenige Teile ausgetauscht werden müssen. Modules Arbeiten wird das genannt. Aber bei jeder noch so kleinen Änderung muss die komplette Anlage neu genehmigt werden, was jeweils bis zu neun Monate dauert. Deutschland im Jahr 2024. Trotzdem gab es zuletzt auch positive Nachrichten, etwa, als der US-Konzern Eli Lilly in Alzey in Rheinland-Pfalz mit dem Bau einer Fabrik begann, in der Abnehm-Spritzen hergestellt werden sollen. Investitionssumme 2,7 Milliarden Euro.

Arzneimittelmangel: Folge des globalen Handels

Das ist ein gutes Zeichen, findet Habeck, denn oft genug laufe es andersherum: Habeck sagt der DW: "Immer dann, wenn Produkte etwa zehn Jahre am Markt waren, Massenware wurden, also günstig ohne Patente irgendwo produziert werden konnten, ist die Produktion häufig abgewandert in andere Länder, in denen Arbeit und die Umweltbedingungen möglicherweise günstiger sind." Die Menschen in Deutschland spüren das gerade, wenn es plötzlich Mangel an bestimmten Medikamenten gibt, weil die vielen globalen Krisen die Lieferketten einschränken oder verzögern. Medikamente, die oft in Deutschland entwickelt wurden, nun woanders produziert werden und im Land selbst nicht verfügbar sind.

Eine Flüssigkeit tropft aus der Kanüle einer Spritze
Spritzen und andere Medizintechnik sind eine der Schlüssel-Produkte deutscher Pharma-Unternehmen null Karl-Josef Hildenbrand/dpa/picture-alliance

Habeck will solche Produktionen zumindest teilweise wieder nach Deutschland holen: "Wenn man sie dann wieder hierher holen will, dann wird man dafür einen gewissen Preis zahlen müssen. Das ist dann der Preis der Sicherheit." Aber die Unternehmen hätten ihre Umsätze in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Habeck: "Die Entwicklung von neuen Produkten, die Forschung und die Start-Up-Unternehmen in dem Bereich an den Markt zu bringen, da hat Deutschland wirklich eine sehr starke Ausgangsposition."

Vom langen Weg bis zum fertigen Medikament

Ein solches neues Produkt stellt das Start-Up-Unternehmen Zedira in Darmstadt her. Die Firma ist ein gutes Beispiel dafür, wie lange es dauert, von der Idee über die Entwicklung bis zum Produkt zu kommen. Zedira entwickelt Vorprodukte für Medikamente gegen Gluten-Unverträglichkeit, an der allein in Deutschland nach Firmenangaben bis zu eine Million Menschen leiden. 2007 wurde das Unternehmen gegründet, es wird auch vom Wirtschaftsministerium gefördert. 2015 gab es erste klinische Studien, am Ende des Jahrzehnts, so hoffen die Unternehmensleiter, kann der Wirkstoff zur Verfügung stehen. Geschäftsführer Ralf Pasternack sagt: "Klar, das dauert alles ewig und kostet am Ende viel mehr, als man zunächst annimmt." Schwierig seien auch der Preisdruck und die Zulassung durch die Krankenkassen.

Eine Milliarde Tabletten im Jahr

High-Tech und Tradition gleichzeitig begegnen Habeck dann beim Besuch des Pharma- und Biotech-Unternehmens B. Braun in Melsungen in Hessen. Vor 185 Jahren gegründet und noch immer in Familienbesitz, eröffnet das Unternehmen schon bald ein neues Werk, in dem Produkte für die Infusionstherapie hergestellt werden. Und wenn alles funktioniert, folgt 2025 eines, in dem unter anderem Maschinen für die Dialyse gebaut werden sollen. Investitionssumme insgesamt: rund 60 Millionen Euro. Aus lauter Heimatliebe, so Firmenchefin Anna Maria Braun, sei die Entscheidung für den Standort Melsungen aber nicht gefallen. Hauptgrund war vielmehr die große Erfahrung der bereits jetzt hier arbeitenden rund 7000 Menschen. Aber der Fachkräftemangel macht auch ihr Sorgen. 

Medikamente liegen in den Regalen eines Kommissionier-Automaten einer Apotheke.
Einige Medikamente, auch Antibiotika, waren zuletzt in Deutschland Mangelwarenull Daniel Reinhardt/dpa/picture alliance

Habeck will sich für "Versorgungsgipfel" einsetzen

Welche Probleme die globalen Lieferketten oft bereiten, erfährt der Grünen-Politiker dann in Barleben bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Wieder Kittel und Brillen und diesmal sogar Sicherheitsschuhe: Die Firma Salutas, Tochter des Schweizer Konzerns Sandoz, fertigt hier "eine Milliarde Tabletten im Jahr", wie eine Mitarbeiterin stolz berichtet. Aber der Chef, Thomas Weigold, fordert einen "Versorgungsgipfel" der Regierung, weil es immer wieder zu Engpässen bei der Medikamenten-Versorgung in Deutschland komme. Vor allem, weil die meisten Produkte in Asien hergestellt werden. "Nur noch sieben Prozent der Umsätze machen die deutschen Unternehmen auf dem heimischen Markt", sagt er. Schon in anderen europäischen Ländern liege dieser Anteil bei 30 Prozent. Habeck will die Idee für einen "Versorgungsgipfel" mit ins Bundeskabinett nach Berlin nehmen. Und fordert während seiner Pharma-Reise, beeindruckt von den hohen Summen, um die es hier geht, ein "wuchtiges" Steuer-Entlastungsprogramm für die Wirtschaft. Dazu müsse man dann die Schuldenbremse des Grundgesetzes reformieren. Dafür aber, dass weiß auch der Wirtschaftsminister, fehlt es zurzeit an der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. 

 

Als Tourist nach Deutschland - diese Visa-Regeln gelten

Deutschland ist das ganze Jahr über ein attraktives Reiseziel. Mit seinen vielen mittelalterlichen Burgen, spannenden Städten, einer reichen Geschichte und dem größten Bierfest der Welt, dem Oktoberfest, bietet Deutschland für jeden etwas. Außerdem ist das Land dieses Jahr Gastgeber der UEFA-Fußball-Europameisterschaft 2024. Es gibt also viele gute Gründe, nach Deutschland zu reisen.

Letztes Jahr reisten besonders viele niederländische Touristen nach Deutschland. Für sie, wie alle anderen EU-Bürger auch, gelten keine besonderen Einreisevoraussetzungen.

Einreise nach Deutschland als EU-Bürger

Denn alle EU-Bürger können sich innerhalb der EU frei bewegen. Sie können in jeden Mitgliedstaat ihrer Wahl einreisen und sich dort bis zu drei Monate aufhalten, sofern sie einen gültigen Personalausweis oder Reisepass haben.

Einreise als Schweizer Staatsbürger

Zwar ist die Schweiz kein EU-Mitglied, doch ihre Staatsbürger können dennoch ohne Weiteres im europäischen Staatenverbund reisen. Ein Visa ist für Deutschland also nicht erforderlich.

Im Vorjahr zählten Schweizer nach den Niederländern zur größten Gruppe der Deutschland-Urlauber. 

Das Berliner Olympiastadion aus der Vogelperspektive
Zur Fußball-Europameisterschaft werden viele internationale Besucher nach Deutschland reisen. Hier das Berliner Olympiastadionnull Paul Zinken/dpa/picture alliance

Einreise als US-Bürger

Letztes Jahr kamen außerdem viele US-Bürger nach Deutschland, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Für sie ist die Einreise nach Deutschland ebenfalls sehr einfach. Mit einem gültigen US-Reisepass können sie in jeden Staat des europäischen Schengen-Raums (keine Kontrollen an den Binnengrenzen) einreisen und sich dort bis zu 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten - das gilt auch für Deutschland. Wichtig aber ist, dass der Reisepass noch mindestens drei Monate nach dem geplanten Ausreisedatum aus Deutschland gültig ist.

Visa in einem Reisepass
Nicht jeder, der nach Deutschland reist, braucht ein Visumnull Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

Einreise als britischer Staatsangehöriger

Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 änderte sich vieles im Verhältnis zum europäischen Staatenverbund. Dennoch dürfen britische Staatsbürger weiterhin problemlos den Schengen-Raum bereisen und sich dort maximal 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten. 

Einreise als chinesischer Staatsbürger

Weiterhin erfreut sich Deutschland auch großer Beliebtheit bei chinesischen Touristen.

Diese müssen allerdings ein Schengen-Visum für die Einreise beantragen – Deutsche hingegen sind seit 2023 vorübergehend für kurze China-Reisen von der Visumspflicht befreit.

Schloss Neuschwanstein bei Füssen im Allgäu
Für viele ausländische Deutschland-Besucher ist Schloss Neuschwanstein ein Mussnull Wilfried Wirth/imageBROKER/picture alliance

Für ein Schengen-Visum müssen chinesische Staatsbürger unter anderem folgende Dokumente vorlegen: Zwei biometrische Passfotos, einen aktuellen Reisepass, Nachweis über Reiseversicherung und ausreichende finanzielle Mittel, Aufschlüsselung der Reiseroute sowie Unterbringung.

Ein Schengen-Visum kostet 80 Euro und wird meist nach einer Bearbeitungszeit von 15 bis 30 Tagen ausgestellt.

Alle weiten Anmeldeformalitäten lassen sich hier nachlesen.

Welche Staatsbürger benötigen noch ein Visum für Deutschland?

Indische und indonesische Bürger beispielweise müssen auch ein Schengen-Visum beantragen, wenn sie Urlaub in Deutschland machen wollen.

Eine komplette Liste aller Staaten mit Visumspflicht ist hier abrufbar.

Schulen in Deutschland - das mobbende Klassenzimmer

An manchen Tagen ist die Welt für die deutsche Bildungsministerin noch in Ordnung. Zum Beispiel dann, wenn wie jedes Jahr die besten Lehrer ausgezeichnet werden. Und Bettina Stark-Watzinger die besondere Ehre hat, auf die Sieger des Deutschen Lehrkräftepreises eine Laudatio halten zu dürfen. Der Mathelehrer beispielsweise, der laut seinen Schülern auch die unerträglichste Stunde noch spannend macht. Oder die Sonderpädagogin, die Schüler mit Rollstuhl in ihr Theaterprojekt engagiert. Oder der Lehrer, der selbst erstellte Videos in seinen Unterricht einbaut.

Alles wunderbar also im Land der Dichter der Denker? Es geht so.

Denn in den vergangenen Wochen und Monaten machte eine Studie nach der anderen deutlich, dass das deutsche Bildungssystem dringend Nachhilfe benötigt. Da war zunächst die PISA-Studie im Dezember, bei der deutsche Schülerinnen und Schüler in Mathematik und beim Lesen so schlecht wie noch nie abschnitten.

In der Jugendstudie 2024 kritisierten junge Menschen ein eklatantes Digitalisierungsdefizit in der Schule und dass diese sie nicht auf die Arbeitswelt und das wirkliche Leben vorbereite. Zudem berichtete im sogenannten Schulbarometer mit 47 Prozent fast jede zweite Lehrkraft, schon einmal psychische oder physische Gewalt unter Schülern gesehen zu haben.

"Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems", erklärt Dagmar Wolf. Die ehemalige Lehrerin leitet den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, die für das Schulbarometer mehr als 1.600 Lehrer online befragte. Weiter sagt sie gegenüber der DW: "Wir sprechen von Bullying, wir sprechen von Vandalismus, aber auch von handfesten, auch körperlichen Auseinandersetzungen, die zum Teil natürlich über den Schulhof hinausgehen. Es wurden uns sogar Situationen berichtet, in denen Eltern involviert waren. Eher eine Ausnahme, aber es ist auch nicht so, dass es das nicht gibt."

Gewalt sogar an Grundschulen

Früher undenkbar wäre auch gewesen, dass die Berliner Bildungssenatorin einen Brief an 800 Schulen schicken muss, um vor einem Gerücht auf Tiktok zu warnen: Dort ging die Falschmeldung um einen "National Rape Day" viral, am 24. April seien sexuelle Übergriffe angeblich erlaubt. Auch geopolitische Krisen und Kriege wirken sich aus: Schulleitungen berichten laut Wolf, dass es aufgrund des Krieges in Gaza und Israel zu mehr Gewalt unter den Schülern gekommen sei.

Wer gedacht hat, dies alles sei lediglich ein Problem der weiterführenden Schulen, sieht sich getäuscht - schon in Grundschulen, also bei Schülern im Alter von sechs bis zehn Jahren, gebe es erste Fälle von Mobbing und Rangeleien. Von der Idee der netten und kuscheligen Grundschule müsse man sich verabschieden.

Ihr Fazit: in Sachen Bildung sei Deutschland ein zweigeteiltes Land. Auf der einen Seite die mehr als 3000 Gymnasien, mit ganz anderen Bedingungen und Herausforderungen als die Schulen, die vor allem von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Schichten besucht würden. Und dann ist da noch die Herkulesaufgabe für alle Schulen in Deutschland: die Aufnahme von Geflüchteten.

Frau mit Kurzhaarfrisur, weißem Hemd und dunkelblauem Sakko lächelt in die Kamera
Dagmar Wolf: "Bei vielen Schülern, gerade in den Schulen in kritischen Lagen, herrscht eine enorme Perspektivlosigkeit vor"null Robert Bosch Stiftung/Foto: Michael Fuchs

"Wir haben in den letzten zwei Jahren mehr als 200.000 Kinder ins Bildungssystem integriert, die aus der Ukraine kamen. Und mindestens in genauso hoher Zahl aus anderen Ländern, in denen entweder die ökonomische Not groß ist oder in denen auch Bürgerkrieg oder kriegsähnliche Zustände herrschen. Und das macht natürlich auch die Situation in der Grundschule deutlich schwerer als noch vor zehn Jahren", sagt Dagmar Wolf von Robert Bosch Stiftung.

Herausforderungen Handykonsum und Corona-Pandemie

Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie sich der Alltag und der Umgang an den Schulen in den letzten Jahren geändert hat, muss mit Torsten Müller (Name von der Redaktion geändert) sprechen. Er ist Sozialarbeiter an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen und hat jeden Tag ein Ohr für die Nöte, Sorgen und Probleme der Schülerinnen und Schüler. Für den Anstieg von Stress, Erschöpfung, Selbstzweifeln und Antriebslosigkeit, den auch die Jugendstudie feststellte, hat er gegenüber der DW folgende Erklärung:

"Entscheidend ist natürlich der Handykonsum, der auch die Kommunikation untereinander verändert hat. Die Jugendlichen sprechen mehr übereinander als miteinander, und es entstehen Missverständnisse, die man vis-a-vis nicht gehabt hat. Und dann sind wir immer noch dabei, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie aufzuarbeiten, mit einem Verlust der Sicherheit und einem signifikanten Anstieg von psychiatrischen Erkrankungen."

Kinder und Schule in der Pandemie

Die monatelange Schließung der Schulen gilt als der größte Fehler der deutschen Corona-Politik: während in Frankreich die Schulen nur an 56 Tagen, in Spanien an 45 und in Schweden an 31 Tagen geschlossen waren, mussten die Schüler und Schülerinnen hierzulande mehr als 180 Tage zu Hause bleiben. Müller beobachtet, dass die Zündschnur heute bei vielen Jugendlichen deutlich kürzer ist. Dass schon mal eher geboxt oder geschubst wird, anstatt Argumente auszutauschen. Mit Deeskalationstrainings versucht die Schule gegenzusteuern, der Sozialarbeiter und sein Team leiten die dreitägigen Trainings.

"Wir vermitteln Kenntnisse, wie es überhaupt zum Streit kommt und was ich als Gruppe oder Einzelner tun kann, um gar nicht erst in diese Situation zu kommen. Wie funktioniert Mobbing, das jeder zweite oder dritte Schüler schon am eigenen Leib erfahren hat. Anschließend entwickeln wir in Übungen eine gemeinsame Strategie, um dagegen vorzugehen."

Mehr Personal in der Schulpsychologie gefordert

Kleinere Klassen bei gleichbleibender Anzahl der Lehrerstellen, ein gutes Helfersystem und der Ausbau von Sozialarbeit und Schulpsychologie lautet das Rezept von Müller, um Deutschlands Schulen wieder in die Spur zu bekommen. Stefan Düll würde dies wahrscheinlich direkt so unterschreiben, doch seine Liste ist noch weitaus länger. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes sagt gegenüber der DW:

"Wir brauchen jede Menge Menschen, die Deutsch als Zweitsprache, als Fremdsprache unterrichten können. Wir brauchen unterstützendes Personal im Bereich Schulpsychologie, Schulassistenz, Jugendarbeit. Aber wir finden die Menschen nicht mehr so leicht, weil die demografische Entwicklung gegen den Bedarf läuft. Der wird immer größer, die gesuchten Fachkräfte immer weniger. So funktioniert das Ganze nicht mehr."

Mann mit blauem Jackett, weißem Hemd und roter Krawatte und Brille schaut lächelnd in die Kamera
"Ein Lehrer braucht eine hohe Resilienz, muss mit Stress umgehen können und ihn als positiv empfinden" - Stefan Düllnull Andreas Gebert/bpv

Und so steigt der Frust auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die immer häufiger Konflikte schlichten müssen, statt zu unterrichten. Die Ergebnisse des Schulbarometers sprechen Bände: Jeder dritte Lehrer fühlt sich laut der Umfrage an mehreren Tagen emotional erschöpft. Mit 27 Prozent würde mehr als ein Viertel der Befragten den Schuldienst verlassen - obwohl die große Mehrheit der Lehrkräfte immer noch mit ihrem Beruf zufrieden ist. Und als größte Herausforderung gilt mittlerweile das Verhalten der Schülerinnen und Schüler.

Deswegen müsse auch mehr Personal zur Gewaltprävention her, fordert der Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Würden gewisse Grenzen überschritten, helfe aber nur eine Null-Toleranz-Politik: "Ab einem gewissen Punkt ist einfach Schluss und wir sind im Bereich des Strafrechts mit einer Anzeige bei der Polizei, um auch ein bisschen abzuschrecken. Dies gilt übrigens auch für Mobbing-Fälle. Auch beim Cyber-Mobbing geben viele Schulleiter die Fälle bei der Polizei ab."

FC Bayern gegen Real Madrid - Thomas Tuchel im Mittelpunkt

Bayern München gegen Real Madrid - die "bestia negra", die schwarze Bestie, gegen die Königlichen. Das Halbfinal-Hinspiel der Champions League, 75.000 Zuschauer werden im Stadion in München sein. Eigentlich ist alles angerichtet für ein Fußballfest. Die Fans, die Medien sollten darüber spekulieren, wer die bessere Abwehr hat, wie sich wohl die beiden deutschen Nationalspieler Toni Kroos und Antonio Rüdiger bei Real im Duell mit Supertorjäger Harry Kane schlagen werden, ob Bayern wieder mit zwei Linksverteidigern antritt wie gegen den FC Arsenal im Viertelfinale oder ob Leroy Sane und Jamal Musiala rechtzeitig fit werden.

Tatsächlich aber dreht sich alles um einen Namen: Thomas Tuchel. Eigentlich schien die Diskussion um den Bayern-Trainer im März beendet, als bekannt gegeben wurde, dass der Vertrag mit ihm zum Saisonende aufgelöst werde. Wohl, weil es einfach nicht passt zwischen Tuchel und dem deutschen Rekordmeister: das blamable Aus im DFB-Pokal gegen Drittligist Saarbrücken, der damals schon kaum noch aufzuholende Rückstand in der Meisterschaft auf Bayer Leverkusen, dazu der manchmal eigentümliche Umgang mit der Presse.

Hoeneß: "Wenn's nicht weitergeht, dann kaufen wir"

Dass die Trennung damals nicht per sofort erfolgte, lag wohl einerseits an den mangelnden Alternativen - Bayern sucht immer noch nach einem Nachfolger - andererseits an der Hoffnung, dass es Tuchel in der Champions League mit den Bayern doch noch weit bringen könnte. Schließlich hat er die ja schon mal gewonnen, 2021 mit dem FC Chelsea. Übrigens nach einem Halbfinal-Triumph über Real Madrid. Also sollte der Trainer das Werk mit den Münchenern wenigstens in diesem Wettbewerb ungestört zu Ende führen.

Hoeness und Trainer Tuchel im Gespräch
Uli Hoeneß (l.) versteht sich nach eigener Aussage menschlich gut mit Thomas Tuchel, nur eben fachlich nichtnull Christian Kolbert/dpa/picture alliance

Doch dann meldete sich wenige Tage vor dem sportlichen Highlight Uli Hoeneß zu Wort. Der langjährige Klub-Macher in verschiedenen Funktionen, jetzt aber "nur" noch Aufsichtsrat, zog am vergangenen Freitag bei einer Veranstaltung der renommierten überregionalen Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine" (FAZ) über Tuchel her: "Er hat eine andere Einstellung. Nicht, dass man den Pavlovic verbessern kann, dass man den Davies verbessern kann. Sondern: Wenn's nicht weitergeht, dann kaufen wir".

Sollte bedeuten: Tuchel sei nicht in der Lage, junge Spieler wie Aleksandar Pavlovic und Alphonso Davies individuell zu verbessern. Dazu fehle es im Umgang mit den Spielern an der menschlichen Seite.

Kritik zum falschen Zeitpunkt

Tuchel wiederum sieht sich ob dieser Aussagen "in meiner Trainerehre verletzt", wie er vor dem Bundesliga-Spiel gegen Eintracht Frankfurt am Samstag beim TV-Sender Sky klagte. "Das ist so meilenweit an der Realität vorbei, ich weiß gar nicht, wie ich darauf antworten soll", meinte er. "Ich finde es absolut haltlos."

Tuchel entgegnete dem Hoeneß-Vorwurf mit Verweis auf die geleistete Arbeit der vergangenen 15 Jahre. Hauptsächlich störte den Trainer aber der Zeitpunkt des Angriffs des Ehrenpräsidenten: "Ich hätte auf diese Aussage überhaupt nicht reagiert, wenn sie nicht von Uli Hoeneß, unserem Boss, und vier Tage vor dem Real-Spiel gekommen wäre", meinte Tuchel.

Hoeneß seinerseits sah keinen Grund, sich bei seinem Noch-Trainer zu entschuldigen - im Gegenteil. Zu dem Satz, dass Tuchel bei Misserfolgen lieber neue Spieler fordere als die eigenen zu verbessern, stehe er, versicherte der 72-Jährige im Gespräch mit dem Fußball-Fachmagazin "Kicker". Den Krach zwischen ihm und dem Coach halte er für medial aufgebauscht, ergänzte Hoeneß. Er sei wild entschlossen, seine "Meinung wieder deutlicher zu machen", legte er im "Kicker" nach. "Sag ich nix mehr dazu. Das Thema ist abgehakt", so der lapidare Kommentar von Tuchel dazu auf der Pressekonferenz einen Tag vor dem Spiel gegen Madrid.

Einfluss auf die Spieler?

Die Diskussion kommt zur Unzeit, beeinträchtig die Spieler nach eigenen Angaben aber nicht. Ihr Fokus liegt auf dem Sportlichen, beinhaltet das Duell mit Real doch die letzte Chance in dieser Saison auf einen Titel. "Hehe, das ist mir scheißegal!", kommentierte Bayern-Urgestein Thomas Müller die Situation. Auch Joshua Kimmich war ganz auf den Sport fokussiert: "Das Feuer hat man natürlich wahrgenommen", sagte er auf der Pressekonferenz zum Real-Spiel am Montagmittag, "aber uns Spieler betrifft das nicht. Für uns zählt das Spiel morgen und nächste Woche. Der Fokus ist klar. Wir tun gut daran, uns darauf zu konzentrieren. Das andere können wir eh nicht beeinflussen.“

Übrigens wird Thomas Tuchel gegen Real Madrid auch als Diplomat gefragt sein. Schiedsrichter Clement Turpin aus Frankreich, der die Partie leiten wird, hatte Tuchel vor einem Jahr beim Viertelfinal-Rückspiel gegen Manchester City mit seinen Entscheidungen noch mächtig auf die Palme gebracht. "Note 6!" brüllte der Trainer da aufs Spielfeld und musste kurz vor Spielende mit gelb-roter Karte auf die Tribüne.

Bayern hatte das Hinspiel in Manchester 0:3 verloren und schied nach einem 1:1 im Rückspiel in München aus. Es gab zwei Handelfmeter nach Videobeweis, eine zurückgenommene rote Karte, jede Menge Diskussionen und dazu 19 Torschüsse der Bayern. Über solche Themen würde man sich normalerweise unterhalten vor so einem Champions-League-Kracher, wenn da nicht diese Attacken von Uli Hoeneß wären.

Wie gut ist Deutschland auf die nächste Pandemie vorbereitet?

Die Welt hat die Coronavirus-Pandemie weitestgehend überstanden – und bereitet sich bereits auf die nächste vor. Ein globaler Pandemievertrag soll Länder stärker vernetzen. Über einen Entwurf verhandeln derzeit die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Dass eine nächste Pandemie kommen wird, steht für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außer Frage. Nach SARS-CoV-2 werden nun Grippeviren, SARS-CoV-3 oder die Pocken als Kandidaten gehandelt. "Die Vogelgrippe wäre ungemütlich", sagt der Molekularbiologe Emanuel Wyler vom Berliner Max-Delbrück-Centrum. "Pocken wären ein kleiner, wenn auch unwahrscheinlicher, Albtraum". Aber auch Masern oder multiresistente Bakterien kommen in Frage - die Liste ist lang.

Eine immer vernetztere Welt und der Klimawandel führen dazu, dass Infektionskrankheiten sich immer besser ausbreiten. Intensive Tierhaltung und das Vordringen des Menschen in den Lebensraum von Wildtieren begünstigen außerdem Zoonosen, also Erkrankungen, die zwischen Mensch und Tier übertragen werden.

Drei Kuh-Hintern in einer Milchzapfanlage
In den USA ist die Vogelgrippe nun auf Kühe übergetreten und ließ sich auch in ihrer Milch nachweisennull Edwin Remsberg/VWPics/imago images

Von einer neuen Pandemie könnte auch Deutschland wieder betroffen sein. Anlass für viele, sich zu fragen: Hat man hierzulande die richtigen Lehren aus der Corona-Pandemie gezogen? Und ist man jetzt besser vorbereitet?

Drehpunkt: die Krankenhäuser

Bilder aus der Pandemie, die sich eingebrannt haben: volle Intensivstationen und überlastetes Krankenhauspersonal. Auch in einer nächsten Pandemie wird ein Dreh- und Angelpunkt sein, wie gut Deutschlands Kliniken für den Ansturm aufgestellt sind. "Eine Versorgung in Gesundheitskrisen funktioniert nur dann gut, wenn die Krankenhäuser auch im Normalzustand gut funktionieren", sagt Christian Karagiannidis, der als Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim arbeitet. "Das haben wir momentan nicht in der Form, in der wir es bräuchten."

Eine Reserve an freien Betten für unvorhergesehene Ereignisse gibt es nicht. Von den knapp 1700 Krankenhäusern, die es in Deutschland gibt, hätten während der Corona-Pandemie noch nicht einmal 500 Kliniken die Hauptlast der Corona-Patienten getragen. "Der Rest hat nur wenig an der Versorgung teilgenommen".

  

Damit die Arbeit in Zukunft auf mehr Schultern verteilt wird, versucht das Bundesministerium für Gesundheit nun einen Umbau der Krankenhauslandschaft. Als Teil der Regierungskommission ist auch Christian Karagiannidis an der Krankenhausreform beteiligt. Für ihn ist entscheidend, dass der Mittelbau ausgebaut wird. Also mehr Kliniken, die mindestens zehn Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit und "Specials" wie einen Herzkatheter und Hubschrauberlandeplatz haben. Bloß: Dafür müssen kleine Standorte zusammengelegt werden, heißt konkret: zumachen. "Damit tun sich die Leute unfassbar schwer", sagt Karagiannidis.

Ein weiteres Problem: Während das Pflegepersonal am Anfang der Corona-Pandemie beklatscht wurde, gerät es immer mehr in routinierte Vergessenheit – und wird älter. In Nordrhein-Westfalen (NRW), Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, ist laut Pflegekammer NRW jede dritte Pflegekraft über 55 Jahre alt und geht bald in Rente. Nur 15 Prozent sind jünger als 30. Laut Pflegereport der Krankenkasse DAK fehlt der Nachwuchs, um die altersbedingten Leerstellen in den kommenden Jahren zu ersetzen. Ein "Kipppunkt der Pflege" droht. 

Anlass zur Hoffnung gibt die Tatsache, dass Krankenhäuser während der Pandemie gelernt hätten, miteinander zu arbeiten und nicht in Konkurrenz zueinander, sagt Christian Karagiannidis. Außerdem: Das Bewusstsein, dass eine Bevorratung von Masken und Arzneimitteln eine gute Idee ist – das sei geblieben.  

Eine Erkenntnis: auf Vorrat setzen

Für Krankenhäuser mag die Bevorratung auch funktionieren, auf nationaler Ebene zeichnet sich an dieser Stelle jedoch ein Umsetzungs-Problem ab: Zu Beginn der Corona-Pandemie, im Juni 2020, hatte die Bundesregierung den Aufbau der "Nationalen Reserve Gesundheitsschutz" beschlossen. Schutzausrüstung und Medizinprodukte, die während der Pandemie beschafft wurden, sollten zentral eingelagert werden. In weiteren Phasen sollte die Reserve mit in Deutschland produzierten Medikamenten und Medizinprodukten aufgestockt werden. So wollte man in Zukunft Lieferengpässe vermeiden. Vier Jahre später steht das Projekt immer noch am Anfang. Abgelaufene Masken werden vernichtet. 

"Das könnte uns beim nächsten Mal wieder auf die Füße fallen", sagt Philipp Wiesener, der bei der Hilfsorganisation Deutsches Rotes Kreuz für nationales Krisenmanagement und gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zuständig ist. 

Auf der Habenseite: Während der Corona-Pandemie habe man gelernt, innerhalb kurzer Zeit Impfzentren hochzuziehen und große Bevölkerungsgruppen zu impfen, sagt Wiesener. Eine Reserve, auf die man auch beim nächsten Mal zurückgreifen kann. 

Ein Anknüpfungspunkt: die Impfstoffe

Dass die Corona-Pandemie nicht noch größeren Schaden angerichtet hat, liegt auch an der schnellen Verfügbarkeit effektiver Impfstoffe. Ein günstiger Zufall: Impfstoffe standen damals nicht im Fokus der Forschung. Die mRNA-Technologie sollte eigentlich helfen, Krebs zu heilen. "Es war tatsächlich Glück, dass die Entwicklung der mRNA-Technologie so weit vorangeschritten war", sagt Emanuel Wyler. Und ergänzt optimistisch: "Es ist nicht so, dass wir dieses Glück beim nächsten Mal nicht auch haben." 

Sieben Impfstoff-Spritzen liegen auf einer Silberschale
Auch bei einer nächsten Pandemie werden Impfstoffe wichtig seinnull Daniel Karmann/dpa/picture alliance

Während der Pandemie haben sich mRNA-Impfstoffe als flexibles Instrument bewährt. Sie funktionieren jedoch nur, wenn man weiß, gegen welche Strukturen des Erregers sie sich richten sollen. Käme als nächstes SARS-CoV-3, wären die Menschen gut vorbereitet. Bei Pocken zum Beispiel wäre das aber gar nicht so klar, sagt Molekularbiologe Wyler. Hinzu kommt, dass die Menschheit gegen diese Erkrankung kaum noch Impfschutz hat. Ein "kleiner Albtraum" eben. 

Die Frage ist aber auch, ob die Deutschen sich beim nächsten Mal überhaupt impfen lassen. 

Die Gesellschaft ist skeptischer geworden

Denn kurz bevor die WHO den Corona-Notstand im Mai 2023 aufhob, waren in Deutschland mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ohne Impfung. Und nicht wenigen fehlt inzwischen das Vertrauen in zukünftige Maßnahmen. In einer Umfrage, die ein Team um die Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt Ende 2022 durchführte, gab ein Drittel der befragten Deutschen an, dass sie bei einer nächsten Pandemie nicht mehr bei den Schutzmaßnahmen mitmachen würden. Ebenfalls würde fast ein Drittel der Befragten die Politiker gerne dafür maßregeln, wie sie mit der Pandemie umgegangen sind.

Die Pandemie hat zahlreiche Missstände offengelegt: Menschen mit geringerem Einkommen und Bildungsgrad waren systematisch benachteiligt. Digitalisierung in Gesundheitssystem und Schulen ist überfällig. Viele Kinder und Jugendliche leiden noch heute unter den Schulschließungen. Zahlreiche Wissenschaftler kritisieren eine fehlende systematische Datenerhebung zur Bewertung der Maßnahmen. 

Intensivmediziner haben gelernt, in Szenarien zu denken. Für Christian Karagiannidis ist daher klar, was nun an erster Stelle stehen müsste: "Wir müssten einmal durchspielen, was wäre, wenn jetzt die nächste Pandemie ausbricht. Und gucken: Sind wir gut vorbereitet?" Angefangen bei: Der Bundestag tritt zusammen. Zu: Wer sagt, dass es eine Krise ist? Wie reagieren wir darauf? Was passiert mit den Schulen? Haben wir die wesentlichen Daten in Echtzeit zur Verfügung? "Eigentlich bräuchte es ein Gesamt-Szenario, damit man sieht: Wo sind die Schwachstellen?"

Bislang aber ist das nicht passiert.

 

Anmerkung der Redaktion: Die vorherige Version dieses Artikels wurde geändert, um eine sachliche Ungenauigkeit zu beseitigen.

Reichsbürger-Prozess: Staatsstreich-Plan und krude Theorien

Sie wollten mutmaßlich nichts weniger als einen Staatsstreich: Die Gruppe von sogenannten Reichsbürgern um Heinrich XIII. Prinz Reuß wollte wohl in den Deutschen Bundestag eindringen und Abgeordnete festnehmen. Besonders im Visier der kruden Vereinigung: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und CDU-Chef Friedrich Merz.

Doch eine bundesweite Razzia kam der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung "Patriotische Union" am 7. Dezember 2022 zuvor: 25 Personen wurden festgenommen, darunter Reuß, die meisten von ihnen sitzen seitdem in Untersuchungshaft. 382 Schusswaffen konnten sichergestellt werden und fast 150.000 Munitionsteile. Vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart hat nun der erste von drei Prozessen gegen die Gruppe begonnen, die insgesamt auf rund 200 Personen geschätzt wird. Später folgen Verfahren vor Gerichten in Frankfurt am Main und in München.

Prozess gegen "Reichsbürger"-Netzwerk

Warten auf ein Signal von Mitverschwörern

Im Mittelpunkt: Heinrich XIII. Prinz Reuß, ein 72 Jahre alter Immobilienmakler aus Frankfurt am Main. Er war in den Planungen der Reichsbürger-Gruppe wohl nach der Machtübernahme als Staatschef vorgesehen. Bereits für den September 2022 erwartete die Gruppe laut Anklage eine Art Signal von Mitverschwörern, um nach der Macht zu greifen. Zu diesen Mitverschwörern zählten die "Reichsbürger" geheime Gruppen, gebildet von Mitgliedern auch ausländischer Regierungen, von Armeen und Geheimdiensten.

Innenministerin Nancy Faeser spricht im Bundestag
Bundesinnenministerin Nancy Faeser: "Wir müssen die Demokratie jeden Tag verteidigen"null Nadja Wohlleben/REUTERS

Nach der Festnahme der Gruppe um Reuß gab es weitere Razzien und Verhaftungen.  So auch im November vorigen Jahres. Danach sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD):  "Wir können das an diesem Tag, wo es eine der großangelegten Razzien gegen staatsfeindliches Handeln von rechts gibt, gar nicht laut genug sagen: Dass gerade diese Polarisierung zunimmt und wir jeden Tag unsere Demokratie aufs Neue verteidigen müssen."

Gewaltsame Übernahme einer Waffenschmiede?

Zur Gewalt bereit, fabulierte die Gruppe um Prinz Reuß offenbar über den Einsatz von Bundeswehrhubschraubern, geflogen von Unterstützern in der deutschen Armee. Sogar die gewaltsame Übernahme des deutschen Waffenkonzerns Heckler & Koch mit Sitz in Oberndorf am Neckar soll geplant gewesen sein. Jetzt wird den Angeklagten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung zum Hochverrat vorgeworfen.  Alle drei Prozesse zusammen werden wohl Mammut-Verfahren werden, in denen auch die Ideologie der Reichsbürgergruppe zentrales Thema sein wird.

Wahnhafte Fantasien um tote Kinder

Und diese Ideologie hat es laut Anklage in sich: Nach Ansicht von Prinz Reuß soll Deutschland von einer Art innerem Staat, einem "deep State" regiert sein, der es sich zum Ziel gesetzt habe, den Mord an Kindern und Jugendlichen im großen Stil zu organisieren. Keine Fantasie war wahnhaft genug: Die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2021 war nach dieser Denkart nur der Versuch, den Mord an Kindern durch das Fluten alter Regierungsbunker zu vertuschen. Von 600 toten Kindern soll im Umfeld von Reuß' Anhängern die Rede gewesen sein.

Fünf Polizisten in Schutzmontur unterhalten sich
Ein großer Schlag gegen die Reichsbürger-Szene gelang der Polizei im Dezember 2022null Uli Deck/dpa/picture alliance

Mit dabei: Eine frühere AfD-Abgeordnete

Dagegen setzte die Gruppe nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft die Idee der gewaltsamen Machtübernahme. Danach wollten die Verschwörer mit den früheren Kriegs-Alliierten aus den USA, Frankreich und Großbritannien, vor allem aber mit Russland, über einen neuen Friedensvertrag verhandeln. Um das Ganze vorzubereiten, veranstaltete die Gruppe offenbar Schießübungen und spähte schon mal die Räume des Bundestages aus, um am Tag der Machtübernahme bereit zu sein.

Demonstranten mit Flaggen vom Königreich Preußen
Das Deutsche Reich ist für die Reichsbürger, hier mit Fahnen des Königsreichs Preußen im Oktober 2023 in Dresden, nie untergegangennull Daniel Schäfer/dpa/picture alliance

Ebenfalls angeklagt: die frühere Bundestagsabgeordnete der rechtspopulistischen "Alternative für Deutschland" (AfD), Birgit Malsack-Winkemann, eine ehemalige Richterin. Sie wird zusammen mit Prinz Reuß in Frankfurt vor Gericht stehen. Im neuen Staat der "Reichsbürger" war Malsack-Winkemann offenbar als Justizministerin vorgesehen.

Ein gefährliches Milieu von fast 20.000 Menschen

Die "Reichsbürger" insgesamt werden in Deutschland von den Sicherheitsbehörden auf 20.000 Menschen geschätzt, davon seien etwa 2300 gewaltorientiert. Gemeinsam sind ihnen die Ablehnung der Demokratie, monarchistische Tendenzen, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Die "Reichsbürger" erkennen die Nachkriegsordnung und die Bundesrepublik als legitimen Nachfolger des Deutschen Reiches nicht an. Teilweise drohen "Reichsbürger" offen mit Gewalt oder üben sie aus, sie drohen auch mit Entführungen, etwa von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Der Autor Tobias Ginsburg hat acht Monate verdeckt in der Szene recherchiert, während der Corona-Pandemie von 2020 bis 2022 tauchte er auch bei radikalen Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern unter. Er sagte der DW im März vergangenen Jahres auf die Frage, ob die Bewegung wirklich eine Gefahr darstellt: "Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie es zunächst scheint. Denn die Reichsbürger sind keine einheitliche Bewegung, nicht ein eigener Typus des Extremismus. Das ist mehr eine Verschwörungstheorie, die tief verankert ist in der deutschen Geschichte und im Nationalsozialismus." Aber die Gruppe teile die Fantasie aller rechtsextremen Aktivisten: "Es ist die Idee einer homogenen Gesellschaft, ohne die Anderen, die Fremden."

In allen drei Prozessen wird mit Urteilen wohl erst im nächsten Jahr gerechnet. 

Beethovenfest 2024: ein Plädoyer für Demokratie

Sich mit den aktuellen Themen der jeweiligen Zeit auseinanderzusetzen - das passt zu einem Festival, das Beethovens Namen trägt. War der große Sohn Bonns doch selbst ein leidenschaftlich politischer Mensch. Nach Themen wie Diversität, Vielfalt und Umwelt in den vergegangenen Jahren widmet sich das Team des Intendanten Steven Walter nun der "Demokratie" - im Bonner Regierungsviertel, der Geburtsstätte bundesdeutscher Demokratie.

Miteinander und Teilhabe

Als Miteinander und Teilhabe dekliniert Steven Walter das diesjährige Motto. Und dieses Miteinander muss "jeden Tag neu erprobt werden". Unter anderem mit Mitteln eines Festivals, das mit 95 Konzerten, Talks und anderen Veranstaltungen in allen möglichen traditionellen und innovativen Formen zwischen dem 5. September und 3. Oktober 2024 in Bonn und Umgebung stattfindet.

Musiker mit Blumen auf der Bühne
Musik ist Kommunikation: wie hier beim Beethovenfest 2023null Nekame Klahsom

Es geht los mit einem großen Volksfest zur Eröffnung: Wenn es heißt "Bühne frei für Beethoven", dann treffen sich tausende Bonner und Festspielgäste von nah und fern unter hoffentlich klarem Himmel und bei freiem Eintritt, um gemeinsam der Musik zu lauschen. Orchester wie die Kammerakademie Potsdam unter der Leitung der jungen Dirigentin Elim Chan sind dabei, aber auch die Techno-Marching-Band Meute, ein elfköpfiges Blechbläser-Combo mit viel Bühnenpräsenz und dem klaren Aufruf, das Tanzbein zu schwingen.

Jubilare des Jahres: Missa Solemnis und Neunte Sinfonie

Etwas gezügelter geht es weiter im Schatten und in der Umgebung des Beethoven-Denkmals am Marktplatz (übrigens dem ersten weltweit, das dem Maestro gewidmet wurde).

Einen zentralen Programmschwerpunkt bilden zahlreiche Konzerte mit Aufführungen von zwei Meisterwerken Beethovens: der Missa solemnis und der Neunten Sinfonie. Beide Kompositionen wurden 1824 uraufgeführt - was für ein triumphales Jahr für den damals 54-Jährigen, der zwei Jahre später - viel zu früh - starb.

Junger Mann mit Mikrofon
Intendant Steven Walter: Es ist die dritte Ausgabe des Beethovenfestes unter seiner Regie.null Bjorn Kietzmann/DW

Es ist den Festivalmachern wichtig, die Beethoven-Blockbuster nicht nur traditionell und klassisch mit großen Orchestern und namhaften Solisten zu besetzen. So erklingt die Neunte schon zu Beginn des Festivals im Rahmen des Campus-Projektes der DW und des Beethovenfestes, gespielt von jungen Menschen aus der ganzen Welt - dem Bundesjugendorchester und dem Weltjugendchor unter der Leitung des chinesischen Komponisten Tan Dun.

Auch die Missa solemnis, neben der Neunten Sinfonie Beethovens musikalische Botschaft an die Nachwelt, wird unterschiedlich interpretiert: einmal mit Originalinstrumenten in einer penibel recherchierten Fassung des Dirigenten René Jacobs mit seinem B'Rock Orchestra und der Zürcher Sing-Akademie, aber auch mit dem Berliner BIPoC-Vokalkollektiv "A Song For You", begleitet vom Beethoven-Orchester Bonn unter Dirk Kaftan.

25 Jahre DW beim Beethovenfest

Es gibt noch einen Grund zum Feiern: Die DW ist seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert Gesellschafterin und Medienpartnerin des Beethovenfestes. "Das macht uns glücklich und stolz", sagte Barbara Massing, DW-Verwaltungsdirektorin und Aufsichtsrätin des Festivals.

Fünf Personen stehen in einer Reihe, hinter ihnen das Plakat "Beethovenfest Bonn"
Starkes Team: Barbara Massing von der DW (Mitte), Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner, Intendant Steven Walter (rechts im Bild) und Mitarbeiter des Festivalsnull Patrick Essex

Der deutsche Auslandssender und das Festival sind einen langen gemeinsamen Weg gegangen. Formate und Formen der Zusammenarbeit und der Berichterstattung veränderten sich, etwa von klassischen Konzertübertragungen im Radio zu Streamings auf dem YouTube-Kanal DW Classical. Zentral blieb aber, dass die DW Beethovens Botschaft in die Welt trägt.

Campus-Projekt: ein großes Fest

Herzstück der Kooperation ist (bereits seit 2001) das gemeinsame Campus-Projekt. Jedes Jahr aufs Neue geht es darum, junge Musikerinnen und Musiker aus Deutschland mit Musikern aus einem nahen oder fernen Gastland in Kontakt zu bringen, damit sie gemeinsam musizieren.

Nach einem hochpolitischen Campus-Projekt 2023 mit den Schwerpunktländern Iran und Afghanistan trägt es diesmal maßgeblich zur Feier des 200. Jubiläum von Beethovens Neunter Sinfonie bei. Am 7. September kommen in der Bonner Oper junge Musiker aus der ganzen Welt zusammen.

Das Bundesjugendorchester (ständiger Partner des Campus-Projektes seit 2015) hat zusammen mit dem Weltjugendchor ein Programm erarbeitet. 93 Sängerinnen und Sänger aus 45 Nationen sind aus fast 200 Bewerbern ausgewählt worden. Alle wichtige Senderegionen der DW sind dabei vertreten: ob der afrikanische Kontinent, Nord- und Südamerika, Asien oder Osteuropa, speziell auch aus die Ukraine.

Junge Musizierende halten ihre Instrumente in die Höhe
Immer politisch: 2017 stand die Ukraine im Mittelpunkt des Campus-Projektesnull Serhiy Horobets

Gemeinsam werden sie nicht nur die berühmte "Ode an die Freude" anstimmen, sondern auch ein neues Werk des renommierten chinesischen Kompositen Tan Dun interpretieren, dass in Anlehnung an das große Vorbild entstanden ist: "Nine. Ode to Compassion".

Tan Dun: ein Oscar-Preisträger beim Campus-Projekt

Die DW gehört (neben der Beethoven-Jubiläumsgesellschaft und weiteren internationalen Partnern) zu den Auftraggebern des Werkes. Tan Dun wird das Konzert auch dirigieren.

Er gehört zu den bedeutendsten lebenden Komponisten der Welt und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter ein Oscar für die Filmmusik zu "Tiger und Dragon". 2020 begleitete ihn die DW in der preisgekrönten DW-Dokumentation "Beethovens Neunte: Eine Symphonie für die Welt". Für das Campus-Projekt erarbeitet er mit den jungen Menschen in einer längeren Probephase sein neues Werk.

Am 3. September wird das Programm dann in der Gedächtniskirche im Rahmen des diesjährigen Berlin-Konzertes vorgestellt - als eine Art Prolog zum Bonner Festival, aber auch als dessen Visitenkarte für die Hauptstadt. 

Filmemacher Michael Verhoeven ist tot

Der bekannte Filmregisseur und -produzent Michael Verhoeven starb bereits zu Wochenbeginn, wie sein Sohn Simon Verhoeven am Freitag mitteilte. "Eine Welt ist verlorengegangen. Es ist unvorstellbar schmerzhaft", sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Verhoeven war über ein halbes Jahrhundert mit der Schauspiellegende Senta Berger verheiratet. Er setzte sich in seinen Filmen mit dem Nationalsozialismus oder dem Vietnamkrieg auseinander und wurde damit international erfolgreich.

Karriere als Arzt geplant

Verhoeven kam 1938 in Berlin zur Welt und wuchs in München auf. Sein Vater war der bekannte Regisseur Paul Verhoeven, die Mutter die Schauspielerin Doris Kiesow. Die Filmwelt war ihm quasi in die Wiege gelegt, schon als Kind trat er auf die Bühne, spielte unter anderem in der Verfilmung des Kinderbuchklassikers "Das fliegende Klassenzimmer" (1954) von Erich Kästner mit.

Ein junger Mann guckt in die Kamera
Michael Verhoeven in jungen Jahrennull Sentana Film/dpa/picture alliance

Dass er Medizin studierte und Arzt wurde, gefiel den künstlerisch ambitionierten Eltern gar nicht. Doch so ganz gab er die Welt des Films nicht auf: In den 1950er- und 1960er-Jahren trat er weiter regelmäßig als Schauspieler vor die Kamera, Ende der 1960er-Jahre begann er, auch als Filmregisseur zu arbeiten.

Preisgekrönte Werke und ein beleidigter Juror 

Sein früher Film "Paarungen" erhielt 1968 den Bundesfilmpreis. Später drehte er etwa "Gefundenes Fressen" mit den deutschen Starschauspielern Heinz Rühmann und Mario Adorf. Einen weiteren Bundesfilmpreis bekam 1971 Verhoevens viel diskutierter experimenteller Anti-Vietnamkriegs-Film "o.k.", der 1970 bei der Berlinale gezeigt wurde. Der US- amerikanische Jurypräsident George Stevens verließ beleidigt das Kino, weil er das Werk als antiamerikanisch empfand. 

Standbild aus dem Film "Die weiße Rose" (1982)
In "Die weiße Rose" verfilmte Verhoeven die Geschichte der Geschwister Scholl, die gegen das NS-Regime kämpften und schließlich zum Tode verurteilt wurdennull United Archives/picture alliance

Immer wieder setzte sich Verhoeven mit dem Faschismus auseinander. Sein Film "Die weiße Rose" erzählte 1982 die Geschichte des Widerstands der Studentengruppe um die Geschwister Scholl gegen das Nazi-Regime. Sieben Jahre später kam dann "Das schreckliche Mädchen" ins Kino. Die Geschichte einer Schülerin in Bayern, die an einem Aufsatzwettbewerb zum Thema "Meine Heimatstadt im Dritten Reich" teilnimmt und mit ihren Fragen unliebsame Erinnerungen weckt, wurde 1991 für den Auslands-Oscar nominiert und erhielt 1992 den British Academy Award. 

Filmplakat: Ein Mädchen küsst einen Mann an einem Baum an dem Bilder hängen
"Das schreckliche Mädchen" stellte Fragen zur NS-Vergangenheit ihres Umfelds, die keiner hören wollte null United Archives/picture alliance

Verhoeven drehte auch eine Reihe von Fernsehfilmen wie das Polit-Drama "Schlaraffenland" (1990) über DDR-Flüchtlinge oder "Mutters Courage" (1994), ein Drama aus der NS-Zeit. Er schuf  auch Unterhaltungsformate wie die Fernsehserie "Die schnelle Gerdi" (1989) mit seiner Ehefrau Senta als Münchner Taxifahrerin. 2016 war er Co-Produzent der erfolgreichen Komödie "Willkommen bei den Hartmanns", bei der sein Sohn Simon Regie führte. Auch sein jüngster Sohn Luca Verhoeven ist als Schauspieler und Produzent tätig. 

Senta Berger und Michael Verhoeven auf dem roten Teppich umarmend lachend
Verhoeven war über ein halbes Jahrhundert mit der Schauspielerin Senta Berger verheiratetnull Sven Simon/picture-alliance

Verhoeven lebte zuletzt mit seiner Ehefrau Senta Berger im Münchner Vorort Grünwald.

kt/suc (mit AFP/dpa)
 

"Das andere Berlin": Reiseführer und Videoguide

Zu Berlin ist alles geschrieben und gesagt? Das geht schon deshalb nicht, weil die Stadt sich ständig verändert. Sie auch noch im Buch festzuhalten wäre aussichtslos, weil alles nur Momentaufnahme bliebe?

Dem Autor Oliver Kiesow und dem Berliner Videocontent-Creator Kai Steinecke ist mit dem Buch ein Balanceakt zwischen klassischem Sightseeing und dem Einblick in eine schnelllebige Szene gelungen. Denn natürlich führt das Buch zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt, vors Brandenburger Tor, zum Reichstag und auf die Museuminsel. So schnell wird sich deren Status als Must-See auch nicht ändern. Die Stationen gehören zum Tagesprogramm.

Das andere Berlin: Die Museumsinsel

"Berliner Nächte sind lang"

Und dann wird es Nacht. Mit dem ersten Kapitel ist der Ton gesetzt: "Berliner Nächte sind lang" heißt es in Anlehnung an den Song "Kreuzberger Nächte sind lang" aus den 1970er-Jahren: "Hier steppt der Bär." Womit der Reiseführer über das andere Berlin schnurstracks in der Clubszene angekommen ist. Mit Clubs wie Berghain, Tresor und Bunker erlangte Berlin Weltruhm. Leser erfahren, dass rund 1,4 Milliarden Euro Umsatz in Hotelgewerbe und Gastronomie auf den Clubtourismus zurückzuführen waren, zumindest bis kurz vor der Pandemie. Sie lesen aber auch, wo Tanzen abseits der Touristenpfade möglich ist, wo Livemusik gespielt wird, welche Kneipentouren sich anbieten, wo die besten Biergärten liegen. "Partylocation ist die ganze Stadt", sagt DW-Host Kai Steinecke dazu. Die Szene verändert sich schnell, aber wer die "Kieze", wie die Berliner ihre Stadtteile nennen, so detailreich mit ihren Schleichwegen und Geheimtipps vorgestellt bekommt, ist gerüstet für eigene Entdeckungen.

Das andere Berlin: Der Kulturdachgarten „Klunkerkranich”

Ein Mann mit grüner Jacke und weißen Shirt lächelt in die Kamera
Kai Steinecke gibt Insider-Tipps für Berlin null Moritz Ortjohann

Für Steinecke ist Berlin die "Stadt im permanenten Umbau". Sie war durch die Jahrhunderte Experimentierfeld für architektonische Visionen. Das Buch beschreibt und bebildert die historischen Brüche, die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, den Nachkriegsaufbau in der geteilten Stadt und die fast 35 Jahre seit dem Mauerfall

Das andere Berlin: Vom Mauerbau bis zum Mauerfall

Best of Currywurstbuden

Und dann ist es immer wieder das Schräge, Skurrile und Sinnliche, von dem sich dieser Berlinführer leiten lässt. Mehrere Kapitel widmen sich dem kulinarischen Angebot der Stadt: den besten Adressen für die Currywurst, für den in Berlin erfundenen Döner, das Fleisch vom Spieß, das mit Salat in ein aufgeschnittenes im Brot gepackt wird, das urberlinerische deftige Eisbein. Selbst die Blutwurstmanufaktur in Neukölln wird gewürdigt, mit Adresse und U-Bahn-Haltestelle.

Das andere Berlin: Die Currywurst

Da müssen Vegetarier und Veganer einen Moment lang stark bleiben, bis sie ihre Tipps fürs fleischlose Glück bekommen. Nach London gilt Berlin als zweitgrößte vegane Metropole der Welt. Vom Streetfood bis zum Fine Dining der Sterneküche bietet der Reiseführer Dutzende Adressen und Kurzporträts. Der alte Vorwurf, Berlin sei eine kulinarische Steppe, preußisch, protestantisch und karg, wurde in den vergangenen Jahrzehnten häufig widerlegt, und dazu haben die Einwanderer aus fast allen Nationen der Welt beigetragen. Auch ihrem Platz in der Berliner Kulinarik ist ein Kapitel gewidmet.

Berlins queere Geschichte

"Das andere Berlin" zeigt aber auch, was an Berlin anders ist als an anderen Städten. Kaum sonst wo gibt es eine so vielfältige und so traditionsreiche schwul-lesbische und queere Szene wie in der deutschen Hauptstadt. Sie ist verbunden mit dem politischen Kampf um Gleichstellung und Freiheitsrechte, der vor mehr als 150 Jahren begann. Im damaligen Deutschen Reich wurde der Strafrechtsparagraf 175 eingeführt, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Das Kapitel „Der lange Weg zur Freiheit" führt zu den Stätten Berlins, die an die Verfolgung, etwa in der NS-Diktatur, erinnern. 

Heute ist Berlin nicht nur Party-, sondern auch LGBTQ+-Metropole. Mit dutzenden Tipps zum Ausgehen in der Szene endet der knapp 200 Seiten starke Reiseführer.

Das andere Berlin: Queer Life um den Nollendorfplatz

Das Gute ist: Selbst wer nur wenig Deutsch beherrscht, wird sich in diesem Reiseführer schnell zurechtfinden. Die Fotos, die Adressen, alle mit den S- und U-Bahnhaltestellen versehen, springen ins Auge. Und wer sich die Highlights im Video ansehen möchte, scannt mit seinem Smartphone den QR-Code und schaut sich einen der kurzen Infofilme an.

Oliver Kiesow: Das andere Berlin. Mit Insidertipps zu Kunst und Kultur, Architektur, Hotspots, Food, Nightlife, Queer Life. Fotografiert von André Götzmann. 192 Seiten, 115 Fotos 

FC Bayern: Ralf Rangnick als Antwort auf die Trainerfrage?

"Wir wollen einen Trainer haben, der ein Stück weit Bayern München längerfristig begleitet", so formuliert es Max Eberl. Der Sportvorstand des FC Bayern sondiert gemeinsam mit Sportdirektor Christoph Freund den Trainermarkt. "Wir wollen eine Kontinuität aufbauen. Das ist ein entscheidender Fakt, um erfolgreich zu sein", so Eberl.

Nach den Absagen von Leverkusens Meistercoach Xabi Alonso und Bundestrainer Julian Nagelsmann ist nun Ralf Rangnick der Wunschkandidat. Er muss im Grunde nur noch "Ja" sagen und einen Vertrag unterschreiben. Aktuell bereitet sich Rangnick als Nationaltrainer Österreichs auf die Teilnahme an der Fußball-EM in seinem Heimatland Deutschland (14. Juni bis 14. Juli) vor. Doch auch ein Job beim Rekordmeister sollte ihn reizen, zumal es für den 65-Jährigen gegen Ende seiner Karriere wohl die einmalige Gelegenheit sein dürfte, das Traineramt in München zu bekommen.

System-Innovator und Fußball-Professor

Rangnick hat den deutschen Fußball in den vergangenen 25 Jahren als Trainer, Manager und Funktionär verändert wie kaum ein anderer. Ende der 1990er Jahre trat er als Trainer erstmals ins Licht der Öffentlichkeit, als er mit dem SSV Ulm erfolgreich in der 2. Bundesliga spielte und dort dank seines neuartigen Spielsystems Erfolg hatte: eine Viererkette in der Abwehr und ein konsequentes Pressing der gesamten Mannschaft Richtung Ball.

Ralf Rangnick als Trainer des SSV Ulm 1846 sitzt vor Blatt mit taktischen Anweisungen
Nickelbrille, Taktiktafel und den vollen Durchblick, wie das System funktioniert: "Fußball-Professor" Ralf Rangnick beim SSV Ulm null Herbert Rudel/Pressefoto Rudel/picture alliance

Rangnick war ein echter Fußball-Nerd mit dem Hang zum Perfektionismus, aber ohne eigene Erfahrung als Fußballprofi. Seine Detailversessenheit und die akribische, fast wissenschaftliche Herangehensweise brachten ihm den Spitznamen "Fußball-Professor" ein. Manifestiert wurde dieser "Ehrentitel" durch einen Fernsehauftritt Rangnicks im Dezember 1998. Der junge Trainer mit Nickelbrille, damals mit Ulm überraschend Tabellenführer der 2. Bundesliga, verschob an der Taktiktafel Spieler und Gegner und erklärte sein System innerhalb von wenigen Minuten für jeden verständlich.

Dabei war "Fußball-Professor" oft auch abwertend gemeint. Viele der etablierten Trainer, Funktionäre und Experten - meist ehemalige Topspieler - störten sich daran, dass ein völlig Unbekannter, noch dazu ein studierter Lehrer, der selbst nie Profi war, daherkam und ihnen erklärte, wie es besser geht.

Meist erfolgreich, dann Abschied in Unfrieden

Der Erfolg gab Rangnick jedoch recht: Zwar trat er in Ulm zurück, kurz bevor der Bundesliga-Aufstieg geschafft war. Er etablierte sich aber anschließend beim VfB Stuttgart (1999-2001), bei Hannover 96 (2001-2004) und Schalke 04 (2004-2005) in der Fußball-Bundesliga. Überall hatte er im Rahmen der Möglichkeiten Erfolg. Überall eckte er jedoch auch an: mit seiner Art, seinen Ideen und dem Anspruch, im sportlichen Bereich eine möglichst weitreichende Entscheidungshoheit zu besitzen. Alle Engagements endeten vorzeitig mit Rangnicks Entlassung.

Schalkes Trainer Ralf Rangnick beim Autokorso in Gelsenkirchen mit DFB-Pokal
Seinen bislang einzigen großen Titel als Trainer gewann Ralf Rangnick 2011 im DFB-Pokal mit dem FC Schalkenull Volker Essler/SvenSimon/picture alliance

Im Sommer 2006 überraschte Rangnick damit, dass er bei der TSG Hoffenheim anheuerte, einem Drittligisten. Das war zwar ein sportlicher Rückschritt, bot Rangnick aber die Möglichkeit, im Grunde alles nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Der Klub wurde von Mäzen Dietmar Hopp großzügig finanziell unterstützt. Zweimal in Folge gelang der Aufstieg, nach der ersten Halbserie als Bundesliga-Neuling feierte die TSG sogar die Herbstmeisterschaft vor den Bayern. Rangnick blieb viereinhalb Jahre in Hoffenheim, ging dann Anfang 2011 aber vorzeitig - wegen Meinungsverschiedenheiten mit Hopp, dem einflussreichsten Mann im Verein.

Burnout auf Schalke als Türöffner bei Red Bull

Seine Rückkehr zum FC Schalke im März 2011, drei Monate nach seinem Abschied aus Hoffenheim, verlief mit dem Erreichen des Halbfinals in der Champions League und dem Sieg im DFB-Pokal sportlich erfolgreich, endete aber bereits nach einem halben Jahr wieder. Der Grund: Rangnick konnte nicht mehr. Wegen Burnouts trat Rangnick ohne Vorankündigung zurück. "Ich habe keine Kraft mehr, euch das zu geben, was ihr von mir als Trainer braucht", sagte er damals den Spielern. "Die Entscheidung ist mir unheimlich schwergefallen, doch ich brauche eine Pause."

Dieser Schritt sollte Rangnicks weitere Karriere nachhaltig beeinflussen. Wer weiß, ob er ein gutes Jahr später überhaupt bei Red Bull gelandet wäre, hätte er zuvor auf Schalke weitergemacht. Von 2012 bis 2020 arbeitete Rangnick bei Red Bull, zunächst als Sportdirektor bei Red Bull Salzburg, dann ab 2015 als Cheftrainer und Sportdirektor von RB Leipzig. 2019 übernahm er die Aufgabe als Head of Sport and Development Soccer und war damit für alle Red-Bull-Fußballklubs zuständig.

Fußballtrainer Ralf Rangnick schaut ernst
Gedanken darüber, wie viel Tradition ein Verein hat, machte sich Rangnick nie - er wollte die besten Bedingungennull Frank Hoermann/SvenSimon/picture alliance

Wie zuvor in Hoffenheim sah Rangnick die Möglichkeiten, die der RB-Kosmos bot und nicht die negativen Seiten, die Traditionalisten über die neureichen Klubs die Nase rümpfen ließen. RB Leipzig wurde dank ihm zu einem Bundesliga-Spitzenteam, das sich seit seinem Bundesliga-Aufstieg im Jahr 2016 bislang nur einmal am Ende der Saison nicht für die Champions League qualifizieren konnte.

Rangnicks Ruf war auch international gut: Bei der AC Mailand wollte man ihn 2020 als Cheftrainer und Sportdirektor verpflichten. Nach langen Verhandlungen scheiterte der Deal allerdings. Stattdessen wurde Rangnick im Dezember 2021 für den Rest der Saison Trainer beim kriselnden englischen Topklub Manchester United. Danach sollte er den Verein weiter beraten und gleichzeitig als Nationaltrainer Österreichs arbeiten. Doch aus der Beratertätigkeit Rangnicks wurde dann doch nichts. Mal wieder war ein Streit um die Kompetenzen Schuld. Diesmal mit seinem Nachfolger als United-Trainer Erik ten Hag.

Rangnick: "Kann ich etwas bewirken?"

Beim FC Bayern kennen sie die Vergangenheit Rangnicks. Sie wissen, dass sie sich mit ihm einen Mann ins Haus holen, der angeknackste Systeme wieder ins Lot bringen und aus dem Kurs geratene Mannschaften wieder erfolgreich machen kann - wenn man ihn auf seine Art und Weise arbeiten lässt. Der aber auch schnell unzufrieden wird, wenn er das nicht darf.

Österreichs Nationaltrainer Ralf Rangnick bei der Hymne untergehalt mit seinen Assistenten Lars Kornetka und Peter Perchtold
Seine Assistenten Lars Kornetka (l.) und Peter Perchtold (r.) würde Ralf Rangnick (2.v.l.) wohl nach München mitbringennull Ulrich Hufnagel/picture alliance

"Kann ich etwas bewirken? Besteht die Chance, eine Mannschaft zu entwickeln und erfolgreich zu sein? Das treibt mich an”, sagte Rangnick in dieser Woche gegenüber dem österreichischen Fußballportal "90minuten.at" über ein mögliches Engagement in München. Laut Medieninformationen haben Max Eberl und Christoph Freund ihm diese Möglichkeiten weitestgehend eingeräumt haben. Allerdings soll das letzte Wort bei Transferentscheidungen nicht alleine bei Rangnick liegen.

Jetzt könnte alles ganz schnell gehen. Zum einen möchte Rangnicks jetziger Arbeitgeber, der Österreichische Fußball-Bund (ÖFB), innerhalb der kommenden zwei Wochen Klarheit. Zum anderen läuft auch den Bayern die Zeit davon. Sollte mit Rangnick nach Alonso und Nagelsmann auch Wunschtrainer Nummer drei absagen, würde es wohl noch schwieriger, einen weiteren geeigneten Kandidaten zu finden. Außerdem müsste dieser dann davon überzeugt werden, den Posten bei einem angeschlagenen Spitzenklub zu übernehmen, der seinen Trainern zuletzt nicht gerade gutgetan hat. Und dann würde der neue Coach auch noch mit dem Makel starten, für den Posten nur die vierte Wahl gewesen zu sein.

Veteranen-Tag: Wertschätzung für deutsche Soldaten

Johannes Arlt, Bundestagsabgeordneter der SPD, hat die oft geringe Anerkennung der Bundeswehr in der deutschen Gesellschaft am eigenen Leib erfahren. Zwischen 2014 und 2019 nahm Arlt als Soldat an sieben Auslandseinsätzen der Bundeswehr teil, unter anderem in Afghanistan und Mali. Er sagt über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee und ihren Soldaten: "Wir sind nicht sehr empathisch. Wir haben uns lange für diese Menschen nicht sonderlich interessiert." Soldaten seien gelobt worden, so Arlt, wenn sie im Inland halfen, bei Hochwasser-Katastrophen etwa. Aber ihr Einsatz im Ausland sei vielen Menschen eher egal.

Im Deutscher Bundestag steht Johannes Arlt von der SPD am Rednerpult
Johannes Arlt (SPD) war selbst Soldat unter anderem in Afghanistan. Und hat sich jetzt für den Veteranen-Tag eingesetztnull Carsten Koall/dpa/picture alliance

Eine Initiative der Regierungsfraktionen und der CDU-Opposition

Arlt will das jetzt ändern: Mit Kolleginnen und Kollegen der beiden anderen Koalitionsparteien, den Grünen und der FDP, und auch mit der CDU-Opposition hat er ein Konzept für einen "Veteranen-Tag" vorgelegt, das der Bundestag jetzt beschlossen hat. Jedes Jahr am 15. Juni soll jetzt der Veteranen gedacht werden. Und am 15. Mai, einen Monat vorher, soll es eine zentrale Feier in Berlin geben, aber auch bundesweit zahlreiche Veranstaltungen.

Bei einem Gedenktag allein wollen es die Abgeordneten aber nicht bewenden lassen. Die Bundesregierung wird außerdem aufgefordert, für eine bessere Rehabilitation traumatisierter Soldaten zu sorgen. Und soll sich auch besser um die Belastungen ihrer Angehörigen kümmern. In 80 Prozent der Familien, aus denen traumatisierte Soldaten stammen, kommt es in der Folge zu psychischen Belastungen, weiß Arlt zu berichten.

Veteran Egger: Es brauchte das Signal der Politik

Veteranen wie der frühere Oberstabsfeldwebel Andreas Egger haben lange auf so eine Initiative der Politik gewartet. Er sagte in der ARD: "Es ist tatsächlich so, dass die Gesellschaft das bisher gar nicht wahrnehmen konnte in den vergangenen Jahren, weil dazu noch nie ein Zeichen der Politik kam. Ein Zeichen, dass unsere Bundeswehr in speziellen Auslandseinsätzen und mit besonderen Aufgaben betraut ist. Wenn ich das nicht in die Gesellschaft trage als Politik, dann kann die Gesellschaft auch nicht teilhaben und anerkennen, was wir tun." 

Eigentlich eine alte Idee

Ganz neu ist die Idee eines speziellen Tages für frühere Soldaten nicht: Schon vor zwölf Jahren sprach sich der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) dafür aus. Aber kaum jemand wollte ihm damals folgen. Jetzt ist das  anders, wie Kerstin Vieregge von der konservativen CDU sagt: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sei die Aufmerksamkeit für die Bundeswehr gestiegen, und die "Invictus Games", also der internationale Wettkampf für Soldaten, die Verletzungen im Einsatz erlitten haben, wurden im vergangenen September in Düsseldorf ausgetragen.

Prinz Harry, Schirmherr der "Invictus Games", verfolgt im September 2023 in Düsseldorf ein Spiel von Rollstuhl-Mannschaften im Rugby
Prinz Harry, Schirmherr der "Invictus Games", verfolgt im September 2023 in Düsseldorf ein Spiel von Rollstuhl-Mannschaften im Rugbynull Chris Jackson/Getty Images

In Anwesenheit von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Und Vieregge kennt noch einen weiteren Grund, warum jetzt der Zeitpunkt für einen Veteranentag auch in Deutschland gekommen ist: "Nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr gab es unter den Veteranen noch einmal eine Bewegung, die sich fragte: Was hat uns das gebracht und wie geht man mit uns Soldaten um, die dort gewesen sind?" Fast 20 Jahre lang war die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz, als Kampftruppe und als Ausbildungsverband. 59 Soldaten starben dabei.

10 Millionen Veteranen in Deutschland

Auf zehn Millionen beziffern die Abgeordneten die Zahl der Veteranen in Deutschland. Das liegt auch an der sehr offenen Definition, wer sich denn als Veteran bezeichnen darf: Nach dem Bundestags-Beschluss sind das alle Soldaten, die mindestens sechs Monate bei der Truppe waren und ehrenhaft entlassen wurden. Seit Gründung der Bundeswehr im November 1955.  Dazu gehören auch die Angehörigen der früheren "Nationalen Volksarmee" (NVA) der DDR, die nach der Deutschen Einheit in die gesamtdeutsche Truppe übernommen wurden. Dieser Punkt zeigt aber auch, wie schwer sich Deutschland mit seiner komplizierten militärischen Geschichte tut: Angehörige der NVA, die nur in der DDR und nicht mehr im geeinten Deutschland dienten, sollen künftig nicht als Veteranen gelten.

Usbekistan | Evakuierungsmission für Deutsche und einheimische Ortskräfte in Afghanistan im August 2021
Als eine der letzten Aktionen evakuiert die Bundeswehr deutsche Staatsbürger und Ortskräfte im August 2021 aus Afghanistannull Bundeswehr/dpa/picture alliance

Ein Heldentag soll das Veteranen-Gedenken nicht werden

Und noch etwas ist den Bundestagsmitgliedern wichtig: Der Veteranentag soll keine Heroisierung betreiben. Oder, wie Merle Spellerberg von der Grünen sagt: "Wir wollen keine Volkshelden aus den Menschen machen. Und an einen zentralen Soldatenfriedhof denken wir auch nicht." Um Heldentum geht es auch Andreas Eggert nicht. Er sagt: "Ein Veteranentag bedeutet auch für mich persönlich Anerkennung und Wertschätzung unseres Berufs und vor allem: Gesehen werden. Also dass man die Besonderheit dieses Berufes in der Gesellschaft sieht."

Woanders hat das Gedenken an Soldaten Tradition 

Soldatenfriedhöfe gibt es aber woanders schon, etwa in den USA. Berühmt ist der nationale Friedhof in Arlington am Rande der Hauptstadt Washington D.C. Die USA haben auch längst einen Tag für ihre Veteranen, es ist der "Veterans Day" am 11. November, dem Tag des Waffenstillstandes im Ersten Weltkrieg. Auch in Großbritannien gilt der 11. November als "Remembrance Day", der von den meisten Commonwealth-Staaten beibehalten wird. Und in Belgien und Frankreich ist der 11. November ein arbeitsfreier Tag. Der 15. Juni wurde nun in Deutschland vor allem auf Wunsch der Veteranenverbände gewählt. Im Sommer hoffen die früheren und aktiven Soldaten auf mehr Teilnehmer an ihrem Gedenktag als im Winter.

Arabisches Filmfestival in Berlin fokussiert sich auf palästinensische Stimmen

"Um in Deutschland über Palästina zu sprechen, sollte man nicht mutig sein müssen", erklärten die Organisatoren des ALFILM (Arabisches Filmfestival Berlin) bereits bei der Veranstaltung 2023. Ein Jahr später, vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza, ist es eine umso größere Herausforderung, ein Festival durchzuführen, das seinen Fokus auf palästinensische Stimmen legt. "Es fühlt sich eher wie eine unlösbare Aufgabe als ein Akt der Courage an," sagt Festivalchefin Pascale Fakhry. "Ehrlich gesagt fühlt es sich eigentlich wie Selbstmord an."

Das Team aber nimmt das Risiko auf sich. Das ALFILM-Festival fand zum ersten Mal 2009 statt und hat sich inzwischen, so Fakhry, als die "größte Plattform für arabische Kultur in Deutschland" etabliert. Es findet vom 24. bis zum 30. April 2024 in Berlin statt.

Eine Frau, Pascale Fakhry, steht vor einem bunten Wandbehang mit der Aufschrift "ArabFilmFestival" und lächelt
Pascale Fakhry leitet das ALFILM-Festivalnull Elizabeth Grenier/DW

"Alle sind extrem nervös", so Fakhry im DW-Gespräch. Zu dieser angespannten Atmosphäre haben im Vorfeld des Festivals eine Reihe von Vorfällen beigetragen.

So berichtet Fakhry, dass sich die Polizei bei einem der Veranstaltungsorte über das Event erkundigte, bevor das Programm im Kino ausgehängt wurde. Nachdem sie gehört hatten, dass dort ein arabisches Filmfestival stattfinden sollte, unterstellten die Behörden, dass an einer Veranstaltung, von der sie nichts wussten, etwas Verdächtiges sein müsse, so Fakhry.

Als der Kinobetreiber die Polizei darüber aufklärte, dass fünf andere Berliner Veranstaltungsorte ebenfalls Teil des Filmfestivals sind, dass es seit 15 Jahren stattfindet und dass das gesamte Programm im Internet zu finden ist, sei die Polizei "extrem verlegen" gewesen, so die Festivalchefin.

Ein Mann und eine Frau liegen in einer Badewanne.
Gezeigt werden 50 verschiedene Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme, darunter "Dirty Difficult Dangerous" (Bild), eine Liebesgeschichte zwischen einem äthiopischen Hausmädchen und einem syrischen Flüchtling in Beirutnull METROPOLISCINEMA

Arabische Filmemacher haben Angst, nach Deutschland zu kommen

Viele internationale Nachrichtenmedien, darunter auch die "New York Times", haben darüber berichtet, dass der deutsche Kultursektor von Absagen und Verschiebungen von Veranstaltungen betroffen ist, bei denen Teilnehmer Palästinenser unterstützen oder sich antisemitisch im Bezug auf den Krieg zwischen Israel und der militant-islamistische Terrororganisation Hamas geäußert haben.

Antisemitismusvorfälle haben in Deutschland zugenommen, was die Alarmbereitschaft erhöht. In diesem Zusammenhang sind die deutschen Politiker gefordert, zu reagieren und eine strikte Linie gegen Antisemitismus zu ziehen, insbesondere in Anbetracht der historischen Verantwortung Deutschlands infolge der Verbrechen des Holocaust.

Bei den Berliner Internationalen Filmfestspielen im Februar 2024 sorgten einige Dankesreden für Aufruhr unter deutschen Politikern. Einer der Preisträger, der israelische Regisseur und Aktivist Yuval Abraham, sagte, dass er aufgrund der Medienberichterstattung, in der seine Rede als "antisemitisch" bezeichnet worden war, in seinem Heimatland Morddrohungen erhielt.

In einem Bekleidungsgeschäft stehen ein Mann und ein Kind und sprechen mit dem Verkäufer hinter der Ladentheke.
Ein Highlight des Festivals ist der preisgekrönte Film "The Burdened" von Amr Gamal - der erste jemenitische Film, der bei der Berlinale gezeigt wurdenull ALFILM

Fakhry weist darauf hin, dass in einem solchen Kontext viele der Gäste des ALFILM-Festivals "Angst haben, nach Deutschland zu kommen ... Ich meine, keiner von ihnen will in einen Konflikt geraten und des Antisemitismus beschuldigt werden."

Umstrittene Begriffe in Deutschland

Die Organisatoren des ALFILM-Festivals haben die internationalen Filmemacherinnen und Filmemacher im Vorfeld des Festivals gebrieft, um von vornherein einige Reizwörter zu vermeiden. "Aber wir haben ihnen auch gesagt, dass dies immer noch ein freier Raum ist und dass wir sie nicht zensieren werden", so Fakhry.

Umstrittene Begriffe wie "Völkermord", "Apartheid" und "Siedlerkolonialismus" im Zusammenhang mit israelischer Politik haben in Deutschland einen Aufschrei ausgelöst. Der Ausdruck "From the river to the sea" hat das deutsche Innenministerium unter Strafe gestellt. "Vom Fluss bis ans Meer wird Palästina frei sein" ist eine politische Parole der Palästinenser, die unter dem Verdacht steht, Israel das Existenzrecht abzusprechen.

Das zentrale Thema jedes ALFILM-Festivals ist eine Reaktion auf aktuelle Konflikte, und so lautet das diesjährige Motto: "Here is Elsewhere: Palästina im arabischen Kino und darüber hinaus". Laut Fakhry haben die Programmgestalter dieses Motto gegenüber ihren Geldgebern, die dem Team ihr Vertrauen schenken, transparent gemacht. So konnten sie sich in gewisser Weise "sicher fühlen".

Im offenen Kofferraum eines Krankenwagens steht ein Monitor, auf dem ein Mann zu sehen ist. Davor stehen drei Frauen und schauen hin.
In "Das Leben ist schön" erzählt der palästinensische Filmemacher Mohamed Jabaly von seinem Exil in Norwegen. Er saß dort jahrelang ohne Arbeitsvisum festnull ALFILM

Die Zukunft der Veranstaltung bleibt jedoch ungewiss, da die Berliner Landesregierung, die auch ALFILM finanziert, im Januar versucht hat, eine sogenannte Antidiskriminierungsklausel einzuführen. Danach darf niemand, der "antisemitische Äußerungen" getätigt hat, finanzielle Unterstützung von der Stadt erhalten.

Definition von Antisemitismus

Diese Klausel folgt der Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die wird allerdings oft dafür kritisiert, dass sie als "antisemitisch" bezeichnet, was andere als legitime Kritik an Israel ansehen. Nach der IHRA-Definition ist "das Vergleichen zwischen der gegenwärtigen israelischen Politik und der Politik der Nazis" ebenso antisemitisch wie "das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen".

Auch wenn die umstrittene Klausel verworfen wurde, ist die Debatte in der deutschen Hauptstadt und im ganzen Land noch sehr präsent. "Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass das, was wir tun, für viele politische und kulturelle Akteure in Deutschland nicht akzeptabel ist", sagt Fakhry, aber für das ALFILM-Team sei es "existenziell", eine unzensierte Plattform für den Dialog zu bieten. 

"Jede palästinensische Geschichte ist politisch"

Das Festival wurde am Mittwoch (24. April 2024) mit dem Dokumentarfilm "Bye Bye Tiberias" von der französisch-palästinensisch-algerischen Filmemacherin Lina Soualem eröffnet. Dass sie den Film in Berlin präsentiert habe, habe sie nicht nervöser gemacht, als wenn er anderswo gezeigt worden wäre, sagte sie der DW. "Es ist immer schwer, über solche Dinge zu sprechen." Ihr Dokumentarfilm basiert auf der persönlichen Geschichte ihrer Familie. Diese "Lebenserfahrungen sind real und verdienen es, gezeigt zu werden", so Soualem.

Im Mittelpunkt von "Bye Bye Tiberias" stehen vier Generationen starker palästinensischer Frauen. In dem Film, der private Videos, Archivaufnahmen, Fotos und Familientreffen kombiniert, erfahren wir, dass Soualems Urgroßmutter ihre acht Kinder allein aufzog. Ihre Familie war 1948 während des Krieges, den die arabischen Staaten nach Gründung des Staates Israel begonnen hatten, aus ihrem Haus in Tiberias vertrieben worden. Die Flucht und Vertreibung hunderttausender Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem ehemaligen britische Mandatsgebiet Palästina wird auf arabischer Seite als "Nakba", "Katastrophe", bezeichnet.

Eine weitere zentrale Figur in Soualems Dokumentarfilm ist ihre Mutter, die gefeierte palästinensische Schauspielerin Hiam Abbass. Sie verließ ihr Dorf Deir Hanna, um ihre Schauspielkarriere in Europa fortzusetzen - eine weitere Form des Exils, die sich auf die Identität ihrer Tochter auswirkte. Soualem wuchs in Frankreich auf und sehnte sich danach, ihre Herkunft besser zu verstehen.

Für Soualem führt die Erforschung intimer Beziehungen innerhalb einer palästinensischen Familie automatisch zur kollektiven Geschichte ihres Volkes: "Jede palästinensische Geschichte ist per se politisch", betont sie, da sie "nicht nur überlebten, sondern auch weiterlebten, nachdem sie massive Enteignungen und den Entzug ihrer Identität als Palästinenser erlebt hatten - was bei jedem Palästinenser der Fall ist, insbesondere seit 1948".

Eine Frau mit langen dunklen Haaren schaut in die Kamera
Lina Soualem möchte mehr über ihre Herkunft erfahrennull Vianney Le Caer/Invision/AP/picture alliance

Die Geschichten der Ausgeschlossenen erzählen

Ihr Film wurde bereits vor den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober, die zu den israelischen Vergeltungsschlägen im Gazastreifen führten, fertig gestellt. Er feierte im vergangenen September bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere. Außerdem wurde er als palästinensischer Beitrag für die Oscar-Verleihung 2024 ausgewählt.

Doch schon vor und während der Dreharbeiten "gab es die Entmenschlichung der Palästinenser, die Beraubung ihrer Identität, die Unterdrückung. All das war bereits Realität", sagt die Regisseurin.

"Wir sprechen immer von den Palästinensern als Masse, als wären sie ein abstraktes Volk. Wir sprechen über Gaza als Abstraktion. Aber in Wirklichkeit geht es um Leben, es geht um Menschen." Und sie fügt hinzu: "Ich war motiviert, diesen Film zu machen, um den Palästinenserinnen und Palästinensern durch meine persönliche Geschichte Komplexität zurückzugeben, weil sie so entmenschlicht, so stigmatisiert wurden."

Soualems Dokumentarfilm spiegelt auch das diesjährige Motto des Arabischen Filmfestivals wider: "In einem Kontext, in dem Geschichten unsichtbar gemacht und marginalisiert werden, sind Bilder und das Erzählen von Geschichten von entscheidender Bedeutung. Denn wenn wir unsere Geschichten nicht erzählen, wird die Geschichte ohne uns geschrieben", betont sie. "Die Fähigkeit, unser Wissen zu teilen, ist auch eine Art zu überleben. Vor allem in einem Kontext, in dem Leben verschwinden, wird das Kino immer da sein, um an diese Menschen zu erinnern, deren Leben ausgelöscht werden."

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch.

Spionage in Deutschland aus China und Russland boomt

In der Pressestelle des Generalbundesanwalts herrscht dieser Tage Hochbetrieb: "Festnahme wegen mutmaßlicher geheimdienstlicher Agententätigkeit" wird eine Mitteilung vom 23. April überschrieben. Exakt die gleiche Überschrift hat eine Pressemeldung vom Tag zuvor. In beiden Fällen sollen die insgesamt vier Beschuldigten - drei Männer und eine Frau - für China spioniert haben.

Und in einer Nachricht vom 18. April geht es um zwei Männer, die im Auftrag Russlands Anschläge auf militärische Ziele in Deutschland geplant haben sollen. In der Titelzeile heißt es: "Festnahmen u. a. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung 'Volksrepublik Donezk' (VRD)".

Geheimdienst-Kontrolleur sorgt sich um Sicherheit

In Politik und Medien führen die Festnahmen zu besorgten Kommentaren. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz ist alarmiert: "Wir müssen endlich verstehen, dass es hier um eine maximal ernste und durchaus reale Bedrohung unserer Sicherheit geht", betont der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. "Als wehrhafte Demokratie müssen wir sowohl in der Strafverfolgung, aber auch bei der Aufdeckung der Strukturen und Netzwerke durch alle Sicherheitsbehörden schnell und entschlossen agieren."

Haldenwang: "Bedrohungssituation wie im Kalten Krieg"

Dass genau dies gerade geschieht, macht der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, im DW-Interview deutlich: "Wir haben diese Ermittlungen initiiert. Und nachdem die Beweislage dann eindeutig war, konnten wir diesen Fall an die Polizei und die Staatsanwaltschaften abgeben." 

Verfassungsschutz skizziert Chinas globale Ziele

Für den Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes ist die aktuelle Entwicklung keine Überraschung. Was seine Behörde China zutraut, ist im 2023 veröffentlichten Verfassungsschutzbericht nachzulesen: "Die globalen Ambitionen Chinas werden mit einem generellen Streben nach immer mehr Macht zur Ausgestaltung des eigenen Gestaltungs- und Führungsanspruchs verfolgt und lassen eine weitere Intensivierung der Spionageaktivitäten wie auch der Ein­flussnahmeaktivitäten durch staatliche Akteure erwarten."

Über das Gefährdungspotenzial sprach der BfV-Präsident auch auf einem Symposium des Verfassungsschutzes in Berlin, das am Tag der Festnahme von drei mutmaßlichen Spionen stattfand. China habe Zeit, antwortete Haldenwang auf die Frage der DW, welche Strategie das Land bei der Spionage verfolge: "Bis 2049 will man die politische, militärische, wirtschaftliche Macht Nummer eins auf dem Globus sein. Dieses Ziel verfolgt man kontinuierlich - mit legalen Mitteln, aber eben auch mit illegalen Mitteln."

China: Zur Spionage gezwungen

Klassische Spionage-Felder Chinas: Universitäten und Unternehmen

Beispielhaft sei der Einsatz von chinesischen Gastwissenschaftlern und Studierenden an deutschen Universitäten. "Diese Personen sind verpflichtet, Informationen an den Staat weiterzugeben", sagte Haldenwang. Diese Warnung nimmt auch die deutsche Ministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, ernst: Im Umgang mit China dürfe man nicht naiv sein, meint die Freidemokratin (FDP). Notwendig sei eine "noch kritischere Abwägung von Risiko und Nutzen bei der Zusammenarbeit gerade auch in Wissenschaft und Hochschulen". 

So sieht es der Verfassungsschutz auch beim Blick auf die Wirtschaft. Bei jeden Joint Venture, bei jedem Direktinvestment kämen auch Manager und anderes Personal aus China nach Deutschland, sagte Präsident Haldenwang, der damit ein potenzielles Einfallstor für Spionage benannte: "Geschäftsgeheimnisse können auch nach China gelangen."

Spion im Vorzimmer eines AfD-Politikers?

In dieses Szenario könnte der zuletzt festgenommene mutmaßliche Agent passen. Besonders pikant: Er ist ein enger Mitarbeiter von Maximilian Krah, dem Spitzenkandidaten der Alternative für Deutschland (AfD) bei der Europawahl im Juni 2024.

Der festgenommene Krah-Mitarbeiter ist mittlerweile in Untersuchungshaft. Ein Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof habe den Haftbefehl in der Nacht zum Mittwoch in Vollzug gesetzt, Der Vorwurf laute auf Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall.

Spion bei der Bundeswehr enttarnt

Der vom Verfassungsschutz bundesweit als rechtsextremer Verdachtsfall beobachteten AfD werden auch immer wieder enge Kontakte nach Russland nachgesagt. Die aus Moskau gesteuerten Spionage-Aktivitäten konzentrieren sich jedoch im Unterschied zu China nach Geheimdienst-Erkenntnissen oft auf kurzfristige Ziele. Diese Einschätzung gilt aus Haldenwangs Sicht mehr denn je seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine: "Angesichts eines heißen Krieges mit enormer Gewaltanwendung durch Russland, wäre es fahrlässig, nicht von der Fähigkeit und dem Willen seiner Nachrichtendienste zu komplexen Operationen in Europa auszugehen."

Auf der Suche nach pro-russischen Frauen und Männern

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz rechnet damit, dass russische Spionage weiter zunehmen wird. Dafür müsse auch neues Personal rekrutiert werden. Kurz nach Kriegsbeginn hatte Deutschland bereits rund 40 mutmaßliche Agenten ausgewiesen, die an der Russischen Botschaft in Berlin akkreditiert waren. Das sei inzwischen aber kompensiert worden, heißt es.

Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt für seine Ziele auch in Deutschland lebende Menschen mit russischem Migrationshintergrund ins Visier. "Bisher hat sich die Community sehr resilient gezeigt", betont Haldenwang. Man nehme in diesem Kreis aber vereinzelt auch Leute wahr, die hohe Sympathien für Putin und Russland hätten. "Insofern steht hier möglicherweise ein Reservoir von Personen zur Verfügung, die dann auch bereit sind, im Sinne Russlands zu agieren."

Innenministerin Nancy Faeser (r.) und Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang halten jeweils ein Exemplar des Verfassungsschutzberichtes in ihren Händen.
Innenministerin Faeser (r.) und Verfassungsschutz-Chef Haldenwang präsentieren 2023 den Jahresbericht des Inlandsgeheimdienstes null Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser lobt Sicherheitsbehörden

Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser zieht nach der beispiellosen Festnahme von sechs mutmaßlichen Spionen innerhalb von sechs Tagen eine positive Bilanz: "Unsere Sicherheitsbehörden, allen voran das Bundesamt für Verfassungsschutz, haben die Spionageabwehr massiv verstärkt. So schützen wir uns gegen die hybriden Bedrohungen des russischen Regimes, aber auch vor Spionage aus China. Die aktuellen Ermittlungserfolge zeigen das."

Dieser Artikel wurde am 24. April  2024 aktualisiert. 

Russland-Spionage: "Volksrepublik Donezk" eine Terrorvereinigung?

Im Zuge eines Spionagevorfalls , der im Zusammenhang mit Russland steht, hat die Polizei der Stadt Bayreuth in Bayern zwei Männer festgenommen. Dieter S. und sein Helfer Alexander J. stehen im Verdacht, im Auftrag der russischen Geheimdienste Sabotageakte in Deutschland vorbereitet zu haben. Den deutschen Staatsbürgern russischer Herkunft wird auch vorgeworfen, Spionage gegen Militärstützpunkte der USA betrieben und Attacken auf militärisch genutzte Transportwege geplant zu haben.

Dieter S. sei "Mitglied der ausländischen Terrorvereinigung 'Volksrepublik Donezk'" gewesen, meldet die deutsche Generalbundesanwaltschaft. Damit stuft sie die selbsternannte Volksrepublik faktisch als terroristische Organisation ein: Es handele sich um eine "pro-russische Vereinigung, die ab Frühjahr 2014 die Kontrolle über den ukrainischen Verwaltungsbezirk Donezk mit dem Ziel der Loslösung von der Ukraine beanspruchte und sich intensive Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Streitkräften lieferte". Auch habe die Vereinigung immer wieder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.

Das Gebäude der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe mit Fahnen davor
Das Gebäude der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhenull imago images

Nach derzeitigem Ermittlungsstand hatte Dieter S. seit Oktober 2023 Kontakt zu einer Person, die an einen russischen Geheimdienst angebunden ist. Als Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung soll er zudem eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben. Die Generalbundesanwaltschaft fügt hinzu: "Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt besteht der dringende Verdacht, dass Dieter S. zwischen Dezember 2014 und September 2016 in der Ostukraine als Kämpfer einer bewaffneten Einheit der 'Volksrepublik Donezk' tätig war und in diesem Zusammenhang über eine Schusswaffe verfügte."

Im Zuge der prowestlichen oppositionellen Proteste und des Machtwechsels in Kiew im Frühjahr 2014 wurden im Osten der Ukraine die sogenannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" ausgerufen. Im Februar 2022, nur drei Tage vor Russlands großangelegtem Überfall auf die Ukraine, erkannte Staatschef Wladimir Putin die beiden Separatisten-Gebiete schließlich als unabhängig an. Im September desselben Jahres annektierte Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk.

Wie man auf die Liste ausländischer Terrororganisationen kommt

"Wir sind davon überzeugt, dass es ständig russische Spionageaktivitäten gegen deutsche Interessen gibt", sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang im DW-Interview. "Deutschland ist ein wichtiger Player in vielen Politikbereichen, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht." 

Bislang hatten die deutschen Behörden die "Volksrepublik Donezk" nicht als terroristische Vereinigung eingestuft, was also hat sich geändert? In Deutschland gebe es zwei Möglichkeiten, eine bestimmte Struktur auf die Terroristenliste zu setzen: auf behördlichem und auf strafrechtlichem Wege, erläutert der Jurist Dr. Matthias Hartwig von der Heidelberger Universität im Gespräch mit der DW. Er führt das Beispiel der radikal-islamistischen Bewegung Hamas an, die auf der Ebene der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft ist, aber auch durch Gerichtsurteile als solche eingeordnet wird.

Das bedeute noch nicht, so Hartwig, dass die "Volksrepublik Donezk" jetzt auch vom deutschen Staat als terroristisch angesehen werde. Aber aus Sicht der Generalbundesanwaltschaft sei sie es. Es bleibe jedoch unklar, ob damit die gesamte von den separatistischen und russischen Behörden geschaffene quasi-staatliche Struktur gemeint sei - oder nur ihr paramilitärischer Teil. Hartwig vermutet, die Bundesanwaltschaft betrachte alle Strukturen dort als illegal. Und das aus guten Gründen, weil die ukrainische Seite zum Schluss gekommen sei, dass diese Strukturen "Mord und Tod betreiben". Es sei nun Sache der Gerichte zu entscheiden, ob diese Strukturen als terroristisch anzusehen seien, so der Jurist.

Frontlinie in Awdijiwka im November 2019: Ein ukrainischer Soldat sichert die Frontlinie an der zerstörten Kohlenmine Butowka
Schon lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde in der Donezk-Region gekämpft (Archivbild von 2019)null Vitali Komar/AP Photo/picture alliance

Auch die ARD bewertet den Schritt der Generalbundesanwaltschaft als ein "Novum". "Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat eine entsprechende Verfolgungsermächtigung erteilt. Ein Schritt mit hoher Symbolkraft, der diplomatische Folgen haben dürfte", schreiben die ARD-Terrorismusexperten Michael Götschenberg und Holger Schmidt zur Inhaftierung von Dieter S. und Alexander J.

Als einzige diplomatische Folge bislang ist der russische Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt worden. Doch Völkerrechtler Hartwig schließt nicht aus, dass der Spionageskandal die Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfen könnte: "Deutschland ist völkerrechtlich nicht gebunden und ist frei zu sagen: das ist ein annektiertes Gebiet und die Strukturen, die dort Macht ausüben, stufen wir als terroristisch ein. Deutschland verletzt dadurch nicht das internationale Recht."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Deutschland-Türkei: 100 Jahre diplomatische Beziehungen

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist auf Staatsbesuch in der Türkei, dem ersten dort seit Beginn seiner Amtszeit 2017. Der Zeitpunkt des Besuchs ist kein Zufall. Er erinnert auch an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern vor hundert Jahren.

Sowohl die Türkische Republik als auch das Deutsche Reich hatten damals 1924 einen tiefgreifenden Neuanfang hinter sich: Beide Staaten hatten nach dem Ersten Weltkrieg als Verbündete auf der Verliererseite gestanden, mussten infolgedessen Gebiete abtreten – die Türkei verlor sogar ein Großreich - und beide hatten die Monarchie abgeschafft. In Deutschland trat die Weimarer Republik an die Stelle des Kaiserreichs. 

Der innere Wandel in der Türkei war aber noch deutlich größer: Staatsgründer Kemal Atatürk wollte eine säkulare, europäisch orientierte Türkei. Kalifat und Scharia aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurden durch westliche Rechtssysteme ersetzt.

Auch die beiden Vorgängerstaaten, das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich, hatten schon enge diplomatische, militärische und Handelsbeziehungen unterhalten. Jetzt, wenige Monate nach Gründung der Türkischen Republik 1923, knüpfte man diplomatisch dort wieder an und schloss einen Freundschaftsvertrag.

Mustafa Kemal Ataturk Porträt
Staatsgründer Kemal Atatürk wollte eine moderne, säkulare, westlich ausgerichtete Türkeinull Ann Ronan/Picture Library/imago images

Doch besonders ernst nahm Berlin das damals nicht, meint der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz: "Trotz der Wiederaufnahme 1924 maß die krisengeschüttelte Weimarer Republik den diplomatischen Beziehungen zur jungen Republik Türkei bis in die 1930er-Jahre keine hohe politische Bedeutung zu", schreibt er der DW. Aber "das hohe Ansehen Deutschlands in der Türkei blieb davon unberührt".

Türkei: Zufluchtsstätte für Verfolgte des Nazi-Regimes

Ein heute oft vergessenes Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen war das Exil von mehreren hundert verfolgten Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus in der damals außenpolitisch neutralen Türkei.

"Die Türkei unter Atatürk wurde zur Zufluchtsstätte für viele verfolgte Akademiker. Die türkische Republik bedurfte hochqualifizierter Kräfte", so Rasim Marz. Der SPD-Politiker und spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter war darunter, der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Fritz Baade, der Komponist Paul Hindemith und viele andere. Sie "waren am weiteren Ausbau des Staates nach europäischem Vorbild maßgeblich beteiligt".

Türkische Migranten in Deutschland

Wohl keine Entscheidung hat die Beziehungen bis heute so nachhaltig geprägt wie der Abschluss eines Anwerbeabkommens für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland 1961. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes kamen in der Folge etwa 876.000 Menschen aus der Türkei. Sie arbeiteten zum Beispiel im Bergbau, in der Autoindustrie, eröffneten Geschäfte. Viele holten ihre Familien nach und blieben für immer. Heute leben in Deutschland rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. 

Deutschland | Türkische Gastarbeiter auf dem Düsseldorfer Flughafen
Lange wurden sie "Gastarbeiter" genannt, doch die meisten blieben auf Dauer. Heute haben etwa drei Millionen Menschen in Deutschland einen türkischen Migrationshintergrundnull bertram/dpa/picture-alliance

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihre Leistung gleich zu Beginn seines Türkei-Besuchs gewürdigt, und zwar an einem historischen Ort: Am Istanbuler Bahnhof Sirkeci bestiegen viele der angeworbenen Türken die Züge Richtung Deutschland. "Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft", sagte Steinmeier.

Verschlechterung der Beziehungen unter Erdogan

Seitdem Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei ist, haben sich die Beziehungen zunehmend verschlechtert. Vor allem nach einem Putschversuch 2016 ging Erdogan hart gegen politische Gegner vor. Die Bundesregierung hat die Menschenrechtslage in der Türkei wiederholt angeprangert; immer wieder wurde der deutsche Botschafter einbestellt. Es ist ein Zeichen für die Spannungen, dass vor dem jetzigen Besuch zehn Jahre lang kein deutscher Bundespräsident mehr in der Türkei war.

PK Annalena Baerbock Türkei Mevlut Cavusoglu
Dicke Luft: Außenministerin Annalena Baerbock sprach bei einem Treffen mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu im Juli 2022 die Menschenrechtslage in der Türkei offen annull Annette Riedl/dpa/picture alliance

Erdogan verwandelt das Land auch außenpolitisch – und trifft damit nach Meinung von Rasim Marz einen Nerv bei seinen Landsleuten: "Die Türkei unter Präsident Erdogan strebt seit zwei Jahrzehnten danach, das Land unter die führenden Nationen der Welt zu führen. Sowohl in der akademischen wie politischen Elite des Landes, unter Militärs oder Wirtschaftsmagnaten, ob aus dem Regierungslager oder der Opposition - die Vision einer politischen wie militärischen Großmacht Türkei im 21. Jahrhundert hat sich in der Gesellschaft verfestigt."

Für Erdogan ist die Hamas eine Befreiungsorganisation

Besonders brisant für die deutsche Politik ist Erdogans Haltung zur islamistischen Hamas im Gazastreifen. Erdogan hat das Massaker der Hamas vom 7. Oktober an Israelis verteidigt, bezeichnet die Hamas als Befreiungsorganisation. Dagegen ist die Sicherheit Israels – bei aller deutscher Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen – offizielle deutsche "Staatsräson". Wie zur Bekräftigung der Gegensätze traf sich Erdogan kurz vor Steinmeiers Ankunft mit Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.

Türkei Erdogan und Haniyeh in Istanbul
Hamas-Auslandschef Ismail Hanija (l.) geht bei Präsident Recep Tayyip Erdogan ein und aus, in Berlin ist die Hamas eine Terrororganisationnull Murat Cetinmuhurdar/TUR Presidency/Anadolu/picture alliance

Auch während seines Besuchs in Istanbul sah sich der Bundespräsident mit Demonstranten konfrontiert, die gegen die deutsche Israel-Politik protestierten.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind eingefroren

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind längst eingebettet in die Beziehungen der Türkei zu gesamten EU. Zwar ist die Türkei seit 2005 EU-Beitrittskandidat, unterstützt zuvor vom SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Doch faktisch liegen die Beitrittsverhandlungen längst auf Eis, auch das eine Folge von Erdogans hartem innen- und außenpolitischem Kurs.

Bundeskanzlerin Angela Merkel war gegenüber der Türkei relativ vorsichtig aufgetreten, auch weil sie Ankara in der Flüchtlingskrise 2015/16 dringend brauchte. Die Politiker der amtierenden SPD-geführten Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz nennen die Probleme deutlicher beim Namen, nicht zuletzt die grüne Außenministerin Annalena Baerbock.

Türkei 100. Jahrestag Staatsgründung Atatürk Mausoleum
Erdogan (Mitte) bei den Feiern zum 100. Staatsgründungsjahr 2023 vor dem Atatürk-Mausoleum in Ankaranull Adem Altan/AFP

Das komme bei der türkischen Führung nicht gut an, meint Rasim Marz: "Deutschland hat nach der Ära Angela Merkel erheblichen Einfluss in Ankara verloren. Die Dissonanzen zwischen den beiden Ländern, die während des letzten Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock (im Juli 2022) offen zu Tage traten, sind auf unterschiedlichen Themengebieten tiefgehend." Auch eine Neubelebung der EU-Beitrittsverhandlungen "ist aktuell nicht absehbar", glaubt der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz.

Ein neuer Anfang?

Die Hoffnung der Bundesregierung liegt auf der türkischen Zivilgesellschaft und der türkischen Opposition. Bei den Kommunalwahlen vor wenigen Wochen erlitt Erdogans Partei AKP eine Schlappe. Stattdessen triumphierte landesweit die größte Oppositionspartei CHP. Deren großer Hoffnungsträger, auch als möglicher künftiger Staatspräsident, ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu.

Deutschland Bundespräsident Steinmeier in der Türkei
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Oppositionspolitiker und Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglunull Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Der Bundespräsident hat ihn bei seinem Besuch noch vor Erdogan getroffen. Ein Zeichen, dass man in Berlin auf einen politischen Wandel und weiteren Neuanfang in den türkisch-deutschen Beziehungen hofft.

Kulturszene in Deutschland gegen AfD

Die Partei AfD (Alternative für Deutschland) ist nationalistisch gesinnt und in Teilen rechtsextremistisch. In Meinungsumfragen ist sie trotzdem auf dem Vormarsch - für das Kulturkollektiv "Die Vielen" ein Grund gegenzusteuern. Der Zusammenschluss von rund 4.500 Theatern, Galerien und anderen Kultureinrichtungen hatte nach der Corona-Pandemie eine Pause eingelegt. Doch jetzt stehen die Europawahl, einige Kommunal- und Landtagswahlen und 2025 die Bundestagswahl bevor - und die Mitglieder des Vereins "Die Vielen" sehen im Erstarken der AFD eine existenzielle Bedrohung für die pluralistische Demokratie, in der sich Kunst frei entfalten kann.

"Demokratischer Schutzschirm" gegen AfD

Bereits im Vorfeld der Europawahl 2019 hatten "Die Vielen" Proteste gegen die AfD initiiert. Jetzt bringt ihre neue Kampagne "Shield & Shine" basisdemokratische Kunstkollektive und Kuratoren mit hochkarätigen Orchestern, Bühnenarbeitern, Opernhäusern und dem Publikum zusammen. Das Ziel: "Tausende demokratische Schutzschirme über alle Bundesländer zu spannen" und so die "Normalisierung rechtsextremer Politik in demokratischen Parlamenten" zu neutralisieren, wie es zum Auftakt der Kampagne am 10. April hieß. Angesichts des zweiten Platzes der AfD in vielen Umfragen sollen Wechselwähler und junge Menschen, von denen viele zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen, ermutigt werden, sich der Regenschirm-Bewegung anzuschließen - eine Metapher, die auch von Demokratie-Aktivistinnen und -Aktivisten in Hongkong verwendet wird.

Rund 5000 Menschen war es ein Anliegen, die "Erklärung der Vielen" zu unterzeichnen, nachdem bekannt wurde, dass AfD-Mitglieder bei einem geheimen Treffen im November mit Neonazis zusammensaßen. Dort wurde die Abschiebung von Millionen von Migrantinnen und Migranten aus Deutschland gefordert - auch solcher, die längst einen deutschen Pass haben. In ganz Deutschland kam es daraufhin zu Massenprotesten. Dem Aufruf von "Die Vielen", die Ausgrenzungspläne der Rechtsextremen durch integrative und kreative demokratische Plattformen zu bekämpfen, gab das enormen Auftrieb. 

Inzwischen steht Björn Höcke, einer der radikalsten deutschen AfD-Politiker, wegen der Verwendung einer Nazi-Parole vor Gericht.

  

Protestierende Menschen vor dem Berliner Reichstag
Im Februar gab es landesweite Massenproteste gegen die AfD und Rechtsextremismus, auch vor dem Berliner Reichstagnull Ebrahim Noroozi/AP/picture alliance

Angst vor Zensur durch AfD

Es besteht die Befürchtung, dass die AfD - sollte sie nach der Bundestagswahl 2025 zweitstärkste Partei im Land werden - pro-demokratische kulturelle Stimmen aktiv unterdrücken könnte. In Sachsen, wo die AFD seit langem an der Spitze der Wählergunst steht, zensieren sich die Kulturschaffenden in Erwartung eines Wahlsiegs der Partei bei den bevorstehenden Regional- und Landtagswahlen bereits selbst, so Philine Rinnert, Vorstandsmitglied von "Die Vielen" in Berlin. "Einem Theaterfestival in Sachsen droht bereits der Verlust der Finanzierung", erklärte sie. Kuratoren und künstlerische Leiter befürchteten, dass sie ihren Job verlieren könnten, wenn ihre Arbeit nicht mit der monokulturellen und fremdenfeindlichen Agenda der AfD übereinstimme. 

Volker Schlöndorff: "Eines der Programme ist ja: Wir brauchen keine Kultur"

Daniel Brunet ist künstlerischer Leiter des English Theatre Berlin und seit der Gründung von "Die Vielen" im Jahr 2017 Mitglied des Kollektivs. Die AfD-Abgeordneten im Berliner Landesparlament würden Kunstinstitutionen überwachen, indem sie "Einzelaufstellungen der Empfänger von Kulturgeldern" verlangen, sagt er. Er befürchtet eine mögliche Zensur, sollte die AfD bei den nächsten Wahlen weiter zulegen. "Es macht uns nervös, dass sie genau diese Informationen wollen", sagte er der DW und deutete damit einen Rachefeldzug gegen Kulturorganisationen an, die liberale oder progressive Ziele verfolgen.

Europawahlen entscheidend, um Rechtsruck zu stoppen

"Die Vielen" planen vor den Europawahlen im Juni eine Aktionswoche, in der laut Vorstandsmitglied Rinnert "unterschiedlichste Kunstinstitutionen im ganzen Land demokratische Schirme bei Veranstaltungen und Performances aufspannen werden". 

Brunet vom English Theatre Berlin befürchtet, dass rechtsextreme Fraktionen bald das Europaparlament dominieren könnten, darunter neben der AFD auch der französische Rassemblement National von Marine Le Pen und die Fidesz-Partei des rechtspopulistischen ungarischen Präsidenten Victor Orban - der bereits parteiinterne Besetzungen in staatlichen Kultureinrichtungen vorgenommen hat.

Wie extremistisch ist die AfD?

Das English Theatre Berlin will dieser Entwicklung entgegenwirken, indem es für eine höhere Wahlbeteiligung wirbt. Derzeit, so der Intendant, gingen nur rund 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl.

Teile der AFD in Ostdeutschland, darunter in Sachsen und Thüringen, wurden vom Bundesnachrichtendienst als "erwiesenermaßen rechtsextremistisch" eingestuft. Brunet ist besorgt, weil die Partei Wahlwerbung mit weißen Menschen und Slogans wie "Wir machen die Deutschen selbst" verbreitet - eine klare Abgrenzung gegen Migranten.

Die Wahlbeteiligung erhöhen

Bei der Europawahl 2024 dürfen Jugendliche erstmals schon ab 16 Jahren wählen. "Die Vielen" wollen der AfD gezielt Konkurrenz machen, um die nächste Generation unter das demokratische Schutzschild" zu nehmen. "Echte Männer sind rechts", verkündete der Rechtsextremist und Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl, Maximilian Krah, in einer Reihe von Posts auf TikTok. Um die Stimmen der jungen Leute zu gewinnen, inszeniert sich Krah als Dating-Experte, der jungen Männern Liebestipps gibt. "Echte Männer haben Ideale, echte Männer sind Patrioten", sagt er in seinem Clip. "Dann bekommst du auch eine Freundin." Das Video ging viral.

TikTok-Erfolg der AfD bereitet Sorgen

Nach Beschwerden, Krah verbreite auch Verschwörungstheorien und rassistische Ansichten, schränkte TikTok den Zugang im März 2024 ein und blockierte einige Videos. Experten für politische Kommunikation befürchten, dass die TikTok-Strategie die Wahl beeinflussen könnte.

Kulturszene gegen Rassismus

Für Daniel Brunet ist Deutschland "ein Leuchtturm der Hoffnung in der EU", weil es sich in der Nachkriegszeit für Pluralismus und künstlerische Meinungsfreiheit eingesetzt habe und es immer noch Einwanderung gebe. "Nie wieder dürfen Theater, Opern und Orchester, Museen, Literatur- und Kulturhäuser oder Kinos und Medien ihre Arbeit in den Dienst von Antidemokrat*innen und Faschist*innen stellen", heißt es in einer Erklärung der Initiative "Die Vielen" - die damit eindeutig auf die NS-Zeit anspielt. "Jetzt ist es an der Zeit, der Menschenverachtung und der Zerstörung unserer demokratischen Kultur entgegenzutreten."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

Sudan: Geflüchtete in Deutschland beklagen vergessenen Krieg

"Schon bevor dieser Konflikt begann, hatten wir viele Krisen, aber ich dachte nicht, dass ich jemals mein Land verlassen würde. Ich weiß nicht warum, ich liebe es dort einfach", sagt Aya El Sammani. Die Sudanesin, geboren in der Hauptstadt Khartum, lebt jetzt in Deutschlands Hauptstadt Berlin.

Vor ihrer Flucht studierte sie Englische Literatur und Kunst. Doch dann brachen Mitte April 2023 Kämpfe aus in Khartum zwischen zwei rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Innerhalb weniger Wochen mussten die Menschen feststellen, dass sie die Stadt, in der der Weiße und Blaue Nil zusammenfließen, verlassen müssen.

"Wenn ich mein Haus verließ, um einkaufen zu gehen zum Beispiel, war es nicht friedlich. Ich riskierte, getötet zu werden oder vergewaltigt. Khartum ist jetzt ihre Stadt, nicht mehr unsere", erklärt El Sammani.

Es ist vorrangig ein Konflikt zwischen dem sudanesischen Militär um General Abdel Fattah al-Burhan und auf der anderen Seite den Rapid Support Forces (RSF), angeführt von Burhans ehemaligen Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo, genannt "Hemeti".

Nach dem Sturz der vom Westen unterstützen Regierung hatten die zwei Generäle ursprünglich 2021 nach einem Militärputsch gemeinsam die Macht übernommen.

Sudan sollte dann der Übergang zu einer zivilen Regierung gelingen und die RSF-Truppen ins Militär integriert werden. Darüber gerieten die Generäle in Streit und kämpfen nun um die Kontrolle über das riesige, rohstoffreiche Land an der Schnittstelle zwischen Subsahara-Afrika und dem Nahen Osten.

Das alles geht zu Lasten der sudanesischen Zivilbevölkerung, die mit einer verheerenden humanitären Katastrophe konfrontiert sind. Mehr als 6,6 Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, weitere zwei Millionen sind in Nachbarländer wie Tschad, Südsudan und Ägypten geflohen.

Überleben im Sudan

Jeden Tag müssen laut Internationaler Organisation für Migration 20.000 Menschen ihr Zuhause im Sudan verlassen, und mehr als die Hälfte dieser Vertriebenen sind unter 18 Jahre alt.

Im Dezember 2023 waren laut der Weltgesundheitsorganisation mehr als 70 Prozent der Gesundheitseinrichtungen des Landes nicht mehr funktionsfähig. Der Mangel an medizinischem Material, die Abwanderung von medizinischem Personal und der Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Cholera und Masern verschlimmern die ohnehin schon katastrophale Lage.

'Alles wurde gestohlen im Sudan'

El Sammani sieht sich als eine der wenigen, die Glück hatten. Als der Krieg ausbrauch, hatte sie einen gültigen Pass und ein Einreisevisum für Saudi-Arabien, wo ihr Vater arbeitet. In Saudi-Arabien blieb sie zehn Monate lang, bevor sie im März im Rahmen eines Residenzprogramms der deutschen gemeinnützigen Organisation Media in Cooperation and Transition nach Berlin zog.

"Während ich hier erzähle", sagt sie im Gespräch mit der DW, "leben im Sudan ganze Armeen an Soldaten in meinem Zuhause, in meinem Zimmer und ich kann nicht zurück. Ich kann nicht einmal meine Straße betreten. Alles im Sudan wurde gestohlen. Jedes persönliche Hab und Gut. Es kann sein, dass du dein Haus betrittst und keine Möbel mehr hast."

Sudan I Bewohner der Gorom Fluechtlingssiedlung, Frauen stehen eng beinander hinter einem Zaum
Millionen Menschen mussten im Sudan ihre Heimat verlassen und ihr Hab und Gut zurücklassennull Gregg Brekke/ZUMA/IMAGO

Sie sorge sich um ihre Schwestern, die in die 800 Kilometer entfernte Küstenstadt Bur Sudan geflohen seien. Für die Ausreise nach Saudi-Arabien fehle ihnen die nötigen Papiere und eine ihre Schwestern habe zusätzlich ein kleines Kind ohne einen gültigen Pass. El Sammani berichtet auch von einem Freund, der nach Ägypten geflohen sei, aber dann zurückkehrte, um sich um den alten Vater zu kümmern, der nicht fliehen wollte. Sie habe ihn eine Woche nach der Rückkehr nach Khartum noch telefonisch erreicht. Seither nicht mehr und sie wisse nicht, ob er noch lebt.

Es sei "nicht leicht zu akzeptieren", dass der Konflikt nicht so bald enden werde, sagt sie. Sie befürchtet, dass die Welt den Sudan vergessen hat, und beklagt den Mangel an internationaler Medienberichterstattung, insbesondere in den letzten sechs Monaten. Die restliche Welt interessiere sich nicht für die Sudan-Krise, sagt sie.

Mit Stand April 2024 wurden nach Angaben des Armed Conflict Location & Event Data Project 16.000 Menschen in dem Konflikt getötet.

"Ich meine, geht es nicht um Krisen, geht es nicht um Menschen, die getötet werden?" fragt El Sammani.

"Dieser Krieg ist nicht unser Krieg"

"Wir versuchen, auch ihnen klar zu machen, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist", erklärt die sudanesische Aktivistin Mai Shatta von der Bana Group for Peace and Development, einem internationalen feministischen Netzwerk.

Mai Shatta | Sudanesische Aktivistin in Berlin, Frau mit Brille und gelber Bluse schaut ernst in die Kamera
Die politische Aktivistin Mai Shatta hat vor allem das Leid der Bevölkerung im Blicknull Privat

Die in Khartum geborene Tochter einer Familie aus Darfur, einer Region im Westsudan, die besonders stark von der Gewalt betroffen ist, lebt seit 2012 in Deutschland, nachdem sie wegen ihres politischen Engagements ins Exil gezwungen wurde.

Viele Menschen gingen davon aus, dass es sich um einen Krieg zwischen zwei Generälen handele, sagt sie. Dabei sei es kein reiner internen Konflikt, äußere Einflüsse spielten stattdessen eine Rolle, die den Konflikt anheizten.

"[Der Sudan] wird in diesen Kampf hineingezogen, und wir sind die Zivilisten, die jetzt den Preis dafür zahlen, und wir zahlen ihn bis heute."

In vielen Analysen der Sudan-Krise wird das komplexe Geflecht regionaler und internationaler Einflüsse hervorgehoben, die zum Machtkampf um die Kontrolle des Sudan, seiner natürlichen Ressourcen und Finanzströme beitragen.

'Wir wissen nicht, wo das enden wird'

Die südsudanesische Autorin Stella Gaitano lebt seit 2022 in der deutschen Kleinstadt Kamen. Sie hat ein PEN-Stipendium für Schriftsteller im Exil.

Ihre beiden Kinder im Alter von 13 und 15 Jahren sind 2023 zu ihr gekommen. Sie haben vor zu bleiben, denn, so sagt sie, "wir wissen wirklich nicht, wo und wie das alles enden wird".

Stella Gaitano, eine Frau mit buntem Tuch schaut in die Kamera und lächelt leicht
Die südsudanesische Autorin Stella Gaitano blickt mit Sorge auf einen womöglich nie endenden Konfliktnull Duha Mohammed

Als die Gewalt im April letzten Jahres erstmals ausbrach, lebte Gaitano in Khartum. Sie war aus dem Südsudan in die sudanesische Hauptstadt geflohen, nachdem ihre offene Kritik an der südsudanesischen Regierung zu Schikanen geführt hatte. Doch der Konflikt zwang sie, erneut zu fliehen.

Gaitano hat noch zwei Schwestern im Sudan. Sie wurden bereits zweimal vertrieben und leben jetzt im Osten des Landes.

"Sie können nicht arbeiten, ihre Ehemänner haben ihre Arbeit aufgegeben. Die Kinder sind seit fast einem Jahr nicht mehr in der Schule. Es gibt Millionen von Kindern, die keine Schule besuchen", sagt sie der DW.

In Deutschland hat Gaitano die Arbeit an ihrem zweiten Roman abgeschlossen. Sie hat das Gefühl, dass den Sudanesen eine Stimme fehlt, um die Welt ihre Probleme zu erzählen, sagt sie.

"Es gibt ein großes Problem mit dem Storytelling"

Hager Ali, Politikwissenschaftlerin am German Institute for Global and Area Studies, stimmt dem zu. Obwohl sich der Krieg zuletzt zum ersten Mal jährte, sei er von den Medien übersehen worden, sagt sie.

"Der Krieg im Sudan offenbare ein großes Problem des 'Storytelling'. Er lässt sich nicht so einfach als Krieg zwischen Gut und Böse oder Demokratie und Autokratie zusammenfassen. Das schränkt die internationale Berichterstattung ein", so Hager im Gespräch mit der DW.

"Es gibt auch die falsche Vorstellung, dass der Krieg außerhalb des Sudans keine politischen Auswirkungen hat und dass er, was die Weltwirtschaft angeht, auch nicht besonders problematisch ist."

Sie sagt, dass sich die Menschen im Sudan angesichts anderer Konflikte in der Welt unsichtbar fühlten.

"Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihr Zuhause und Ihre Familie zurücklassen, nur um dann zu erleben, dass Ihr Leid nicht einmal priorisiert wird oder man sich an Sie erinnert. Bei allem anderen, was im Nahen Osten passiert, wird der Krieg im Sudan einfach vergessen."

 

Wohin mit den ganzen E-Autos?

Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.

Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.

Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."

Das Problem liegt beim Landtransport

Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."

Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."

Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.

Neuwagen stehen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group vor der Verladung
Neuwagen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group - hier wird so viel importiert wie exportiertnull Ingo Wagner/dpa/picture alliance

Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?

Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.

Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.

Ein Autotransporter mit Neuwagen von Volkswagen fährt über die Bundesstraße B3
Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe führt zu Unregelmäßigkeiten im Autotransport auf der Straßenull Raphael Knipping/dpa/picture alliance

Veränderte Gewohnheiten

Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."

Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."

Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde  merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".

Fahrzeuge im Hafen von Emden vor der Verladung auf ein Autotransportschiff
Noch wird im Emder Hafen "per Hand" verladen - das soll sich in ein paar Jahren ändernnull Jörg Sarbach/picture alliance/dpa

Neue Wege in Emden

Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.

Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.                                                                     

Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.

Immanuel Kant: Warum seine Philosophie noch so aktuell ist

Wer die Welt verstehen will, muss sie nicht unbedingt bereisen. Es war Immanuel Kant (1724-1804), der das bewies. Am 22. April begeht die Welt seinen 300. Geburtstag. Der deutsche Philosoph hat seine ostpreußische Heimat Königsberg - heute Kaliningrad - nicht verlassen, doch seinem Weltverständnis tat das keinen Abbruch: Mit seinen Ideen revolutionierte er die Philosophie und wurde zum Vordenker der Aufklärung. Sein berühmtestes Werk, "Kritik der reinen Vernunft" gilt als Wendepunkt in der Geistesgeschichte. Heute zählt Kant zu den bedeutendsten Denkern der Geschichte.

Ein undatiertes, historisches Schwarzweiß-Foto des Wohnhauses von Immanuel Kant in Königsberg
Kants Wohnhaus in Königsbergnull akg-images/picture-alliance

Viele seiner Erkenntnisse gelten auch noch angesichts von Klimawandel, Kriegen und andere Krisen unserer Zeit. Was könnte zum Beispiel zu einem dauerhaften Frieden zwischen den Staaten führen? Kant empfahl 1795 in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" einen "Völkerbund" als föderale Gemeinschaft republikanischer Staaten. Politisches Handeln, so Kant, müsse sich grundsätzlich nach dem Gesetz der Sittlichkeit richten. Sein Werk wurde zur Blaupause für die Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), dem Vorläufer der Vereinten Nationen, in deren Charta es seine Spuren hinterlassen hat.

Revolutionärer Denker: Immanuel Kant

Neben dem Völkerrecht entwickelt Kant auch ein Weltbürgerrecht. Damit erteilt er Kolonialismus und Imperialismus eine Absage und formuliert Ideen für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen: Jeder Mensch habe in jedem Land ein Besuchsrecht, so der Philosoph, aber nicht unbedingt ein Gastrecht.

Für Vernunft und Argumente

Kant begründet Menschenwürde und Menschenrechte nicht religiös mit Gott, sondern philosophisch mit der Vernunft. Kant traute den Menschen viel zu. Er hielt sie für fähig, Verantwortung zu übernehmen - für sich selbst und für die Welt. Mit Vernunft und Argumenten lässt sich das Leben meistern, glaubte Kant und formulierte dafür eine Grundregel: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Er nannte das den "kategorischen Imperativ". Heute würde man es so formulieren: Du sollst nur das tun, was zum Besten aller wäre.

1781 veröffentlicht Kant sein wohl bedeutendstes Werk. In der "Kritik der reinen Vernunft" stellt er die vier Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Seine Suche nach Antworten auf diese Fragen nennt man Erkenntnistheorie. Im Gegensatz zu vielen Philosophen vor ihm legt er in seiner Abhandlung dar, dass der menschliche Verstand Fragen wie die nach der Existenz Gottes, der Seele oder dem Anfang der Welt nicht beantworten kann. 

"Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein strahlendes Sonnensystem auf einmal." Was für ein Kompliment, das der Schriftsteller Jean Paul (1763-1825) seinem Zeitgenossen machte. Doch andere Geistesgrößen fanden Kants Schriften schwer verdaulich. Es koste "Nervensaft", sie zu lesen, klagte der Philosoph Moses Mendelssohn. Er selbst vermochte es nicht. 

Pionier der Aufklärung

Die Lehre und Schriften von Immanuel Kant legten den Grundstein zu einer neuen Denkweise. Kants Satz "Sapere aude" (deutsch: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen") wurde berühmt, er outete Kant als Vordenker der Aufklärung. Diese geistige Bewegung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand, erklärte die Vernunft (Rationalität) des Menschen und ihren richtigen Gebrauch zum Maßstab allen Handelns. In seinen Schriften rief Kant dazu auf, sich von jeglichen Anleitungen (wie etwa Gottes Gebote) zu lösen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dazu stammt auch dieses berühmte Zitat von ihm: "Was du nicht willst, dass man dir tut - das füg auch keinem andren zu."

Immanuel Kant auf einem historischen Gemälde
Immanuel Kant auf einem historischen Gemäldenull Döbler

Über Kant kursieren bis heute zahlreiche Urteile und Vorurteile. Der deutsche Philosoph und Kant-Forscher Otfried Höffe hat in seinem neuen Buch "Der Weltbürger aus Königsberg" einige davon auf den Prüfstand gestellt, darunter die Frage, ob Kant ein "eurozentrischer Rassist" gewesen sei oder ob Kant Frauen diskriminiert habe. In beiden Fällen lautet seine Antwort: "Ja, aber ..."

Kein Stubenhocker

Ein Rassist im heutigen Sinne sei Kant nicht, im Gegenteil: Kolonialismus und Sklaverei habe er verurteilt. Zwar sei Kant nie über Königsberg hinausgekommen, doch sei die Hauptstadt von Ostpreußen seinerzeit eine pulsierende Handelsstadt gewesen, ein "Venedig des Nordens". Außerdem habe Kant Reiseberichte aus anderen Ländern geradezu verschlungen.

Und schließlich: War Kant ein verschrobener Stubengelehrter und Misanthrop? Auch mit diesem Vorurteil räumt die Wissenschaft heute auf: Kant hatte zwar einen streng geregelten Tagesablauf, genoss aber ausgedehnte Mittagessen mit Freunden und Bekannten, liebte Billard und Kartenspiele, ging ins Theater und galt in den Salons der Stadt als charmanter Unterhalter. 

Kant-Feiern überall

An Kant und sein Vermächtnis erinnern 2024 viele Veranstaltungen, auch in Deutschland: Die Bundeskunsthalle in Bonn etwa zeigte eine große Kant-Ausstellung. Im Juni folgt in Berlin eine große wissenschaftliche Tagung, im Herbst in Bonn ein Internationaler Kant-Kongress, der eigentlich in Kaliningrad geplant war, dort aber wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht stattfinden kann.

Kants Grab ziert die Rückwand des Königsberger Doms - bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Als eines der wenigen historischen Bauwerke überstand das gotische Gotteshaus die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Abrisswelle im Sowjetstaat. So populär Kant heute ist, so sehr werden seine Schriften von vielen politischen Strömungen vereinnahmt. Wer bezeichnet sich selbst als seinen Lieblingsdenker? Richtig - Immanuel Kant!

sd/suc/so (KNA/epd/dpa)

Warum Bundespräsident Steinmeier ein Buch schreibt

Dass ein amtierender Bundespräsident ein Buch schreibt, ist eher ungewöhnlich. Frank-Walter Steinmeier, seit etwas über sieben Jahren deutsches Staatsoberhaupt, hat es getan. Er nennt zwei Daten, die ihn dazu veranlasst haben: Am 23. Mai dieses Jahres jährt sich die Verkündung des Grundgesetzes, der bundesdeutschen Verfassung, zum 75. Mal. Und am 9. November werden 35 Jahre vergangen sein, seit in Berlin die Mauer friedlich überwunden wurde. 

Steinmeier in großer Sorge um das Land

Aber tatsächlich treibt den Bundespräsidenten ein Unwohlsein über den Zustand des Landes, um es vorsichtig auszudrücken. Man könnte auch sagen, er ist alarmiert. Über den grassierenden Rechtspopulismus, über die Verzagtheit vieler Menschen, über die Zweifel an der Demokratie. Über ungelöste Fragen bei der Migration, beim Kampf gegen den Klimawandel, beim Sozialstaat.

Das Buch mit dem Titel "Wir" beschreibt ein Land im Umbruch, das von großer Unsicherheit und dem Wegfall vieler Gewissheiten geplagt wird. Steinmeier führt aus: "Wer niemals ruhen, ankommen, sich verankert wissen kann, sondern jederzeit mit dem Unerwarteten rechnen muss - wie dem Auftauchen eines Virus, das das öffentliche Leben lahmlegt, oder einem Krieg, der einem im Winter das Gas zum Heizen zu rauben droht -, der verliert sein Vertrauen in das Selbstverständlichste."

Ist ein Präsident nicht eher ein Brückenbauer?

Der Bundespräsident reist schon lange unermüdlich durch das Land, in kleine Orte und Gemeinden, und versucht, mit den Menschen zu sprechen. Die immer seltener einer Meinung sind. Deshalb der Versuch, nach dem zu suchen, was noch verbindet, nach dem "Wir" also.

Bundespräsident Steinmeier sitzt in seinem Amtssitz Schloss Bellevue in Berlin am am Telefon
Dass Bundespräsidenten in ihrer Amtszeit Bücher schreiben, ist eher selten null Guido Bergmann/Bundesregierung/dpa/picture alliance

Aber zwei Fragen werden jetzt an Steinmeier gestellt: Ist es Aufgabe des Staatsoberhaupts, so explizit Stellung zu nehmen zu gesellschaftlichen Verwerfungen und aktuellen politischen Kontroversen, wie er das in seinem Buch tut? Oder müsste er auch hier versuchen, Brücken zu bauen, jenseits der Tages-Aktualität, zwischen allen gesellschaftlichen Schichten?

Steinmeier war lange selbst Vertreter des "alten" Deutschland  

Und zweitens fragen Kritiker: Wenn er von Irrtümern und falschen Weichenstellungen in der Vergangenheit spricht, vom angenehmen, machtlosen Wohlgefühl in der Abhängigkeit von amerikanischer Sicherheit und billigem russischen Gas, kann dann ausgerechnet er der Aufrüttler sein?

Wo er doch, als langjähriger Außenminister, kräftig mitgewirkt hat daran, dass sich das Land lange in falscher Sicherheit wähnte? Von 2005 bis 2009 und dann noch einmal von 2013 bis 2017 war der damalige SPD-Politiker oberster deutscher Diplomat. Also auch zu dem Zeitpunkt, als Russland die Krim besetzte. Völkerrechtswidrig.

Heftige Kritik an Moskau

Dem letzten Vorwurf dürfte Steinmeier entgegenhalten, dass ein Großteil der deutschen Politik bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine festgehalten hat am Dialog mit Moskau, nicht nur er selbst.

Aber jetzt schreibt er: "Der Krieg radikalisiert das Moskauer Unrechtsregime. Dieses verstrickt eine zum Teil fanatisierte, zum Teil paralysierte russische Gesellschaft in eine Schuld von historischen Ausmaßen." Waren Anzeichen dafür nicht schon sehr früh erkennbar? Gerade für ihn, den Außenminister? 

Für eine multiethnische und plurale Gesellschaft

In vielen Aussagen seines Buches wird eine Mehrheit der Menschen in Deutschland dem Bundespräsidenten sicher zustimmen. Etwa wenn er schreibt, homogen sei die Gesellschaft nie gewesen, ständig seien Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen dazugestoßen. Zu Deutschland gehörten heute "solche, die in unsere politische Ordnung hineingeboren wurden, ganz genauso wie diejenigen, die in sie eingewandert sind, die in ihr heimisch sind, die durch die Wahl einer neuen Staatsangehörigkeit Deutsche geworden sind."

In der Stadt Korjukiwka in der Ukraine spricht Bundespräsident Steinmeier im Luftschutzbunker mit Bürgern während eines Luftalarms
Vom Krieg eingeholt: Steinmeier im Luftschutzbunker während eines Besuchs in der ukrainischen Stadt Korjukiwka, 150 Kilometer nordöstlich von Kiewnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Am rechten Rand werden genau diese Aussagen aber kategorisch abgelehnt. An die Adresse der Rechtspopulisten schreibt er: "Einige unter ihnen wollen eine solche Homogenität sogar gewaltsam herstellen und Deutsche ausbürgern, die für sie nicht ins Bild passen. Gegen solche verfassungsfeindlichen Phantasmen stellt sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger."

Kritik an der Kultur in manchen sozialen Medien

Aber Tatsache ist eben auch, dass es nicht nur ein paar Verirrte sind, die nicht mehr zum "Wir" des Bundespräsidenten gehören. Die die Demokratie ablehnen, rechtsextrem denken. Und die ganz eigene Dialoge führen, auf eigenen digitalen Plattformen.

Frank-Walter Steinmeier auf Wanderung durch das Dorf Völkershausen
Immer in Kontakt bleiben: Im Dorf Völkershausen im Bundesland Hessen spricht Steinmeier mit Bürgern und unternimmt eine Wanderungnull Martin Schutt/dpa/picture alliance

Steinmeier erkennt hier eines der zentralen Probleme, er schreibt: "Zu sehr sind die Grenzen des Sagbaren zum Unsäglichen hin verschoben worden. In der politischen Sprache hat sich eine Verrohung festgesetzt, die sich triumphal als Unerschrockenheit gebärdet. Paradoxerweise fühlen sich zur gleichen Zeit viele in der Vorstellung bestätigt, dass man nicht mehr seine Meinung sagen könne und für jedes offene Wort verdächtigt werde."

Verständnis für bedrängte Politiker

Gegen diese Gruppe will der Bundespräsident die große, schweigende Mehrheit der Gesellschaft mobilisieren, das ist sein Ziel. Diese Mehrheit soll etwa ihr Vertrauen behalten in die herrschende Politik, Steinmeier beschwört sie geradezu: "Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass nicht allein begriffsstutzige oder böswillige Politiker schuld daran sind, dass Deutschland in einer veränderten Lage ist. Kein deutscher Politiker kann der Welt befehlen, sich gefälligst wieder zu unseren Gunsten zu drehen."

Die Rolle des Bundespräsidenten

Die Macht eines Bundespräsidenten ist begrenzt, er wirkt durch das Wort, durch die Zusammenführung über alle Grenzen hinweg. Diese Funktion seines Amtes hat Steinmeier mit seinem Buch bis auf Äußerste ausgereizt. Die Sorge des Bundespräsidenten um die Zukunft des Landes ist das eine. Was fehlt, ist eine ehrliche Einordnung Deutschlands, das immer noch eines der reichsten Länder der Welt ist, mit einem funktionierendem Sozial- und Rechtsstaat. Und dass es Verwerfungen wie die geschilderten nicht nur hier gibt.

Ab und an drängt sich der Eindruck auf, dass es der frühere Machtpolitiker kaum ertragen kann, in diesen aufwühlenden Zeiten nicht wirklich mitgestalten zu können. Aber diese zurückhaltende Rolle des rein repräsentativen Staatsoberhaupts ist seine Aufgabe, auch wenn um ihn herum die Welt verrückt spielt.

Was bringt ein Autobahn-Tempolimit in Deutschland?

"Freie Bürger fordern freie Fahrt" - mit diesem Motto protestierte 1973/1974 der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) gegen das Tempolimit von 100 Stundenkilometern (km/h) auf deutschen Autobahnen. Das hatte die damalige Bundesregierung wegen der Öl-Krise angeordnet, um Benzin zu sparen. Obwohl es nur ein paar Monate lang galt, war die Empörung im Land groß. 

Seitdem sind in den letzten 50 Jahren diverse Versuch gescheitert, ein generelles Tempolimit einzuführen.

Dabei ist inzwischen mehr als die Hälfte der Deutschen - und auch der ADAC-Mitglieder - für ein Tempolimit. Doch viele Gegner lehnen es weiter strikt ab. Die bayrische Partei CSU startete sogar eine Unterschriftenaktion dagegen. 

Tempolimits auf Autobahnen: (fast) überall - außer in Deutschland

Anders als fast überall sonst auf der Welt gibt es in Deutschland kein Tempolimit auf Autobahnen. Zwar ist die Geschwindigkeit auf einigen Strecken begrenzt. Doch auf 70 Prozent aller Autobahnkilometer gilt nur eine freiwillige "Richtgeschwindigkeit" von 130 km/h. Schneller fahren ist also erlaubt. Und so wird das Rasen auf deutschen Autobahnen sogar von Sportwagen-Verleihern im Ausland als Touristenattraktion beworben.

Was bringt ein Tempolimit?

Je langsamer ein Auto fährt, desto weniger Kraftstoff verbraucht es - und desto weniger Schadstoffe stößt es aus, etwa klimaschädliches Kohlendioxid (CO2), Stickoxide oder Feinstaub. 

Ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen würde 4,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent einsparen, so jüngste Berechnungen des Umweltbundesamts (UBA). Verglichen mit den Emissionen von 2018 wären das 2,9 Prozent weniger.

Geht man davon aus, dass Menschen wegen des Tempolimits auf die Bahn umsteigen, kürzere Routen über Land wählen oder auf Fahrten verzichten, dann könnten laut UBA sogar 6,7 Millionen Tonnen oder 4,2 Prozent eingespart werden.

Und wenn zusätzlich auf Landstraßen Tempo 80 eingeführt, wären es sogar acht Millionen Tonnen CO2-Äquivalente weniger.

Ein weiterer Vorteil: Es könnte weniger Unfälle geben. Denn langsamer fahrende Autos bremsen schneller. Allerdings würde es erst bei einem Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen rund 70 Prozent weniger Unfälle geben. 

Wer langsamer fährt, macht auch weniger Lärm: So ist das Fahren bei 100 km/h etwa um die Hälfte leiser als bei 130 km/h. Außerdem gäbe es weniger Staus, weil mehr Autos gleichzeitig auf der Straße fahren könnten. Der Effekt wäre noch ausgeprägter, wenn alle nur Tempo 100 oder noch etwas langsamer fahren, sagen Verkehrsexperten. 

Was sind die Argumente gegen ein Tempolimit?

Laut einer Umfrage der Allianz-Versicherung waren besonders Männer, sowie Menschen, die sehr viel Auto fahren (mehr als 50.000 km pro Jahr) und auch jüngere Fahrer unter 24 gegen Tempolimits. Sie fürchten mehr Staus und längere Fahrzeiten. 

Tatsächlich fahren die meisten Menschen (77 Prozent) schon jetzt freiwillig langsamer als 130 auf der Autobahn. 

Es ist unklar, wie viele Unfälle durch das Tempolimit auf deutschen Autobahnen tatsächlich vermieden werden könnten. 

Laut ADAC gibt es Deutschland derzeit nicht mehr schwere Unfälle auf Autobahnen als in Ländern mit einem Tempolimit. Vergleicht man die Zahl der Getöteten pro gefahrenen Autobahnkilometern gab es 2020 in Frankreich, Italien, Litauen, Tschechien, Ungarn und den USA mehr Tote. In absoluten Zahlen lag Deutschland mit 317 Toten an der Spitze. 

Wer ist für ein Tempolimit in Deutschland?

Ein Tempolimit fordern Umweltverbände, ebenso wie die Gewerkschaft der Polizei im Bundesland Nordrhein-Westfalen oder der Verein Verkehrsunfall-Opferhilfe. Sie wollen auch, dass auf deutschen Landstraßen statt 100 nur noch 80 km/h erlaubt ist. Das würde die Sicherheit dort tatsächlich stark verbessern, hat die Versicherungswirtschaft errechnet.

Unter den politischen Parteien sind die Grünen und die SPD für ein Tempolimit auf Autobahnen. Auch die Linkspartei hatte dies gefordert. Und, wie gesagt, mehr als die Hälfte der Deutschen ist inzwischen dafür, weniger schnell zu fahren.

Wer ist gegen ein Tempolimit?

Die konservative Union aus CDU und CSU, die in Teilen rechtsextreme AfD und die liberale FDP wollen kein Tempolimit. Die Gegner des Tempolimits meinen, dass es kaum Auswirkungen auf die Umwelt hätte und die Menschen zu stark einschränken würde. Die FDP, die gemeinsam mit den Grünen und der SPD die Bundesregierung bildet, verhinderte das Tempolimit schon im Koalitionsvertrag.

Gas geben ohne Limit

Sie gab auch eine Gegenstudie zu der des UBA in Auftrag, die auf deutlich weniger CO2-Einsparungen kommt. Allerdings wurde die Gegenstudie von Wirtschaftsprofessoren verfasst, die den menschengemachten Klimawandel in Zweifel ziehen. Sie wird vom UBA, von Umweltverbänden und auch von anderen politischen Parteien kritisiert.

Tempolimit im deutschen Klimaschutzgesetz: Fehlanzeige 

Weil der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor auch 2023 zu hoch war, hätte Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP eigentlich ein Sofortprogramm starten müssen, um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen. So sah es das Klimagesetz der Großen Koalition aus SPD und CDU von 2021 vor. 

Die regierende Ampelkoalition hat nun aber eine Reform des Gesetzes beschlossen. Jetzt können zu hohe Emissionen, wie beim Verkehr, an anderer Stelle ausgeglichen werden - etwa durch mehr erneuerbare Energie.

Laut Klimagesetz muss Deutschland seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 65 Prozent und bis 2040 um 88 Prozent verringern (im Vergleich zu 1990).

Über ein Tempolimit steht weiterhin nichts im Klimagesetz.

Redaktion: Anke Rasper

Quellen u.a.: 

Gutachten Tempolimit Universität Stuttgart (2023): https://www.isv.uni-stuttgart.de/vuv/publikationen/downloads/ISV_2023_UBA-FV_Gutachten_FDP_Tempolimit_20230303.pdf 

Unfallursache Geschwindigkeit:  https://www.udv.de/resource/blob/112634/81f8e441aadad1d01047e5510233f5b1/neuer-inhalt-2--data.pdf

FDP gegen Tempolimit: https://www.fdpbt.de/kurzstudie-tempolimit-autobahnen